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Peter Weiss‘ „Ästhetik des Widerstands“ und die Perspektiven der europäischen Linken

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The Master of Meaning

Mit „Kultureller Hegemonie“ gegen Rechtspopulismus und Neoliberalismus? Peter Weiss‘ „Ästhetik des Widerstands“ und die Perspektiven der europäischen Linken.

Ein ausgestreckter Mittelfinger, nur verwackelt zu erkennen, in einem sekundenlangen Video. Der Frage: Gibt es eine Ästhetik des Widerstands, und wenn ja welche? könnte das ikonische Bild als Antwort dienen. Je mehr sich der politische Mainstream von dem knöchernen Stützelement des griechischen Finanzministers bannen ließ, umso stärker sah man in dieser Obsession auch ein Stück Furcht vor dem kommenden Aufstand glimmen. Der politprofessorale Finger als Zeichen an der Wand. Frei nach Bill Clinton ließe sich angesichts dieses denkwürdigen Vorgangs die gute alte Peter-Weiss-Frage mit dem Satz erledigen: It’s the semiotics, stupid!

Ganz so einfach ist es natürlich nicht. Politische Macht, gar die berüchtigten „Produktionsverhältnisse“, sind immer auch hard- und nicht nur fiktionale software, die sich einfach umcodieren ließe. Trotzdem hat Srećko Horvat nicht ganz Unrecht, wenn er zurück zu Antonio Gramsci will. Bei einer Diskussion zur Aktualität von Weiss‘ 1975 erstmals publiziertem, berühmten Romanepos „Ästhetik des Widerstands“ vergangenen Samstag im Berliner Hebbel am Ufer (HAU) plädierte der kroatische Philosoph dafür, das Konzept der „Kulturellen Hegemonie“ des legendären italienischen Kommunisten wieder zu beleben, der 1937 in Rom starb.

Wer den aggressiven Rechtspopulismus sieht, der sich derzeit in Europa derzeit ausbreitet, wird solche Überlegungen als intellektuelle Spielerei und vergebene Liebesmüh abtun. Aber der rituelle Antifaschismus, den die Belgrader Theaterlegende Borka Pavićević der europäischen Linken empfahl, dürfte gegen diese reale Gefahr genauso ins Leere laufen wie das Plädoyer des kroatischen Philosophen und Regisseurs Oliver Frljić für einen radikalen Bruch mit dem System. Man dürfe sich nicht länger mit der Normalität des Abnormen in Gestalt der europäischen Postdemokratie abfinden, fand der derzeitige Intendant des kroatischen Nationaltheaters in Rijeka.

Pavićević ging ein wenig freigiebig mit dem Wort „Faschismus“ um. Von Viktor Orbans „illiberalem“ Ungarn über Recep Tayyip Erdoğans autoritärer Türkei bis Marine Le Pens xenophobem Front National subsumierte sie so ziemlich alles darunter. Ihrem resignierten Weckruf zur antifaschistischen Front dürften freilich kaum die (proletarischen) Massen folgen, die sie mit dem Wort „Aufruhr ist besser als Widerstand“ beschwor.

Der Rat Frljićs dagegen, erst die alte Gesellschaft zu zerstören, bevor man eine neue aufbaut, wirkte seltsam unbeleckt von historischen Erfahrungen. Bekanntlich schlug der anfangs linke „Veränderungswille“ von Gruppen wie der Rote-Armee-Fraktion (RAF) in Deutschland am Ende in offenen Terror um. Mit dem Rückgriff auf diese Konzepte kämen die neuen linken Bewegungen, die sich derzeit in Europa Gehör verschaffen, in ein überwunden geglaubtes Dilemma.

Der Kapitalismus heute ist längst nicht mehr der Kapitalismus, wie ihn Gerhart Hauptmann in seinem Drama „Die Weber“ zeichnete. So wie in dieser hochtechnisierten Gesellschaftsformation der Gegenwart die Wissenschaft zu dem aufgerückt ist, was man einst „unmittelbare Produktivkraft“ nannte. Da nützt es wenig, den nostalgischen Fetisch der „werktätigen Massen“ samt Barrikaden und Streikposten zu beschwören. Vielleicht helfen dagegen eher intelligente, sprich: kulturelle Strategien.

So oft, wie die vielen Versuche des 20. Jahrhunderts, so etwas wie „kulturelle Hegemonie“ zu etablieren, blutig endeten, lässt sich natürlich fragen, ob das von Horvat wieder hervorgekramte Institut überhaupt noch ein praktikabler Begriff ist. Und die Versuche der europäischen Sozialdemokratie, allen voran der einstige SPD-Bundesgeschäftsführer Peter Glotz, die konservative Welle der 80er Jahre mit einer Art „Gramsci light“ zu stoppen, konnten den den Neoliberalismus Margaret Thatchers und Ronald Reagans nicht verhindern.

Doch wer heute nicht nur in den bösen Medien verfolgt, wie über wirkmächtige Begriffe wie „Griechenland-Misere“, „Grexit“ oder „Schuldenstaat“ nationale Stereotypen geprägt, also semantisch über das Schicksal ganzer Länder entschieden wird, weiß wie wichtig es ist, zu so etwas wie Horvats „Master of Meaning“ zu werden: Jemand, der die Meinung und Bedeutungen zu prägen vermag.
Welche Rolle bei dieser Art von „Widerstand“ die Kunst konkret spielt – denn um sie geht bei Peter Weiss‘ „Ästhetik des Widerstands“ mehr als um Strategien der politischen Gegenmacht – blieb auch nach dem Berliner Diskussions-Abend eine offene Frage. Varoufakis Stinkefinger dürfte gewiss nicht die die ultimative Antwort auf die „subversive Ästhetik“ sein, die Srećko Horvat vorschwebt. Und die er jedes Jahr in seinem „Subversiven Festival“ in Belgrad demonstriert. Auch nicht die “kuratierte Subversion”, als die die Teilnehmer den mitunter etwas außer Rand und Band geratenen Debattenabend ironisch titulierten.

Wirklich tiefe „Risse im System“, das zeigte die erregte Diskussion um das inzwischen legendäre Video, hat der unverhoffte Staatsschauspieler mit seiner semiotischen Strategie zwar nicht bewirkt. Immerhin hat sein Finger sie sichtbar gemacht. Insofern war diese somatische Horizontale ein guter Anfang. Auch für Gesellschaftsveränderung gilt nämlich die Maxime: It’s the performance, stupid!

Ingo Arend

Bild: screenshot (Ausschnitt) website hebbel-am-ufer.de

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Am Berliner Maxim Gorki-Theater: „Musa Dagh – Tage des Widerstands“

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An den Grenzen der Zeugenschaft

100 Jahre Völkermord an den Armeniern

Hans-Werner Kroesingers Inszenierung “Musa Dagh – Tage des Widerstands” nach Franz Werfels Roman über den Völkermord an den Armeniern ist Teil eines Gedenkprogramms am Gorki-Theater in Berlin

Eine „ungeheure Verantwortung hängt daran“. Mit quälenden Worten beschrieb Franz Werfel im März 1933 in einem Brief sein neuestes Projekt. Auf einer Nahost-Reise mit armenischen Waisenkindern in einer Teppichfabrik in Damaskus konfrontiert, entschloss sich der österreichische Schriftsteller, einen Roman über die Ausrottung von deren Volk durch das Osmanische Reich zu schreiben. Aus dem Pariser Kriegsministerium ließ er sich Protokolle zu den Gräueltaten kommen. Für „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ stützte er sich aber auch auf die Aufzeichnungen Dikran Andreasians. Der evangelische Pastor wurde Zeitzeuge des Genozids, der am 24. April 1915 mit der Deportation von rund 200 Istanbuler Intellektuellen begann. Er hatte ein Tagebuch des Widerstands der 5000 Armenier geführt, die sich aus fünf Dörfern am Fuße des Berges an der osmanischen Mittelmeerküste auf dessen Spitze geflüchtet hatten. Dort hofften sie der „Umsiedlung“ ihres Volkes zu entgehen, die hunderttausendfach mit dem Tod in den sengenden Wüsten Mesopotamiens endete.

Werfels Schreibentscheid ist die Ur-Szene einer Kunst in gesellschaftlich-moralischer Verantwortung. Wo Politik und Historiographie schweigen, geht der Schriftsteller ans Werk. Er übernimmt Verantwortung vor der Geschichte, praktiziert die Verantwortung der Kunst. Und in der von dem, 1941 in die USA emigrierten, Juden Werfel bemühten Vokabel schwelt auch der Glutkern des ambitionierten Projekts „Schnee im April“, das bezeichnenderweise das kleinste, aber lebendigste der Berliner Stadttheater gestemmt hat.

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Wunde in der Geschichte

Hatte die schwarz-rote Bundesregierung kürzlich erklärt, sie überlasse die Bewertung der „geschichtlichen Ereignisse“ von 1915 Wissenschaftlern und die Ausrichtung einer Gedenkveranstaltung zu dem Genozid abgelehnt, hat das Maxim-Gorki-Theater vergangenes Wochenende das brisante Thema eigenhändig aufgerollt. Der Titel des Projekts nimmt eine Zeile des armenischen Komponisten Komitas Vardapet auf, der den Genozid überlebte. Und das Haus spricht die regierungsamtlich sorgsam umschiffte Vokabel klar und vernehmlich aus. „Von Jugend an begleitet mich der Völkermord als Wunde in der Geschichte“, begründet die türkischstämmige Intendantin Shermin Langhoff den Schwerpunkt: Sechs Wochen lang kreisen Lectures und Filme, Kunst, Konzerte und natürlich – Theater in dem Haus in der historisch kontaminierten Berliner Mitte um den, auch von der Türkei bis heute verleugneten, planvollen Mord an 1,2 Millionen Armeniern – im Armenien-Erinnerungsjahr 2015 schon für sich ein Vorgang von nicht zu übersehender, symbolpolitischer Brisanz. Endlich einmal eine Symbolpolitik, für die man sich nicht fremdschämen muss. Ausgerechnet den notorischen Dokumentaristen Hans-Werner Kroesinger mit der Inszenierung des literarischen Zentralwerks der armenischen Tragödie zu betrauen, erwies sich als brauchbare Idee. So sehr Werfels Roman dem Widerstand der Armenier ein bewegendes Denkmal setzt, trieft er doch von Pathos und Kitsch. Wie dieser Zugriff auf das Thema scheitern kann, hatte vergangenes Jahr der Filmemacher Fatih Akin mit seinem Genozid-Streifen „The Cut“ demonstriert. Wie man sich dem Abgrund des Grauens auf dem Aktenwege nähern kann hatte der 1962 geborene Kroesinger dagegen schon 2006 am Berliner HAU demonstriert. In „History Tilt“ rekonstruierte er den Prozess gegen den jungen Armenier Sologhmon Tehlirian, der Talaat Pascha, einen der jungtürkischen Drahtzieher des Völkermords, 1921 im deutschen Exil, auf der Berliner Hardenbergstraße, erschoss.

Kroesinger hat Werfels schwülstigen „Musa Dagh“ nicht ekzessiv, sondern behutsam zur mal historisch präzisen, mal locker improvisierenden Montage aus Zentralszenen des Romans und historischem Aktenmaterial ausgenüchtert. Gleich zu Beginn rasseln die Schauspieler in einem, mit Ordnern vollgestellten und grauen Vorhängen umhängten, Archiv aus einem Report des pazifistischen Dichters und Menschenrechtsaktivisten Armin T. Wegner Zahlen, Daten, Fakten über die Deportation der Armenier. Sie intonieren Redebeiträge deutscher Politiker von Markus Meckel bis Fritz Kuhn im Bundestag zu dem düsteren Geschichtskapitel. Oder sie rezitieren die grausigen Beobachtungen über die Leichenberge, die der deutsche Konsul Litten während einer Bahnreise von Bagdad nach Aleppo reportiert hatte. Eine Schul-Landkarte der Türkei und eine große Stehlampe komplettieren das nüchterne Ambiente aus Geschichtsstunde, Feldforschung und Tribunal, das das Stück über weite Strecken bestimmt. Kroesingers Ansatz ist ein verlässliches Mittel gegen die zweifelhafte Ästhetisierung des Holocaust. Er umschifft so auch die ästhetischen Untiefen eines zwiespältigen Kunstwerks.

Frage nach dem Unfasslichen

Kroesinger hat kein Interesse, ein sehr zeitbedingtes Heldenepos zu revitalisieren. Er bettet die literarische Vorlage also in den historisch-politischen Kontext ein. So gelingt es ihm, ein Bewusstsein für die historische Tiefendimension des Konfliktes zu schaffen, der über die begrenzte Perspektive der Protagonisten des Romans hinausreicht. Natürlich will er dabei nicht stehen bleiben. Deshalb schließt er mit zwei symbolischen Kunstgriffen zur Gegenwart auf. Die – deutlich dramatischeren – Szenen der Armenier auf dem Berg spielen in den hölzernen Streben eines unvollendeten Schiffsrumpfes. Damit symbolisiert die Inszenierung (Bühne: Valerie von Stillfried) das Denkmal, mit dem die Überlebenden des Musa Dagh an das französische Kriegsschiff auf dem Berg erinnerten, das sie im September 1915 vor den Türken gerettet hatte. Das türkische Militär hatte das Mal nach dem Putsch von 1980 zerstört.

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„Musa Dagh“ endet mit der szenischen Lesung der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag. Der amtliche Bescheid, die endgültige Aufarbeitung des Genozids sei „Sache der beteiligten Länder“ musste dem im Ohr klingen, der gerade noch das Zitat des deutschen Reichskanzlers von Bethmann Hollweg gehört hatte, das einzige Ziel sei es, „die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht“. Kroesingers Inszenierung schießt sich zu Recht auf diese verdrängte deutsche Mitschuld, Mithilfe an dem Genozid ein. Aus der universellen Dimension eines Menschheitsstoffs schlägt sie so freilich auch innenpolitisch-didaktisches Kleingeld. Dass der Genozid aber die Frage nach dem Rest an Unfasslichem stellt, dass Ästhetik und Repräsentation an ihm regelmäßig scheitern (müssen), demonstrierte unmittelbar vor der Premiere die Pseudo-Dokumentation „Ravished Armenia“. Der 1918 in Hollywood gedrehte Film stellt das Schicksal Aurora Mardiganian nach, wie sie es in ihrem gleichnamigen Buch beschrieben hatte. Im Alter von 16 hatte die Armenierin den Genozid überlebt und sich von anatolischen Sklavenmärkten in die USA gerettet. In einem Exemplar der Erinnerungen können Besucher in der Installation „Auf Mnemosynes Wohl!“ im Gorki-Foyer blättern.

Nach dem Vorbild von Aby Warburgs Bilderatlas hat die argentinisch-armenische Künstlerin Silvina Der Meguerditchian eine assoziative Assemblage von Fotos, Videos, Objekten zum Thema Armenien und Kunstwerke des armenischen Künstlers Archi Galentz kuratiert. Die große US-Promotion-Tour für „Ravished Armenia“ brachte Mardiganian an den Rand des Wahnsinns. Als sie sie abbrach, verpflichtete man sieben Doubles an ihrer statt. Heute existiert nur noch ein 22-minütiges Fragment des Films. Viele Zuschauer verließen ausgerechnet die Aufführung dieses frühen Beispiels eines kommerziell befeuerten Reenactments der bestialischen Massenmorde, Vergewaltigungen und Kreuzigungen so betroffen wie vielleicht nur Claude Lanzmanns „Shoah“. Oder sie standen stumm vor Atom Egoyans Video-Installation „Auroras“ aus dem Jahr 2007. In den Schaukästen vor dem Gorki-Theater sahen sie sieben jungen Schauspielerinnen unterschiedlicher kultureller Hintergründe in die Augen. Der kanadisch-armenische Filmemacher hatte diese den Text von Mardiganians Erinnerungen mit ausdrucksloser Miene nachsprechen lassen. Spätestens hier, außerhalb des Bühnenraums, mit der unbeantwortbaren Frage nach der ästhetischen Zeugenschaft des Unvorstellbaren, also der Verantwortung der Kunst konfrontiert, wurde der mit wohlwollendem Applaus aufgenommene Abend auch einer über die Grenzen des Dokumentartheaters.

Ingo Arend, taz 09-03-2015

Bild: screenshots (Ausschnitt) website http://www.gorki.de und http://pinsta.me/maxim_gorki_theater

MEHR INFORMATIONEN www.genocide-museum.am

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Rolf Hoßfeld: Tod in der Wüste / Sibylle Theken: Die Armenierfrage in der Türkei

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Armenien vor dem Genozid (1914)

 

KILLING FIELDS IN MESOPOTAMIEN

Exterminatorische Systematik:

Rolf Hosfeld und Sibylle Thelen räumen in „Tod in der Wüste“ und „Die Armenierfrage in der Türkei“ die historischen Fakten und den Streit um den Völkermord an den Armeniern auf.

“Man kann das, was damals geschehen ist, in dem Begriff des Völkermords zusammenfassen wollen, und ich kann die Gründe dafür und erst recht die Gefühle dazu gut verstehen”. Mit dieser schrecklichen diplomatischen Formel ging Außenminister Frank-Walter Steinmeier zu Beginn der Woche auf die Abgeordneten zu, die kritisiert hatten, dass in dem Entschließungsantrag des Deutschen Bundestages für die heutige Debatte um den Jahrestag des armenischen Völkermordes das Wort „Völkermord“ nicht aufgetaucht war. Steinmeier selbst nahm ihn aber nicht in den Mund.

Der rhetorische Eiertanz ist ein schönes Beispiel für die Wahrnehmungsblockaden der Politik. Denn an Zeugnissen, die belegen, wie exakt diese Vokabel für das Verbrechen zutrifft, das zwischen dem Frühjahr 1915 und dem Herbst 1918 im Osmanischen Reich verübt wurde, fehlt es nicht. Schon 2010 zitierte die Stuttgarter Politikwissenschaftlerin Sibylle Thelen in der Erstauflage ihres jetzt überarbeiteten Buches „Die Armenierfrage in der Türkei“ das Fazit Wolfgang Gusts, wonach es an der „Faktizität des Völkermords an den Armeniern“ keinen Zweifel mehr gebe.

Gust, ein ehemaliger „Spiegel“-Journalist erhärtete 2005 mit seiner Sammlung von Dokumenten des Auswärtigen Amtes unter dem Titel „Der Völkermord an den Armeniern 1915/16“ den Befund, den der Theologe Johannes Lepsius 1916 unter dem Titel „Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei“ 1916 veröffentlicht hatte. Aus Rücksicht auf den Bündnispartner Türkei im 1. Weltkrieg war das Buch im Deutschen Reich verboten worden.

Für den Berliner Historiker Rolf Hosfeld steht der Tatbestand des Genozids spätestens seit dem Telegramm Hans von Wangenheims außer Frage. Der deutsche Botschafter im Osmanischen Reich telegrafierte am 17. Juli 1915 an Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, „dass die Regierung tatsächlich den Zweck verfolgt, die armenische Rasse im türkischen Reich zu vernichten“. In seinem neuesten Buch „Tod in der Wüste“ rollt Hosfeld dieses Verbrechen erstmals in einer chronologischen Gesamtdarstellung auf.

Keine Stunde Null

Weder Thelen, noch Hosfeld, Direktor der Forschungsstätte Lepsius-Haus in Potsdam, sehen den historischen Stichtag des 24. April 1915 als eine Stunde Null des armenischen Völkermords. Einen Tag vor der Landung der antiosmanischen Entente auf der Halbinsel Gallipoli wurden in Istanbul auf Befehl der jungtürkischen Junta 280 armenische Intellektuelle verhaftet. Viele trugen noch Schlafanzüge. Nach einer tagelangen Irrfahrt durch diverse Gefängnisse wurden sie schließlich in Ankara totgeschlagen.

Vielmehr interpretieren sie den Genozid als Krisensymptom eines Empire im Niedergang. Schon 1894-1896 fielen den Pogromen unter Sultan Abdül Hamid II. Hunderttausende Armenier zum Opfer. Nach der Niederlage der Osmanen in den Balkankriegen 1912/13 drohte der völlige Zerfall des Reiches. Diese labile historische Periode demonstriert eindrücklich die Konsequenzen eines ideologischen Anti-Multikulturalismus.

Genau mit diesem Argument nämlich begründete Yusuf Akçura, ein Vordenker des jungtürkischen „Comité Union et Progrès“ (CUP) die Idee einer homogenen türkischen Nation. In seinem Aufsatz „Drei Arten der Politik“ verwies er schon 1904 auf das Scheitern der Vielvölkerstaaten am Bosporus und in Österreich. Aus den osmanischen Armeniern, ursprünglich „Modernisierungspartner“(Hosfeld) der Jungtürken, wurde in diesem Denken der innere Feind schlechthin. Die seit dem Militärputsch1913 regierende CUP-Junta exekutierte diesen Ethnonationalismus mit mörderischer Konsequenz.

Schon im März 1915 fand in einem Dorf in der Nähe von Adana die erste systematische Deportation statt, im Mai 1915 wurde ein Deportationsgesetz erlassen. Die Junta mobilisierte zu diesem Zweck paramilitärische Todesschwadronen und kurdische Bergstämme. Von den vielen „Killing Fields“ dieses Genozids zählt das Massaker in der Kemah-Schlucht am Euphrat zu den Furchtbarsten. Dort wurden im Juni 1915 innerhalb von vier Tagen 25.000 Armenier getötet: Die Opfer wurden in eine steile Schlucht und in den Fluss geworfen.

Hosfeld hält das Fehlen des einen, entscheidenden Befehls für die Vernichtung der Armenier wie im Nationalsozialismus mit dem Protokoll der Wannsee-Konferenz nicht für erheblich. Er definiert den armenischen Genozid als einen der „fortschreitenden Radikalisierung“. Er reichte vom Schüren „genozidaler Stimmung“ über die immer systematischere Deportation bis zur Endlösung. „Das Ziel muss die Ausrottung der armenischen Rasse sein“ zitiert er den Chef der Deportationsbehörde in Aleppo.

Mit der Vokabel „unbeabsichtigter Völkermord“ stellt die Türkei nun das Vorsätzliche dieses Völkermords, das die UNO-Konvention von 1948 impliziert, in Frage. Dieser Wille zeigte sich bei dem an den Armeniern aber auch in einem bislang unterbelichteten Zweck: Er sollte nämlich die wirtschaftlich starke armenische durch eine türkische Bourgeoisie zu ersetzen. Hosfelds Belege zu Enteignungen und Plünderungen stützen seine These einer „mit Gewalt durchgeführten nationalen Sozialrevolution“.

Fortschreitende Radikalisierung

Thelens und Hosfelds Bücher ergänzen sich hervorragend. Wo die Politologin souverän die komplizierte Diskursgeschichte des armenischen Völkermords in der Türkei auffächert, entfaltet Hosfeld ein erstklassig recherchiertes, gut nachvollziehbares, historisches Panorama. Obwohl er das Grauen mitunter unerträglich anschaulich werden lässt, verliert er sich nicht in der Fülle blutiger Details, sondern systematisiert sie immer wieder.

In dem Wüten des Arztes Mehmet Reschid, dem Gouverneur von Diyarbakir, erkennt er nicht allein eine besonders barbarische Grausamkeit. Er deutet sie vielmehr als Sinnbild der „exterminatorischen Systematik“, mit der die jungtürkische Elite in allen Provinzen die rassistische Vision eines rein türkischen Staates durchsetzte.

Zu kurz bei Hosfeld kommt das deutsche Militär. Dessen unrühmliche Rolle hat der „taz“-Journalist Gottschlich in einem eigenen Buch über die Rolle des Deutschen Reiches aufgearbeitet. Dennoch: Wenn ein Buch ein Massenpublikum über ein Ereignis aufzuklären vermag, das hinter dem Nebel der Begriffs-Schlachten wie dem Grau der Dokumente als reales Geschehen seltsam schemenhaft geblieben ist, dann ist es das Buch des Berliner Kulturhistorikers.

Statt auf die Resolutionen vieler nationaler Parlamente setzt Thelen in der Nomenklatur-Frage auf allmähliche Bewusstseinsveränderung in Form einer „europäischen Erinnerungskultur“ der Zivilgesellschaften. Ihr Paradebeispiel ist die Internet-Kampagne „Ich entschuldige mich“. Mehr als 30.000 türkische Bürger hatten 2009 eine Erklärung unterzeichnet, mit der sie sich bei den Armeniern entschuldigten.

So konzessionsbereit die AKP zu Beginn ihrer Regierungszeit in dieser Frage war, hatte Thelens Plädoyer etwas für sich, „nicht in alte Reflexe zurückzufallen“. So hartnäckig, wie sie inzwischen aber wieder jede Verantwortung für den Völkermord zurückweist, um ihre Idee der Wiedergeburt der Türkei als islamischer Nation nicht befleckt zu sehen, helfen aber wohl nur deutliche Worte.

Natürlich lässt sich fragen, ob ein Parlament ein historisches Urteil fällen sollte. Die besondere Verantwortung des deutschen Souveräns in der „armenischen Frage“ liegt aber auf der Hand. Die Deutschen haben mit dem Mord an den Hereros und Nama 1904 den ersten Völkermord der Geschichte verübt. Sie haben den armenischen Völkermord nicht verhindert, obwohl sie es gekonnt hätten. Und sie sind die Urheber des Holocaust.

Vor diesem Hintergrund ist es beschämend, dass das Wort „Völkermord“ erst auf massiven Druck an entlegener Stelle in den Parlamentsantrag floss. Der Großen Koalition war die Rücksicht auf den alten und neuen Waffenbruder im Nahen Osten offenbar wichtiger als die historische Wahrheit.

Immerhin baut der Antrag Frank-Walter Steinmeier eine goldene Brücke für den überfälligen Beweis, dass er den Streit um die Frage, ob die Beteiligung des Deutschen Reiches an der Vernichtung der Armenier „Beihilfe zum Völkermord“ (Jürgen Gottschlich) oder „unterlassene Hilfeleistung“ (Christin Pschichholz) war, nicht um eine dritte Kategorie erweitern will: Versuchte Beihilfe zur Leugnung.

Ingo Arend

taz 24.4.2015

Bild: CC-BY-SA-3.0; Armenien vor dem Genozid (1914), Quelle Image (Map) made by Klaus M. (Mikmaq), Germany; The source for the settlement area was Richard Andree’s Allgemeiner Handatlas (from Verlag von Velhagen & Klasing, Bielefeld and Leipzig 1882). Urheber Klaus M.

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Cover © C.H.Beck

 

Rolf Hosfeld:

Tod in der Wüste. Der Völkermord an den Armeniern

C.H.Beck, München 2015

288 S.,

24,95 Euro

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Cover © Wagenbach

 

Sibylle Thelen:

Die Armenierfrage in der Türkei

Wagenbach, Berlin 2015,

95 S.,

9,90 Euro

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Die 14. Documenta 2017 wir in Kassel und auch in Athen stattfinden

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Nord-Süd-Achse: Seit einem Jahr ist Annette Kulenkampff die erste Geschäftsführerin der Documenta. Jetzt bereitet sie Adam Szymczyks Doppelschau 2017 vor. Ein Besuch in Kassel.

Ein Griechisches Jahr

“Das war natürlich eine große Überraschung, als er das Konzept präsentiert hat. Und das hat natürlich zu Verwunderung geführt.” Annette Kulenkampff erinnert sich. “Learning from Athens – Von Athen lernen”.

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Als Adam Szymczyk vergangenen Herbst seine Pläne vorstellte, die 14. Documenta 2017 nicht nur in Kassel, sondern auch in Athen stattfinden zu lassen, erntete der damalige Direktor der Kunsthalle Basel heftige Reaktionen.

Athen als Symbol der internationalen Finanzkrise und Herausforderung für die Kunst. Kulenkampff, war vor zwei Jahren Zeugin der Sitzung, in der Szymczyk sein Konzept vorstellte. Die 58-jährige, seit genau einem Jahr als Nachfolgerin von Bernd Leifeld erste Geschäftsführerin der Documenta, sitzt in ihrem kleinen, eleganten Büro im Kasseler Museum Fridericianum. An der Wand hängt ein Foto des Freischwingers, den Documenta-Gründer Arnold Bode einst entwarf.

Bei dem Gedanken, gleich bei ihrer ersten Schau zwei Standorte organisieren zu müssen, beschlichen sie im letzten Jahr, wie sie gesteht, gemischte Gefühle. Doch sie hielt Szymczyks Idee von Anfang an für stimmig. Schließlich hatten schon seine Vorgänger Okwui Enwezor und Carolyn Christov-Bakargiev Außenstationen bespielt.

Kulenkampff stammt aus einer kunstaffinen Hannoveraner Bürgerfamilie. Ihr Großvater war Kunsthistoriker, mit den Eltern besuchte sie sonntags als junges Mädchen immer die Kestner-Gesellschaft. Ihr Initialerlebnis hatte die knapp 15-Jährige auf der Documenta 5, 1972 vor den Bildern des neuen Fotorealismus. „Dass so etwas Kunst sein sollte, was mir so sehr entsprach in diesem Alter, das hat mich am meisten überrascht, auch schockiert“, erinnert sie sich. Das Aha-Erlebnis wirkt nach, sie studiert selbst Kunstgeschichte, während des Studiums gründet sie in Frankfurt sogar eine Galerie.

Später heuert Kulenkampff der Bonner Bundeskunsthalle an, führt 18 Jahre lang den renommierten Hatje-Cantz-Kunstverlag. Nun muss sie die 30-Millionen-Organisation Documenta leiten. Mit der Rolle als einsame Frau an der Spitze ist sie vertraut, ob als Verlagsgeschäftsführerin oder erste Vorsitzende des Württembergischen Kunstvereins. Heute noch fragt sie sich: „Wo sind eigentlich die Frauen im Kunstbetrieb? Immer sind diese Fotos umgeben von Männern.“ Unsicher, nervös wirkt die dunkelblonde Frau angesichts ihrer neuen Aufgabe überhaupt nicht.

Im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehen der Documenta-Kurator oder die Kuratorin. Den Namen des Geschäftsführers kennen die wenigsten. Dabei trägt Kulenkampff die Verantwortung für ein perfekt organisiertes Mega-Event: Vom Personal über die Versicherung bis zum Überseetransport. Die dienende Rolle als Managerin bereitet ihr keine Schwierigkeiten: „Ich habe mich nie als Kurator gefühlt“, sagte sie seelenruhig, „meine Fähigkeit ist es, Gefäße zu schaffen, Möglichkeiten zu schaffen.“

Genau das tut sie jetzt in Kassel. Die erste Aufregung über Kurator Szymczyks Idee hat sich in der Stadt gelegt. Längst arbeitet das Documenta-Team an dem Konzept. In Athen hat es Gespräche geführt, Kooperationspartner ausfindig gemacht, mögliche Ausstellungsorte besichtigt, wie etwa die Athener Kunsthochschule. “Die Documenta ist Hoffnung” fand kürzlich selbst der Athener Oberbürgermeister Yiorgos Kaminis bei einem Besuch in Kassel.

Was die Welt von Athen lernen kann, sollen freilich die Künstlerinnen und Künstler zeigen, die Hauptpersonen jeder Documenta. Namen lässt sich Kulenkampff natürlich noch nicht entlocken. Ende des Jahres soll eine rund 100-köpfige Liste stehen. Die Ausgewählten sollen dann Kassel und Athen besuchen: „Und aus diesem Spannungsverhältnis, was immer sie da erleben“, ist sich Kulenkampff sicher, „wird etwas entstehen.”

Keine Documenta zuvor hat je so früh ihr Konzept bekannt gegeben. Kulenkampff hält Szymczyks Vorgehen für einen Vorteil, weil sich viele Kulturinstitutionen jetzt mit dem Konzept auseinandersetzen könnten. Die Evangelische Akademie wolle in Hofgeismar 2017 ein philosophisches Seminar initiieren. Das Kasseler Theater plant mit dem Thema Griechenland. „Das ist doch ein Riesengeschenk“ findet Kulenkampff, „vielleicht wird ja 2017, was die Kultur angeht, in Deutschland ein Griechisches Jahr“.

Der kulturelle Austausch zwischen den Standorten der D 14, stellt sie klar, ist Szymczyk diesmal besonders wichtig. Ihr schwebt der Austausch von Schulklassen zwischen Kassel und Athen vor, oder der zwischen den Kunsthochschulen. Die Kasseler Universität sei interessiert. Kulenkampff kann sich aber auch vorstellen, dass deutsche und griechische Firmen Lehrlingen aus den jeweiligen Ländern Praktika anbieten.

Wer die Documenta dieser Tage in Kassel besucht, dem fällt auf, dass das kontroverse Motto “Learning from Athens” nicht mehr ganz so häufig fällt. Schwer zu sagen, ob ihre Macher gemerkt haben, dass sie in Athen in ein politisches Wespennest greifen. Jedenfalls argumentiert Kulenkampff neuerdings mit dem allgemeineren Begriff “Nord-Süd”, wenn sie darauf hinweist, dass sich die Documenta„weit über Griechenland hinaus bewegen“ werde.

Die Formel beschränkt sich für Kulenkampff nicht auf Kassel und Athen. „Das steht ja nur als Symbol für diese Auseinandersetzung zwischen dem Süden und dem Norden der Welt“. Für sie ist der Kulturstreit um die „Effizienz des Norden gegen die Kunst zu leben des Südens“ eine „sehr, sehr spannende Diskussion. Und ich denke mal, das wird die Documenta reflektieren, Ausgangspunkt: Diese relativ nahe Nord-Süd-Achse Kassel-Athen.”

200 Biennalen gibt es inzwischen in der Welt. Einige verdanken ihre Entstehung Künstlerbewegungen, viele politisch motiviertem Stadtmarketing. Kulenkampff will die Kasseler Bürger wieder stärker in die Vorbereitung einbeziehen und die Documenta so an die Ursprungsidee zurückbinden: “Letztendlich ist die Documenta eine Bürgerinitiative, Arnold Bode hat ja gekämpft dafür mit seinen Mitstreitern und keiner wollte das eigentlich. Es ist aus der Bürgerschaft entstanden“.

Kunst hat derzeit keinen guten Ruf. Irrwitzige Rekordsummen auf Auktionen, Gerichtsverfahren wie das gegen den Kunstberater Achenbach, vielen Künstlern, aber auch der breiten Öffentlichkeit gilt Kunst inzwischen nur noch als Accessoire der Reichen und Mächtigen. Zwischen zu viel und zu teuer sieht Annette Kulenkampff die Kasseler Weltkunstschau als Garanten einer nicht korrumpierten Kunst. Zweieinhalb Jahre, nicht mehr allzu viel Zeit hat sie jetzt noch, um zu beweisen, dass sie mit ihrem Documenta-Credo richtig liegt: “Sie ist absolut glaubwürdig. Sie macht sich nicht abhängig vom Markt. Die Documenta ist etwas, an das die Menschen nach wie vor glauben können in dieser Kunstszene, die inzwischen ja auch genügend ihrer Skandale hat.“

Ingo Arend

Bild: Adam Szymczyk  CC BY-SA 3.0 Author Haemmerli

 

documenta 14

10. 6. – 17. 9. 2017

 

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56. Biennale von Venedig

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56 Biennale 680

screenshot www.labiennale.org

 

Prestige und Previews

Die Biennale von Venedig ist die älteste der Welt. Sie steckt aber noch immer im Widerspruch zwischen Universalanspruch und Nationalgehäuse

„Mutter aller Biennalen“. So werden die Kunstfreunde die Biennale von Venedig auch in diesem Jahr wieder rühmen. Die Formel führt freilich auf glitschiges Terrain. Natürlich markiert die 1895 gegründete Schau, die am Wochenende zum 56. Mal öffnet, eine Art Ur-Szene des ausufernden Biennale-Betriebs heutiger Tage. Doch das Mutterbild provoziert unweigerlich die Frage: Wer sind die Väter der weltweit 200 Biennalen heute? So viele Kinder sind selbst für eine robuste Mutter zu viel. Und überhaupt: Wer Kultur biologisch erklärt, will sich gegen Kritik immunisieren: Mütter sind bekanntlich sakrosankt. Mütter kritisiert man nicht, man respektiert sie.

Naturwüchsige Ehrerbietung passt aber weder zur zeitgenössischen Kunst, noch sollte man sie einer Biennale erweisen, die sich nichts anderem als dem berüchtigten Standortmarketing verdankt. Ende des 19. Jahrhunderts wollte Venedigs Bürgermeister Riccardo Selvatico den Tourismus ankurbeln und die Kunstmarkt-Konkurrenten London, Paris und München aus dem Feld schlagen. Das Schaulaufen milliardenschwerer Oligarchen und das Dickicht spektakulärer „Eventi Collaterali“, die die Kunstschau heute bis zu Unkenntlichkeit umwuchern, führen den Geist dieser frühen Event-Ökonomie nur fort, der die Biennale entstammt. Viele Jahrzehnte war die Biennale eine reine Verkaufsveranstaltung.

Der rührige Bürgermeister wollte mit seiner Biennale zwar, wie er damals schrieb, auch die „brüderliche Verständigung aller Völker“ fördern. In Venedig auszustellen, ist heute aber eine Sache des nationalen Prestiges. Wie sich an der stetig wachsenden Zahl „nationaler Pavillons“ sehen lässt, die jedes Jahr in den Palazzi der sterbenden Stadt eingerichtet werden. 1999 ironisierte der thailändische, in New York lebende Künstler Rirkrit Tiravanija das Nationalitätenprinzip, als er zwischen dem kommerziellen Buchpavillon und dem US-amerikanischen Pavillon schräg gegenüber eine Holzplattform installierte und zum Thailändischen Pavillon“ erklärte. Was einen langen Streit zur Folge hatte, ob das hölzerne Geviert nun exterritorialen Status genieße wie die anderen Häuschen. Und niemand hätte sich in diesem Jahr wahrscheinlich gewundert, wenn der April-Scherz des Kunst-Magazins „Hyperallergic“ wahr gewesen wäre: Das hatte gemeldet, die Terror-Organisation ISIS plane einen eigenen Pavillon während der Biennale, zu dessen Programmpunkten es gehört hätte, Kunstwerke und historisches Kulturgut mit einem goldenen Auktionshammer zu zerstören und Videos der Performances in alle Welt hinaus zu senden. Als Give-aways hatten die ISIS-Kuratoren schwarze Jutetaschen vorgesehen.

Mehr noch als die fragwürdigen Gehäuse selbst, ist diese Haltung, immer wieder das nationale Prinzip zu reklamieren, anachronistisch in Zeiten der Globalisierung. Die Biennale ist dadurch zwar internationaler geworden. Die Zahl der Nationen hat sich in den letzten 15 Jahren mehr als verdoppelt. In diesem Jahr nehmen 88 Nationen teil. Diese Haltung schreibt aber die fatale Idee des 19. Jahrhunderts fest, die Kunst sei die ideale Verkörperung der nationalen Identität. Viel zu selten trauen Kuratoren sich, dieses, dem surrealen Giardini-Areal gleichsam architektonisch eingeschriebene Dogma, zu unterlaufen. 2009 stellte Kurator Schafhausen den britischen Künstler Liam Gillick im Haus „Germania“ aus. Vor zwei Jahren tauschten Deutschland und Frankreich die Pavillons. In diesem Jahr wird es einen eigenen Pavillon für KünstlerInnen der armenischen Diaspora geben.

Spätestens seit 1989 führt der Weg von der transatlantischen Moderne zur polyzentrischen Globalkunst des 21. Jahrhunderts, strebt das Biennale-System zur Peripherie. In Berlin fällt die Mauer. In Paris stellt der Kunsthistoriker Jean-Hubert Martin in seiner Schau „Magiciens de la terre“ im Centre Pompidou hundert Künstler aus allen Kontinenten gleichberechtigt und kommentarlos nebeneinander. Aber Venedig sitzt immer noch in der Falle zwischen Universalanspruch und Nationalgehäuse.

Die neuen Biennalen, die seitdem entstanden, sagen auch etwas aus über die Inflationsgefahr eines erfolgreichen Formats. Sie zeugen aber weniger von der Strahlkraft eines großen Vorbildes. Sie verdanken sich vielmehr dem explodierenden Repräsentationsbedürfnis außerhalb der euroamerikanischen Moderne. Das stand schon hinter der 1946 gegründeten Biennale von Sao Paulo. Das belegt der Erfolg der kleinen Newcomer-Biennale von Kochi-Muziris in Indien in diesem Frühjahr. Das zeigt sich bei der nahezu unbekannten Fotobiennale von Bamako im nordafrikanischen Mali im kommenden Herbst. Das gilt selbst für die gute, alte Documenta. Kurator Adam Szymczyk will sie 2017 bekanntlich zu einer Nord-Süd-Achse Kassel-Athen umbauen.

Nicht zufällig findet man so oft das Wort „beyond“ in den Mottos der neuen Biennalen. Das unscheinbare Wörtchen steht für die Suche nach einem Jenseits: Jenseits der Westkunst, jenseits von Kolonialismus, Nationalismus und Traditionalismus. Diese Biennalen pfeifen auf Prestige und Cocktailparties, Wertsteigerung und Aufmerksamkeitsökonomie, Ausstellungswert und Medienecho. Sie stürzen sich ins politästhetische Cross-Over, legen ihre Biennalen als Bildungsparcours für die (meist unterentwickelte) Region aus und wollen globale Probleme lokal verständlich machen. Ihnen geht es um Bewusstseinsbildung und Wissenstransfer.

Als Touristenattraktion und Vernissagen-Kulisse werden die Puppenstuben eines überholten Weltgeistes an der Lagune überleben. Als Gehäuse des „Post-Westernism“, von dem Okwui Enwezor spricht, taugen sie auf Dauer nicht. Dem herausragenden Ausstellungsmacher wäre noch am ehesten zuzutrauen, dass er der ehrwürdigen Mutter Venedig in diesem Jahr ein lange vermisstes Glanzlicht aufsteckt. Die postkoloniale Documenta 11 des Jahres 2002, die der nigerianisch-amerikanische Kurator ausrichtete, ist in die Biennalen-Geschichte eingegangen. Unter dem Motto „All the World’s Futures“ kuratiert Enwezor in diesem Jahr die große Kunstschau parallel zu den Pavillons in den Giardini. Dennoch: Venedig ist nicht mehr die eine Biennale für alle, sondern eine unter vielen.

Ingo Arend schreibt als „taz“-Autor über Kunst und Politik. Er ist Mitglied im Präsidium der neuen Gesellschaft bildende Kunst (nGbK) und lebt in Berlin.

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Die Mardin-Biennale in der Osttürkei

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From the 1st Mardin Biennial

Kunst im wilden Kurdistan

Von Ingo Arend

In Sachen Zeitgenössische Kunst ist die Türkei zwar noch ein Schwellenland. Immerhin hat sie gleich vier Kunstbiennalen. Eine davon wird in der Stadt Martin, im wilden Kurdistan gefeiert. (WDR 5)

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Das Kunstevent im äußersten Südosten der Türkei, direkt an der syrischen Grenze, ist ein markantes Beispiel für eine Gegenbewegung zu den großen Biennalen. Hier hat nicht ein Starkurator das Sagen, sondern ein Kollektiv. Die Kunst beschäftigt sich mit der Region und bezieht die Bevölkerung mit ein. Bei der dritten Ausgabe der Mardin-Biennale drehte sich alles um “Mythologien”. Scala ist vor Ort und berichtet.

Das Kunstevent im äußersten Südosten der Türkei, direkt an der syrischen Grenze, ist ein markantes Beispiel für eine Gegenbewegung zu den großen Biennalen. Hier hat nicht ein Starkurator das Sagen, sondern ein Kollektiv. Die Kunst beschäftigt sich mit der Region und bezieht die Bevölkerung mit ein. Bei der dritten Ausgabe der Mardin-Biennale drehte sich alles um “Mythologien”. Scala ist vor Ort und berichtet.

Quelle WDR 5, 18-05-2015

Bildquelle:  website Mardin Biennale

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Abkehr von der Nützlichkeit: Die Diskussionsreihe „Phantasma und Politik“ im Berliner Hau

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Fantasie als Fantasie

Die Diskussionsreihe „Phantasma und Politik“ im Berliner Hau könnte einen Paradigmenwechsel in der politischen Ästhetik einleiten.

„Wir brauchen eine Kunst in gesellschaftlicher Verantwortung“. So oder ähnlich sagt es der scheidende Akademiepräsident und Politgrafiker Klaus Staeck. Und wenn Angela Merkel von Deutschlands Rolle in der Welt spricht, fehlt das respektheischende Wort „Verantwortung“ auch selten. Doch was hat es zu bedeuten, wenn die deutsche Bundeskanzlerin und der deutsche Vorzeigeintellektuelle dieselbe Vokabel benutzen?

Der „Isomorphismus“, die Ähnlichwerdung von Kunst und Politik war der rote Faden der Veranstaltungsreihe „Phantasma und Politik“ des Berliner Hebbel am Ufer (HAU). Am Dienstagabend ging sie mit einem Panel zum Thema „Die Verantwortung der Kunst“ zu Ende. Spätestens seit Hans Jonas‘ Buch „Das Prinzip Verantwortung“ von 1979 ist der Begriff zu einer zeitgenössischen Zentralvokabel avanciert.

Die Kunst macht da keine Ausnahme. Neben „Nützlichkeit“ gehört „Verantwortung“ inzwischen zur Begründungsrhetorik fast jeden Kunstprojekts. Die „Responsibilisierung“ der Kunst ist sozusagen die jüngste Erscheinungsform ihrer ubiquitären „Anrufung des Politischen“. Die Folge: Ein „ethical turn“ der Ästhetik.

Das mitunter etwas zähe Late-Night-Format „Phantasma und Politik“ gehörte gewiss nicht zu den Hotspots des dichten Berliner Veranstaltungsteppichs. Dennoch könnte die, von dem Kunstphilosophen Helmut Draxler und Christoph Gurk, dem scheidenden Dramaturgen des HAU, seit 2013 kuratierte Reihe einen Paradigmenwechsel der progressiven Ästhetik einleiten. So klar, wie hier der kritischen Reflexion der Verquickung von Kunst und Politik das Wort geredet wurde, die den gegenwärtigen Kunstdiskurs ebenso dominiert wie die Ausstellungspraxis.

Denn wenn ein alles andere als konservativer Mann wie der Berliner Philosoph und Kritiker Tom Holert für einen neuen „Sozialvertrag“ der Kunst plädiert, der darauf basiert, dass Kunst und Politik die Eigengesetzlichkeit ihrer beider Sphären respektieren sollten, muss das aufhorchen lassen. Holert wies auf die Gefahr des Paternalismus hin, der damit verbunden ist, für jemand anderen „Verantwortung übernehmen“ zu wollen.

Als „Social Responsibility“ oder „Selbstverantwortung“ sei der Begriff inzwischen auch zum integralen Bestandteil einer Ideologie geworden, die Menschen zuvörderst als Marktindividuen begreife. Und wenn die Kunst, so Holert, gegen die Katastrophen der Vergangenheit und der Gegenwart „Verantwortung“ für eine bessere Zukunft übernehmen wolle, laufe sie überdies Gefahr, sich zur „Erfüllungsgehilfin“ einer religiös konnotierten (Geschichts-)Teleologie zu machen.

Für die Mitdiskutantin Beatrice von Bismarck, Kunstprofessorin an der Leipziger Kunst-Hochschule für Grafik und Buchkunst, begründet der Terminus „Verantwortung“ aus kuratorischer Sicht eine gefährliche Subjekt-Objekt-Beziehung, die die Involviertheit desjenigen zu übersehen droht, der als Kurator diese Verantwortung für einen Künstler übernimmt.

Dass die Kunst auf die gesellschaftlichen Bedingungen reflektieren muss, in denen sie steht und die sie geistig und materiell determinieren, versteht sich von selbst. Dasselbe, so ließe sich die Diskussion bilanzieren, sind Kunst und Wirklichkeit, Kunst und Realität, Kunst und Politik, nicht. Insofern ist die Reflexion über eine „postetische Kunst“, die Holert vorschlug kein Rückfall in eine überwunden gelglaubte Ästhetik.

Denn Kunst ist nicht per se ethisch, sondern tendenziell eher amoralisch, asozial, dissident in alle Richtungen. Diese Zweideutigkeit und Unberechenbarkeit machen ihre ästhetische, aber auch politische Sprengkraft aus. Um mit Helmut Draxler zu sprechen: „Wir brauchen die Fantasie. Aber als Fantasie“.

Ingo Arend

www.hebbel-am-ufer.de/programm/festivals-und-projekte/phantasma-und-politik/

 

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Bilder:: screenshot Ausschnitt website www.hebbel-am-ufer.de

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Karneval in Kurdistan (3. Mardin-Biennale)

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Aysel Alvers Skulptur “pity pity” (2014) auf der 3. Mardin-Biennale. Foto: Ingo Arend

Bei der 3. Kunst-Biennale in der kurdischen Stadt Mardin drehte sich alles um „Mythologien“

Eine Frau mit weißem Schleier beugt sich trauernd über ein lebloses Mädchen. Das Pietà-Motiv der Skulptur in dem leeren Steingewölbe erklärt sich für den Betrachter sofort. Irritierend nur, dass der Körper der schönen, jungen Toten in einen Fischschweif mündet. „Pity Pity“, die Arbeit der Mardiner Künstlerin Aysel Alver auf der 3. Mardin-Biennale war eines der vielen Belege dafür, wie produktiv Kunst eine einzigartige Projektionskulisse aufschließen kann.

„Mythologies“ hatte die kleine, erst 2010 gegründete, Biennale im äußersten Südosten der Türkei als Motto ausgegeben. Das klang etwas konventionell. Doch wer von den Dächern der labyrinthisch verwinkelten, 6000 Jahre alten Stadt, die sich malerisch an einen alten Berghügel schmiegt, hinab in die mesopotamische Tiefebene schaut, dem erscheint das nur noch logisch. Vor dem geistigen Auge dämmern da automatisch alle Mythen auf, die sich mit dieser Geburtsstätte der menschlichen Zivilisation verbindet.

Ein Mythos ist die Legende von Şahmaran. Das Fleisch der Königin, die halb Schlange und halb Mensch ist und in die sich ein junger Mann verliebt, wird von einem finsteren König begehrt. Die Geschichte endet natürlich tragisch. In Alvers Skulptur wird die Fabel einer absoluten Liebe und ihres Kampfes um Gerechtigkeit zugleich Sinnbild des Leidens der Frauen in einer seit Jahrzehnten von Krieg und Bürgerkrieg verheerten Gegend.

Die Biennale in der 80.000-Einwohner-Stadt ist nicht nur ein Beispiel für eine markante Gegenbewegung zum großen Biennale-Zirkus. So wie sie beharrlich den regionalen Kontext fokussiert, statt mit globalen Schlagworten um sich zu werfen. Angesagte Kunstdompteure sind hier verpönt: Trotzdem konnte das 15-köpfige Kuratoren-Kollektiv um die Ankaraer Galeristin Döne Otyam zur dritten Ausgabe ihrer, erst 2010 gegründeten, Schau immerhin 63 Künstlerinnen präsentieren.

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Eröffnungsperformance der 3. Mardin-Biennale. In der Mitte: Dilara Akays Installation “ARK170″. Foto: Ingo Arend

Mit diesem Ansatz ist Mardin auch das poetische Gegenstück zur Canakkale-Biennale am anderen, fast 2000 Kilometer entfernten, westlichen Ende der Türkei. Die hatte vergangenen September das Weltkrieg-Erinnerungsjahr 1915 thematisiert. In Mardin werden die großen Menschheitsfragen gern verschlüsselt. Zusammen mit der noch kleineren Sinop-Biennale am Schwarzen Meer kommt das Kunst-Schwellenland Türkei auf erstaunliche vier Kunstbiennalen – zivilgesellschaftliche Mini-Bollwerke gegen das Ein-Mann-Regime, das die AKP-Regierung dem Land nach den Parlamentswahlen Anfang Juni gern verordnen will.

Der Hang zur Poesie hieß aber nicht, dass Politik in der Kunstenklave im explosiven Dreiländereck Syrien, Türkei und Irak nicht vorgekommen wäre. Mit einem gehörigen Schrecken betrat zumindest der deutsche Besucher den zentralen Ausstellungsort, eine verfallene Kaserne namens „Alman Karargâhı“. Das „Deutsche Hauptquartier“ hatte dem deutschen Militär im 1. Weltkrieg als Stützpunkt gedient. Kurz zuvor war die Villa eines armenischen Kaufmanns zwangsenteignet worden.

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Alman Karargâhı: das ehemalige „deutsche Hauptquartier“ in Mardin, zentraler Ausstellungsort der Biennale. Foto: Ingo Arend

Mit „Arrows without Bodies“ evozierte der spanisch-britische Künstler Juan del Gado das Schicksal der Boat-People im Mittelmeer. Den Boden eines der verfallenen Gelasse des jahrhundertealten Mor Efrem-Klosters hatte er mit Sand bedeckt und überall Schuhe ausgelegt. An der Wand lief der Video-Loop eines endlos wogenden Meeres.

Und den Superhelden mit Pharao-Physiognomie und Gamal-Abdel-Nasser-Stimme, der in dem satirischen Video „On Presidents and Superheroes“ des ägyptischen Künstlers Khaled Hafez durch Ägypten paradiert, konnte man mühelos auf den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan beziehen.

Die Lust an Poesie und Ästhetik macht Mardin zu einer sehenswerten Alternative zu den Biennalen, die mittlerweile im Mainstream einer vorhersehbaren Politkunst ersticken. Die Biennale-Idee vom spielerisch entfesselten „Karneval“ als „Mittel des Widerstandes“ rutschte freilich mitunter ins Folkloristische ab. Etwa wenn die genderkritische gedachte Performance der Istanbuler Künstlerin Dilara Akay zu einem Volksfest mit kurdischen Tänzen ausartete.

Bei ihren Vorort-Recherchen war sie darauf gestoßen, dass es der Esel war, der den antiken König Priapos einst davon abhielt, die Göttin Hestia zu vergewaltigen. Bis heute geht ohne die geduldigen Lasttiere gar nichts in der Stadt mit ihren steilen Berggässchen. Ihre morgendlichen Schreie bildeten den Kern einer Performance, die Akay mit den Teilnehmerinnen einer Mardiner Frauen-Akademie einstudiert hatte.

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Screening von Romain Kronenbergs Video: “so long after sunset and so far from dawn” (2014) während der 3. Mardin-Biennale. Foto: mardin-biennale

Gebrochen wurde derlei ästhetisches Appeasement mit der Volkskultur spätestens dann, als die Gäste in dem riesigen Open-Air-Kino am Rande der Stadt saßen. Das Amphitheater residiert vor der grandiosen Kulisse Mesopotamiens, die syrische Grenze ist keine zwanzig Kilometer entfernt.

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Teilnehmer der 3. Mardin-Biennale vor dem Open-Air Kino an der syrischen Grenze. Foto: Ingo Arend

Wer dort bei Sonnenuntergang Romain Kronenbergs Video „So long after sunset and so far from dawn“ betrachtete, in dem der französische Filmemacher Aufnahmen zerstörter Häuser an der armenischen und an der syrischen Grenze gegenüberstellt, konnte sich plötzlich vorstellen, wie sich die türkischen Armenier gefühlt haben mögen, als sie vor hundert Jahren von Mardin in die mesopotamische Wüste deportiert wurden. Von ferne konnte man die Lichter des zerstörten Kobane flackern sehen.

Ingo Arend

Mythologies – 3. Mardin-Biennale
Mardin, Türkei,
Noch bis zum 30.6.2015

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Symposium: “Politik der Kunst. Über Möglichkeiten, das Ästhetische politisch zu denken“

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Partisanen der Sinnlichkeit

Der Kongress „Politik der Kunst. Über Möglichkeiten, das Ästhetische politisch zu denken“ in Berlin markiert einen aufschlussreichen Sinneswandel linker Kunst-Intelligenz.

Kunst ist politisch, oder sie ist gar nicht. Mit dem Motto für die 7. Berlin-Biennale machte Artur Żmijewski eine ziemliche Bauchlandung. Die politaktivistische Gerümpelkammer, die der Künstlerkurator 2012 in den Kunst-Werken öffnete, diskreditierte die „politische Kunst“ so nachhaltig, wie es keine rechte Diffamierung vermocht hätte. Doch wie hätte eine solche Kunstform auszusehen, wenn man sie nicht auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgen will?

Dass nicht das Politische, sondern das Ästhetische politisch ist – diese, seit einiger Zeit wieder an Zulauf gewinnende Gegenposition, hatte der französische Philosoph Jacques Ranciere schon Mitte der 2000er Jahre ventiliert. Für ihn liegt die Kraft der Kunst in dem, was er die „Neuaufteilung des Sinnlichen“ nennt. Wenn also symbolische oder künstlerische Handlungen und Setzungen eine bestehende ästhetische, symbolische Grammatik, Regelpoetik oder sonst wie normative Ordnung destruieren.

So wie etwa die am amerikanische Bürgerrechtlerin Rosa Parks in fas Feld des Öffentlichen intervenierte, als sie sich am 1. Dezember 1955 in Montgomery, Alabama weigerte, ihren Sitzplatz im Bus für einen weißen Fahrgast zu räumen. Und damit ein Feld neuer Sichtbarkeit beanspruchte und auch praktisch einnahm. Auf dem Kongress „Politik der Kunst. Über die Möglichkeiten, das Ästhetische politisch zu denken“ der Akademie der Künste und des Goethe-Instituts vergangenes Wochenende in Berlin fand sein Ansatz freilich nicht viele Anhänger.

Denn die dem Kunstwerk eignende „Unbestimmtheit“, die für Ranciere erst den Betrachter zum politischen Handeln motiviert, negiert für die Wiener Kunsthistorikerin Ines Kleesattel die „Wahrheit“ jeden Werks. Wenn nur noch die Erfahrung von Rancieres „emanzipiertem Betrachter“ zähle, könne man sich nicht mehr über objektive Kriterien streiten. Was zugleich den Tod der Kunstkritik bedeute.

Zwar sympathisierten die Kongressteilnehmer mit diesem Unbestimmten der Kunst. Etwas, was die Offenbacher Kunstphilosophin Juliane Rebentisch auch „Irritierbarkeit“ nennt. Zu bestimmt sollte die kritische Kunst in Zukunft nicht mehr sein. Der linken Intelligenz schwant nämlich, dass ihre vielbeschworene „gesellschaftliche Relevanz“ anders aussehen muss als in der klassischen Politästhetik zwischen John Heartfield, Klaus Staeck und Rimini Protokoll. „Wir steckten in der Sackgasse der politischen Eindeutigkeit“, resümierte die Filmemacher und frisch gewählte Akademiepräsidentin, Jeanine Meerapfel, Jahrgang 1943, selbstkritisch so manche Kunstproduktion der 70er Jahre.

Der Berliner Kunstphilosoph Helmut Draxler klagt schon seit Jahr und Tag über den wohlfeilen Mainstream der „criticallity“ auf Biennalen, Triennalen Documentas und dem Meer der politisch motivierten Themenausstellungen. Wenn schon ein progressiver Mann wie Leonhard Emmerling, Leiter des Bereichs Bildende Kunst in der Münchener Zentrale des Goethe-Instituts vom „Elend der Partizipation“, der „Querfinanzierung der Kultur durch die Moral“ und dem „engagierten Mainstream der relationalen Ästhetik“ klagt, die über die „Mimikry der administrativen Sprache“ eine „bessere Gesellschaft“ anstrebe, darf man wohl von einem linken Unbehagen an der gesellschaftskritischen Ästhetik zeitgenössischer Prägung sprechen.

„Die politische Kunst ersetzt inzwischen die Politik“ warnte Emmerling nicht ganz zu Unrecht vor einem problematischen Rollenwechsel. „Musik um ihrer selbst willen zu hören, ist schon politisch“ pflichtete der Komponist und Kunstprofessor Mathias Spalinger, ein Urgestein der Neuen Musik in Deutschland, auf einer abendlichen Podiumsdiskussion in den Chor kritischer Stimmen ein.

Die Künstler als „Partisanen der Sinnlichkeit“ den Ausweg aus dieser Sackgasse des Politischen suchen zu lassen, wie es der Philosoph Christoph Bermes empfahl, klang vielen zu martialisch. Zurück zur guten alten „Autonomie der Kunst“ geht es aber offenbar auch nicht. Die Kunstprofessorin Isabelle Graw erinnerte daran, dass sich dieses Credo als kompatibel mit dem „Neuen Geist des Kapitalismus“ erwiesen hat, wie ihn die französischen Soziologen Luc Boltanski und Ève Chiapello in ihrem gleichnamigen Werk 1999 beschrieben.

Selbstbestimmung und Eigenverantwortung, so Graw, seien längst zu ökonomischen Tugenden geworden. Das Ideal einer autonomen Kunst erleichtere also nicht nur deren Vermarktung, sondern korreliere zudem mit den Werten dieser neuen Ökonomie. Selbst die nicht ganz so theoriefeste AdK-Präsidentin Meerapfel winkte ab: „Autonomie existiert nicht“ konstatierte sie das Netz ihrer Abhängigkeiten – von der Genrewahl über die Geldgeber bis zu den Mitarbeitern.

Auch der schillernde Begriff „Schönheit“ führt in diverse Schieflagen. Nicht nur, weil „Beauty“, wie der gerade verstorbene Jazz-Musiker Ornette Coleman einmal eines seiner Alben betitelte, „a rare thing“ ist. Zur ubiquitären Ressource des konsumistischen Alltags geworden, hat sie ihr einst subversives Potential womöglich längst eingebüßt. Und wie in einen neomystischen Tonfall zurückfallen kann, wer sie rehabilitieren will, demonstrierte der Philosoph Christoph Menke, als er dem Kunstwerk eine außerökonomische „Kraft“ zubilligen wollte, mit der es „Macht über uns“ habe.

Ob nun das „Gramsci-Monument“, das der Schweizer Künstler Thomas Hirschhorn 2013 in New York errichtete, den „Dritten Weg“ zwischen dem Edelgrau des zeitgenössischen Biennale-Seminarismus, gut gemeinter Partizipationsfolklore und dem obsolet gewordenen „Schönen“ à la Rilkes Duineser Elegien weisen könnte, wie es Christoph Bartmann, Leiter des dortigen Goethe-Instituts behauptete, war umstritten in Berlin. Den einen schien Bartmanns „revolutionäre Bruchbude zwischen Scheitern und Utopie“ zu Ikea-trashig und damit unschön, den anderen schien das Gemeinschaftsforum in Kunstform in den Forest Houses in der New Yorker Bronx die Inkarnation der utopischen Melancholie. Die Diskussion über das Verhältnis von Kunst und Politik wird also immer, immer weitergehen. Aber vielleicht lässt sich Schönheit sowieso nur dialektisch verstehen. Und es braucht, um „das Ästhetische politisch zu denken“ einfach einen neuen Punk.

 

Ingo Arend

siehe auch www.goethe.de

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Film- und Fotoinstallation von Gusmão + Paiva in der Ausstellung RAY Fotografieprojekte 2015

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João Maria Gusmão & Pedro Paiva, Ausstellungsansicht IMAGINE REALITY RAY 2015 Fotografieprojekte Frankfurt/Rhein­Main, 2015 Foto; Axel Schneider © João Maria Gusmão & Pedro Paiva, Courtesy Sies + Höke Galerie, Düsseldorf, MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main

Gusmão + Paiva: Von der Magie der Wirklichkeit

„Imagine Reality“ – so lautet der Titel der Hauptausstellung der „RAY Fotografieprojekte 2015“.
Im Rahmen der Schau ist im Frankfurter Museum für Moderne Kunst eine neue Film- und Fotoinstallation von Gusmão + Paiva zu sehen.
Über eingebildete Realitäten, optische Täuschungen und ekstatische Voodoo-Tänzer im Werk des portugiesischen Künstlerduos.

„Grüne und rosa Streifen und ein hellblaues Kreuz auf schwarzem Hintergrund“, „Einfaches violettes Kreuzmuster“, „Schwache Apricot-Streifen und blaue Bänder auf Schwarz“. Die Titel der jüngsten Arbeiten von Gusmão + Paiva sind so demonstrativ funktional, als wollten sie jeden Anschein von Bedeutung von sich weisen. Die übereinander gelegten, pastellenen Folien wirken wie Experimente in Sachen Farbe, Form und Maßverhältnissen. Sie erinnern an Küchenhandtücher oder Stoffproben im Muster von Schottenkaros.

Erst bei näherem Hinsehen geht von dem Geflecht unterschiedlich langer Vertikalen und Horizontalen ein Irritationseffekt aus: Die Linien scheinen nicht mehr gerade, ihre Konturen beginnen vor den Augen zu tanzen, die Kreuzungspunkte der Linien verdunkeln und verdichten sich, sie mischen sich auch nicht nach den Regeln der Farblehre. „Wie sanft ist doch die Täuschung“ – die politische Methode, die der italienische Philosoph Niccolò Machiavelli einst pries, ist auch eines der Erfolgsgeheimnisse der Kunst.

 

João Maria Gusmão (geboren 1979) und Pedro Paiva (geboren 1977) wurden durch ihre geheimnisvollen Filme bekannt. Auf 16-mm Celluloid-Filmmaterial gedreht, verbinden diese Werke in Ästhetik und Choreografie Referenzen an den Stummfilm mit Anleihen an wissenschaftliche Schulfilme der 1960er und 1970er Jahre. Die 16 nüchternen Fotografien, die sie nun im Rahmen der RAY Fotografieprojekte 2015 im Frankfurter Museum für Moderne Kunst (MMK) präsentieren, stehen nur scheinbar im Gegensatz zu dem vorherigen Œuvre des portugiesischen Künstlerpaars, das in Lissabon Malerei studiert hat.

Denn um eine „Imagined Reality“, um eine eingebildete Realität, geht es in allen ihren Werken. So wie sich die geometrischen Streifen in ihren Fotografien zu bewegen scheinen, entspricht das dem Prinzip der Künstler: Aus der unspektakulären, nichtfiktionalen Realität unmerklich eine neue, andere Realität erwachsen zu lassen. Nicht umsonst haben sie eines ihrer Bücher Teoria Extraterrestre (Mousse Publishing, Mailand, 2014/15) genannt. Dahinter verbirgt sich ihre Annahme, dass es Dinge gibt, die „aus jeder Ordnung fallen“.

Mit ihren jüngsten Arbeiten kehren Gusmão + Paiva zu ihrem ursprünglichen Genre zurück, wenn auch mit Hilfe der Fotografie. Das fotografische Verfahren ermöglicht ihnen die Täuschung, die mit der Malerei nicht gelänge. Sie haben unterschiedlich farbige Flächen fotografiert und die Negative mehrfach belichtet, bis der gewünschte Effekt eintrat. Damit variieren sie ein beliebtes Motiv der zeitgenössischen Kunst, das von den minimalistischen Liniengeflechten der amerikanischen Malerin Agnes Martin bis zu den psychedelischen Streifenbildern der britischen Op-Art-Malerin Bridget Riley reicht. Auch bei Gusmão + Paivas Arbeiten entsteht ein Gefühl visueller Instabilität.

Der innere Zusammenhang von Gusmão + Paivas Fotografie und ihren Filmen lässt sich an zehn Filmen studieren, die die neuen Fotografien im MMK flankieren.. Der geisterhafte Effekt, der ihr Werk durchzieht, ergibt sich aus einer gegenläufigen Machart. Die Künstler nehmen ihre Sujets mit einer Geschwindigkeit von 3000 Bildern pro Sekunde auf und verlangsamen das Filmmaterial während des Screenings wieder auf die normalen 24 Bilder pro Sekunde.

Die Motive dieser Kurzfilme sind unspektakulär und isoliert von jedem sozialen Kontext: Eine endlos rotierende Wassermühle (Water Mill, 2012), ein Truthahn, der vor einem Landschaftsbild steht und Körner pickt (Cassowary, 2010). Neben solcher Poetisierung des Alltäglichen thematisieren Gusmão + Paiva auch Fragen zu Natur und Wissenschaft. In Fried Egg (2008), eines ihrer berühmtesten Videos, sieht man, wie ein Speigelei gegart wird. Dieser Film aus der Serie On Meteorics , in dem für ihre Arbeiten typischen Slow-Motion gedreht, fungiert als quasi-wissenschaftliche Demonstration der Philosophie der antiken Atomisten und ihrer Teilchenlehre. So schrieb Demokrit im 4. Jahrhundert vor Christus: „Nur scheinbar hat ein Ding eine Farbe, nur scheinbar ist es süß oder bitter; in Wirklichkeit gibt es nur Atome und leeren Raum.“

 

Immer ist das Werk der Künstler eingebettet in ein reiches, philosophisches Referenzsystem von Platon bis Popper. Experiments And Observations On Different Kinds Of Air – der Titel der Installation aus 35 Kurzfilmen und 3 Camerae Obscurae, mit der Gusmão + Paiva Portugal auf der 53. Biennale von Venedig 2009 vertraten waren, bezog sich auf das gleichnamige Werk des amerikanischen Philosophen und Physikers Joseph Priestley, der im 18. Jahrhundert erstmals die Darstellung und Wirkung des Sauerstoffs beschrieb. In dem Film The Soup (2009) versucht eine Affen-Familie Kartoffeln aus dem kochenden Wasser eines Kochtopfs zu ziehen. Der lebende Fisch, der in dem Video Cowfish (2011) auf einem Teller liegt, nach Luft schnappt und mit den Flossen schlägt, wirkt wie der Beweis, dass ein Zuviel an Sauerstoff zum Tode führen kann. Zugleich sieht er so aus, als gelänge ihm jeden Moment etwas Unmögliches: Abheben und Davonfliegen.

 

So sehr auch Gusmão + Paivas Arbeiten zwischen Mythos und Wissenschaft oszillieren, immer werfen sie die Frage nach den Paradoxien der Realität, nach der Natur und den Bedingungen der Wahrnehmung, der Genese und der Objektivität von Visionen und Erscheinungen auf. Mitunter erinnern ihre Filme an Bewegungsstudien der frühen Wissenschaftsfotografie. In dem knapp dreiminütigen Video Getting into bed (2011), dem Remake einer Edward Muybridge-Arbeit von 1887 mit dem Titel Woman getting into bed, sieht man, wie eine nackte Frau langsam auf ein Bett zugeht, sich hineinlegt und zudeckt: Geister- und Wissenschaftsfilm zugleich. Das gelbe Eidotter in dem Video Fried Egg ist sowohl eine Anspielung auf das menschliche Auge als Wahrnehmungsorgan als auch auf den Himmelskörper Sonne. Es kommt immer auf den Blickwinkel an, aus dem man auf die Dinge schaut.

Gusmão + Paivas Arbeiten sind ein bemerkenswerter Kontrapunkt zu dem aktuellen Trend der Adaption wissenschaftlicher Forschung durch die Bildende Kunst. Wo die „Wissenskünste“ ihren Hang zur Objektivierung ausleben, verfolgt das Duo seine „Parawissenschaft“, spielt mit dem Opaken und Mysteriösen. Den Titel ihres 2012 erschienen Buches muss man programmatisch lesen: Abissology: Theory of the Indiscernible (Abgrundwissenschaft. Theorie des Nichtwahrnehmbaren). Diese „Wissenschaft“ will keine definitive Wahrheit proklamieren. Sie rückt das Unstabile aller Erscheinungen, rückt das Unbewusste in den Vordergrund. Die 2009 von den Künstlern gegründete International Society of Abissology als „main platform for production, edition and promotion of Abissological research and associates“ pflegt sogar eine eigene Facebook-Seite.

 

Diese „Abissology“ markiert keine Rolle rückwärts zu Mythos, Esoterik oder Okkultismus. Auch wenn sie in ihrem jüngsten, ausnahmsweise 43 Minuten langen Video Papagaio (2014) dem Voodoo-Kult der Jambi in São Tomé in Neu-Guinea nachgehen. Mit Hilfe von Alkohol, Zigaretten und der Gegenwart der Toten geraten die Tänzer in der Dunkelheit in Entrückung und Ekstase. Es ist genau diese Erfahrung des Irrealen die „Papagaio“ mit ihren neuen Fotografien verbindet. Und wie um zu demonstrieren, dass es auch in Zeiten der Post-Internet-Art keiner digitalen Wunderwaffen bedarf, um ein Fenster zu der Welt hinter der Welt aufscheinen zu lassen, haben sie diese Arbeiten analog und manuell produziert.

Ingo Arend

Text zuerst erschienen in ART MAG

 

AUSSTELLUNG

RAY Fotografieprojekte

Imagine Reality

20.06. – 20.09. 2015

Fotografie Forum Frankfurt

Museum Angewandte Kunst, Frankfurt

MMK Museum für Moderne Kunst, Frankfurt

Alle Informationen zum Programm von RAY finden Sie hier.

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5. Thessaloniki-Biennale: Die Kuratorin Katerina Gregos über Griechenland, Antonio Gramscis Humanismus und die Rolle der Kunst in historischen Krisensituationen

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Wenn alle Fronten durcheinandergeraten: Bild aus Pavel Peppersteins Wasserfarben-Zyklus “EUROPE IN TROUBLE” – 2013 (Foto: Ingo Arend)

„Kunst ist ein Akt der Großzügigkeit“

Ingo Arend: Optimismus des Willens, Pessimismus des Intellekts – ist der Titel Ihrer Ausstellung für die 5. Thessaloniki-Biennale ein Wunsch an die griechische Regierung, an Europa oder an die Kunst?

Katerina Gregos: Zu allererst ist es ein Wunsch für die Gesellschaft. Für die griechische, aber auch für alle Gesellschaften, die eine Krise durchlaufen. Immer sind sie zerrissen zwischen ihren Wünschen und der Realität. In Griechenland gab es diesen Optimismus bei dem jüngsten Regierungswechsel. 40 Jahre sind wir von unfähigen, korrupten und nepotistischen Regierungen regiert worden, ob sie nun konservativ oder sozialistisch waren. Sechs Monate später bin ich deutlich weniger optimistisch. Für die Kunst gilt das nicht. Da sind der Optimismus des Willens und die radikale Imagination fast immer schon am Werk.

Haben Sie Angst vor dem Bankrott Griechenlands?

Davor hat jeder Angst. Aber er wird nicht stattfinden. Ich bin keine Politikerin oder Ökonomin, ich bin Kunsthistorikerin. Aber das Defizit ist derart groß, dass Europa Griechenland nicht erlauben wird, pleite zu gehen. Da würden zu viele Leute zu viel Geld verlieren.

Halten Sie die so genannte griechische Krise auch für den „Irak-Krieg der Finanzwelt?“

Die Formel zielt wohl auf den kolonialistischen Unterton der Verhandlungen. Natürlich spielt ein gehöriges Maß Interventionismus eine Rolle. Auch das Prinzip Souveränität wird fragwürdig, obwohl die Regierung Tsipras ein demokratisches Mandat hat. Lassen Sie es mich so sagen: Wir erleben jetzt den Antagonismus zwischen Leihgebern und Gläubigern. Das ist eine paradoxe Situation. Zumal mit dieser Praktikums-Regierung in Athen. Und niemand findet in dieser Situation eine Sprache des Kompromisses. Die wäre aber notwendig, weil die Krise eine humanitäre und nicht nur eine ökonomische ist. Das vergessen wir oft, wenn wir von den Milliarden und dem Defizit reden. 30 Prozent der griechischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze. Das Erziehungs- und das Gesundheitswesen sind zerstört, die soziale Öffentlichkeit fällt auseinander.

Und daran ist nur die EU schuld?

Wir müssen auch von der Verantwortlichkeit der Griechen reden, die jahrelange für diese Leute stimmten, weil sie einen Job im öffentlichen Sektor haben wollten. Es wäre der historische Moment für Alexis Tsipras, den jetzt umzubauen. Ich sehe aber nicht, dass er es tut. Ich bin bestimmt nicht auf der Seite des IMF, der EZB und der Troika. Aber wenn sie sich Geld leihen, müssen sie es auch zurückzahlen. Andererseits: Mich erinnert die ganze Situation doch sehr an die Subprime-Morgan-Krise um 2007 in den USA. Die Banken liehen Geld an Leute, von denen sie wussten, dass sie auf Risiko spielten.

Sie sind Griechin und leben in Brüssel. Das bringt eine besondere Perspektive mit sich. Behandelt die EU Griechenland mit Respekt?

Respekt ist nicht das richtige Wort, wenn es um harte Fakten geht. Ich würde das Wort „harshness“ benutzen: Europa zeigt Härte, wo man Solidarität erwarten würde. Genau damit wurde Deutschland nach dem 2. Weltkrieg aufgebaut. Nicht nur mit dem Marshall-Plan. Da herrscht eine historische Amnesie. Deutschland hatte auch Kriegsschulden, die nie abbezahlt wurden.

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Anfang und Ende liegen in Europa nahe beieinander: Nikos Navridis Drehtür-Installation “REVOLVING DOOR” /2015/ am Eingang der 5. Thessaloniki-Biennale. (Foto: Ingo Arend)

Sollen wir die griechischen Schulden einfach vergessen?

Mich stört, dass wir nur von Geld reden. In ganz Europa ist etwas falsch mit der Ökonomie, dass wir derart von Schulden abhängig sind. Das ganze neoliberale Modell hat Europa infiziert. Jetzt müssen wir erleben, wie die Errungenschaften, die nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut worden sind, abgebaut werden: der europäische Sozialstaat. Es gibt keine perfekte Utopie. Aber Europa hat das beste Modell einer Gesellschaft hervorgebracht, das auf sozialen Zusammenhalt basiert. Und das wird jetzt zerstört. Um wie zu werden? Amerika? China?

Was ist in Europa größer? Das ökonomische oder das demokratische Defizit?

Beide sind gleich groß. Die Leute wählen nur noch aus ökonomischen Gründen: Sie wollen nur noch mehr Geld und weniger Steuern. Niemand fragt mehr nach besserer Erziehung oder einem besseren Gesundheitswesen.

Im letzten Jahr haben sie in Brüssel eine Schau mit dem Titel „No Country for young men“ kuratiert, die die schlechten Perspektiven in ihrer Heimat thematisiert. Hat sich die Lage verbessert, seit die Syriza-Regierung im Amt ist?

Nein. Wir hatten alle diese Erwartung auf einen radikalen Wechsel. Ich bin nicht sehr beeindruckt von dem, was ich nun sehe. Und ich gehöre zu denjenigen, die glücklich über den Wahlausgang waren. Ich sehe eine Wiederholung derselben müden politischen Formeln. Es sieht nicht so aus, als ob sie einen ökonomischen Plan hätten. Und ich sehe nicht, dass sie den bürokratischen Staat anfassen.

Kann man unter diesen Umständen überhaupt eine Kunstausstellung machen, die sich nicht mit der konkreten politischen Situation befasst?

Ich könnte so eine Ausstellung nicht machen. Die Krise ist so groß und durchdringt unser ganzes Leben, dass eine formale Kunstausstellung, sagen wir zur Zukunft der Skulptur, keinen Sinn machen würde. Mich interessiert Kunst im Zusammenhang mit der Gesellschaft.

Sie gelten als politische Ausstellungsmacherin. Was ist die Rolle von Kunst in einer so außerordentlichen Situation?

Für mich ist Kunst die letzte Bastion der Freiheit des Ausdrucks. Kunst ist vielleicht der letzte Ort nicht regulierten Denkens und Handelns in einer Zeit wo alles kontrolliert und überwacht wird. Ich bevorzuge politische Kunst, die Ungleichheit beleuchtet, problematisches Handeln herausfordert, sich als Korrektur versteht. Die Frage ist: Wer setzt den dominierenden Master-Narrativen der Macht etwas entgegen? Kunst muss eine Art Gewissen der Gesellschaft sein und uns das zeigen, von dem andere nicht wollen, dass wir es sehen. Kunst ist aber auch ein Akt der Großzügigkeit, der Kommunikation und des Teilens. Sie bringt Menschen zusammen, schafft eine Atmosphäre des Zusammenhalts: All das, was gerade nicht passiert.

Antonio Gramsci fungiert als Titelgeber ihrer Schau- Warum ist er wichtig für sie?

Ich habe mich immer für Denker interessiert, die von der linken Seite des politischen Spektrums kommen. Gramsci hat zwar die Kommunistische Partei und den Eurokommunismus mit begründet. Mich hat aber immer seine humanistische Seite, sein Altruismus inspiriert. Diese Tugend vermisse ich bei vielen Marxistinnen und bei der praktischen politischen Umsetzung ihrer Theorien. Ihn müssen wir uns in einer Situation neu aneignen, in der Politik extrem bürokratisch und technokratisch geworden ist.

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Der Umbruch gebiert seine eigene Kunst: Ganzeers Sammlung ägyptischer Protestplakate “4 YEARS OF DREAMING” /2011-2014/ (Foto: Ingo Arend)

 

Versuchen Sie deswegen den Besucher der Biennale-Ausstellung von Anfang an in eine Art Gramsci-Zustand zu versetzen?

Die Ausstellung ist kein Tribut an Gramsci. Aber Gramscis Zitat vom Optimismus des Willens und dem Pessimismus des Intellekts bezeichnet sehr präzise die Sackgasse, in der wir uns gerade befinden. Sie betreten die Ausstellung durch eine Arbeit des österreichischen Künstlers Peter Friedl: Ein langer Tunnel, der den Tunnelblick simuliert, den viele Griechen oder die Politiker in Brüssel haben. An sein Ende hat Friedl ein anderes Zitat als Leuchtschrift gesetzt, in der es um die Rolle der Fantasie in der Politik geht: Die Idee des Lichts am Ende des Tunnels.

Nennen Sie uns ein Kunstwerk aus der Ausstellung, das für Gramscis „Optimismus des Willens“ steht?

Die Arbeit „Unearthing Disaster„ von Angela Anderson und Angela Melitopoulos. Sie haben eine Videorecherche über eine große Goldmine in den Skouries-Bergen auf der wunderschönen Halbinsel Halkidiki gemacht, hier ganz in der Nähe von Thessaloniki. Da beginnen sie zu verstehen, dass es sich lohnt, gegen den Desaster-Kapitalismus zu kämpfen.

In Ihrem kuratorischen Statement sprechen Sie von der Notwendigkeit des „dreaming forward“ auch und gerade in einer Krisensituation. Was ist ihr persönliches „Vorwärts-Träumen“?

Ich muss mir eben immer wieder einen Horizont vorstellen, der besser ist als der, den wir jetzt haben.

Interview: Ingo Arend

 

 

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Katerina Gregos (Foto © David Plas)

Katerina Gregos, geboren 1967 in Athen, lebt als Kuratorin und Autorin in Brüssel. Im Sommer kuratierte sie den Belgischen Pavillon auf der Venedig-Biennale, 2012 die Ausstellungen „Newtopia – The State of Human Rights“ in Mechelen und als Co-Kuratorin die 9. Manifesta in Genk. Seit 2014 ist sie auch Direktorin der Art Brussels.

Die Thessaloniki-Biennale geht zurück auf die „Bewegung der 5 Museen“ in der zweitgrößten Stadt Griechenlands. Ziel war, die Stadt und das Land von der Fixierung auf die antiken Traditionen zu lösen und zur zeitgenössischen Kunst aufzuschließen. Die 1. Thessaloniki-Biennale kuratierte Catherine David 2007 unter dem Motto: „Heterotopias“.

Katerina Gregos wählte für die Hauptausstellung der 5. Biennale das Antonio Gramsci entlehnte Motto:

Between the Pessimism of the Intellect and the Optimism of the Will“.

45 Künstler aus 25 Ländern zeigen auf dem Messegelände der Stadt ihre Werke noch bis zum 30. September 2015.

 

5TH THESSALONIKI BIENNALE OF CONTEMPORARY ART

June 23 – September 30, 2015

website www.greekstatemuseum.com/

 

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Gut versteckt im Messeglände von Thessaloniki: Der Eingang zur 5. Thessaloniki-Biennale. (Foto: Ingo Arend)

 

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Über die Zukunft der Weltkunstschau Documenta aus Anlass ihres 60. Geburtstages

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Auf der Suche nach neuen Perspektiven für die Documenta: Das Werk “Landschaft im Dia” des Künstlerkollektivs “Haus-Rucker- Co” von der Documenta 6 / 1977 am Eingang der Kasseler Karlsruhe. Foto: Ingo Arend

Nach den Beaux Arts

Arbeit in der Verhandlungszone. Anmerkungen zur Zukunft der Weltkunstschau Documenta aus Anlass ihres 60. Geburtstages

Kassel. Kairo. Kabul, Banff. Als Carolyn Christov-Bakargiev 2012 die 13. Documenta im Jahr 2012 über fast die ganze Welt verteilte, war das nicht nur ein Marketinggang. Mit der topologischen Vierteilung vollzog die streitlustige, amerikanisch-italienische Kuratorin eine bewusste Geste. Für sie drückte sich darin das “emotionale, politische, ethische Verständnis dafür aus, dass niemand der Nabel der Welt ist”.

Die Kunstfreunde in Nordhessen scheinen das überhört zu haben. “Kassel ist der Documenta zur Heimat geworden und heute Teil unserer Identität“, erklärte Bertram Hilgen, der Oberbürgermeister der Stadt, zum 60. Geburtstag der Documenta in der vergangenen Woche.

Was konnte der SPD-Politiker damit gemeint haben? Hatte sich Kassel zu der Weltoffenheit und Grenzüberschreitung durchgerungen, für die die Documenta steht? Oder wollte Hilgen sie zum Tool der regionalen Identitätsbildung umdefinieren?

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Few Notes from an Extellectual – 
auf dem Podium v.l.n.r. Carmen Amor, Adam Szymczyk, Hiwa K. (Foto: Holger Jenss, 2015)

Vielleicht war es auch einfach nur die Flucht nach vorn: Jahrzehntelang hatten die Bewohner der Provinzmetropole gereizt auf die Herausforderungen der internationalen Kunstavantgarden reagiert. Ob nun Walter de Maria 1977 einen „Erdkilometer“ in den Platz vor dem Kasseler Fridericianum bohrte.

Oder ob Joseph Beuys 1982 mit 7000 Eichen die „Stadtverwaldung“ Kassels in Angriff nahm. Kurz vor dem Jubiläum hatten Unbekannte in der Karlsaue den Korbinians-Apfelbaum zerstört, den Carolyn Christov Bakargiev und der Künstler Jimmie Durham 2012 zum Gedenken an den KZ-Häftling gepflanzt hatten.

Doch ausgerechnet in dem Moment, in dem „die Kasseler die documenta inzwischen lieben“ (Hessisch-Niedersächsische Allgemeine) denkt die Weltkunstschau ans Abwandern. Stichwort: Documenta in Athen. Das große Fest jedenfalls, dass Kassel seiner wichtigsten Kulturinstitution ausrichtete, kann nicht über die schleichende Identitätskrise hinwegtäuschen, die an ihr nagt.

Geistige Frühverrentung ist nicht so sehr die Gefahr, der sich die Documenta gegenübersieht. So wie sich die Schau bei jeder Ausgabe neu erfindet – programmatisch, organisatorisch, personell – dürfte ihr eine Zukunft weit jenseits der Rente mit 67 sicher sein. Und die Vokabel „Erfolgsgeschichte“, mit der die Schau stereotyp belegt wird, liegt rein numerisch auf der Hand.

Besuchten 1955 um die 130.000 Menschen Arnold Bodes erstes „Museum der Hundert Tage“, konnte die 13. Documenta vor zwei Jahren mit knapp 800.000 Besuchern ihren bisherigen Rekord vermelden. Selbst zur wesentlich längeren Biennale in Venedig pilgern nur rund 470.000 Kunstfreunde.

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Das 100-Tagebuch: Documenta (13)

Von Ingrid Mylo und Felix Hofmann

mit einem Vorwort von Georg Seeßlen

 

getidan Verlag (2015)

ISBN-10: 3981671503

ISBN-13: 978-3981671506

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Zu welch‘ jugendlichem Leichtsinn die alte Tante immer wieder fähig ist, hatte sich im vergangenen Jahr gezeigt, als sich Adam Szymczyk, der neue Kurator der Documenta 14, entschloss, mit der Schau nach Athen auszureißen. „Zustimmung macht schläfrig“, kommentierte der polnische Ausstellungsmacher trocken.

Im krisengeschüttelten Griechenland schien ihm Arnold Bodes Prinzip der Hilfe zum geistigen Wiederaufbau eher am Platz als ein schal gewordenes Ritual zu wiederholen: Die Pilgerfahrt ins Nordhessische, bei der sich Kunstfreunde alle fünf Jahre der Illusion hingeben, den definitiven Stand der Weltkunst zu erfahren.

Symczyk ist freilich nicht der einzige, der sich leise fragt: Was soll eigentlich noch kommen nach 13 Documentas? Die geistigen Nachholbedürfnisse der Nachkriegszeit sind befriedigt, die Aussöhnung mit der von den Nazis geschmähten Moderne hat Arnold Bode geschafft.

Mit dem Schweizer Ausstellungsmacher Harald Szeemann trat auf der Documenta 5 der Kurator als Künstler auf den Plan. Die Französin Catherine David revolutionierte 1997 mit der Documenta X das Kunstfeld radikal mit Film, Diskurs und Politik.

Okwui Enwezor verabschiedete mit seiner postkolonialen Documenta 11 die Hegemonie des Kanons der Westmoderne. Und den letzten Schritt ging die Documenta 13. Mit Ökologie, Feminismus, Wissenschaft und nichtmenschlichem Leben propagierte Carolyn Christov-Bakargiev einen final erweiterten Kunstbegriff.

Spätestens in Pierre Huyghes wucherndem Biotop der „Post-Art“ in der Kasseler Karlsaue, bei dem auf den ersten Blick nicht festzustellen war, was gestaltet und was schon immer da war, durch das ein Hund mit rosafarbenem Fell streifte, in dem sich die Grenze zwischen Kunst und Leben, Kunst und Natur zu verflüchtigen schien, stellte sich die Frage: Welches ästhetische Paradigma sollte eine Documenta jetzt noch durchsetzen, welche letzte Grenze auflösen?

Mit seiner Athen-Entscheidung hat Adam Szymczyk den schon mit Okwui Enwezors Diskurs-„Plattformen“ angeschobenen Trend zur Deterritorialisierung der Documenta weitergetrieben. Der Schritt war spektakulär. Weicht der Grundsatzfrage nach der Zukunft der Kunst-Großausstellungen in einer Welt mit 200 Biennalen aber aus.

Zwar kann sich Deutschland glücklich schätzen, dass es nach dem finalen Sieg von Schäubles und Merkels Austeritätspolitik gegenüber Griechenland nun – unversehens wie unverdient – über ein Symbol der kulturellen Solidarität mit der Wiege der europäischen Demokratie verfügt, das die Politik so demonstrativ verweigerte.

Zum Prinzip erhoben würde dieser Ansatz die Documenta freilich in eine Art ästhetische Rapid Deployment Force verwandeln. Die Krisenregionen der Welt, für die „Collapse and Recovery“ – das Motto, das Carolyn Christov-Bakargiev für ihren Documenta-Einsatz in Kabul wählte – mindestens ebenso gelten könnten wie für Griechenland, lassen sich jetzt schon auf der Landkarte ankreuzen.

Das Szymczyk dergleichen vorzuschweben scheint, zeigte sich auf dem Kasseler Kongress zum Documenta-Jubiläum am Wochenende. Statt eines programmtischen Schlusswortes ließ der zurückhaltende Kurator einen Videostreifen vorführen, der Szenen aus einer nahöstlichen Krisenregion zeigte: Während eine panische aufgeregte Menschenmenge unter Beschuss gerät und sich mit blutenden Beinen in Sicherheit zu bringen versucht, hören ein paar Mundharmonika-Spieler nicht auf zu musizieren.

Ganz auf Groß-Ausstellungen à la Documenta zu verzichten, nur weil sie dem schnellen Kunstkonsum Vorschub leisten, wie es Catherine David vorschwebt, scheint aber auch keine gute Idee zu sein. Die heutige Vizechefin des Pariser Centre Georges Pompidou plädierte in Kassel dafür, sich stattdessen um „kleinere Projekte in spezifischen Kontexten“ zu kümmern.

Zum Beleg für diese Strategie hatte sie eine Gruppe chinesischer Künstler um den Pekinger Installationskünstler Wang Jianwei eingeladen. Die Gruppe hat sich von Mao Zedongs „Langem Marsch“ von 1934 / 35 zu einem ästhetischen Projekt „Long March Space“ in Chinas Provinzen inspirieren lassen.

Denn Biennalen, wie auch die Documenta eine ist, buchstabieren nicht nur globale Probleme im lokalen Kontext. Sie verteilen nicht nur die „diskursive Autorität“ (Okwui Enwezor) in Sachen Kunst neu. Sie sind auch unverzichtbare „Maschinen kultureller Reproduktion“ (Oliver Marchart). Sie bündeln die öffentliche Aufmerksamkeit für relevante Themen und initiieren so gesellschaftliche Änderungen – mit ihnen arbeitet die Gesellschaft an sich selbst.

Welch grundlegenden Gestaltwandel die Kunst in diesen Maschinen durchlaufen könnte, deutete sich schon mit „Erweiterte Denkkollektive“, dem Titel der von Dorothea von Hantelmann, der Documenta-Gastprofessorin an der Kasseler Kunsthochschule konzipierten Veranstaltung an.

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Dorothea von Hantelmann. Documenta-Gastprofessorin an der Universität Kassel und Organisatorin der Konferenz. (Foto: Holger Jens, 2015)

Die Formel geht auf den polnischen Mediziner und Mikrobiologen Ludwig Fleck zurück, der als Lemberger Jude die KZs in Auschwitz und Buchenwald überlebte. Der Harvard-Wissenschaftshistoriker und Physiker Peter Galison hat dessen Idee von in Denkkollektiven ausgeprägten „Denkstilen“ zur Grundlage eines faszinierenden Cross-Over-Projekts zwischen Kunst und Naturwissenschaft gemacht.

In einem jahrelangen, gemeinsamen „Denkkollektiv“ mit dem südafrikanischen Künstler William Kentridge half er, dessen Video-Installation „The Refusal of time“ zu entwickeln, die auf der Documenta 13 gezeigt wurde. Spätestens mit diesem Projekt wird deutlich, dass die Kunst womöglich endgültig in die „Zeit nach den Beaux Arts“ eingetreten ist, die Catherine David schon 1997 vorschwebte. In ihr ist Kunst „Arbeit in der Verhandlungszone“.

Ingo Arend

Dieser Artikel erschien zuerst in: taz, 20. 07. 2015

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James LeeByars, Calling German Names (1972). Foto: Krings. © documenta Archiv

 

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Die Marrakech-Biennale in der ifa-Galerie Berlin

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Leila Alaoui: Übergänge, 2013
 (Videostill, Installation
© Leila Alaoui)

 

Die Alchemie des Unvorhersehbaren

Ausstellung „Carrefour / Treffpunkt“ hat die Kuratorin Alya Sebti ihren Versuch überschrieben, eine Art Essenz der bislang fünf Marrakech-Biennalen zu präsentieren. Die ifa-Galerie hat diese Essenz jetzt nach Berlin geholt.

Drei Tafeln blau, so blau wie das Mittelmeer. Der Blick verengt auf die Wellen, darüber drei dunkle, menschliche Torsi. Aus einer Tonspur hört man Flüchtlinge ihre verzweifelte Lage resümieren. Zurückkehren? Weiterfahren? Bleiben?

„Crossings / Übergänge“ heißt die Videoarbeit der französisch-marokkanischen Künstlerin Leila Alaoui. Aus der Perspektive von Migranten aus der Subsahara lässt sie den Betrachter eine Flucht nachvollziehen. Ungewollt zeigt das Wort die Kehrseite des positiv gedachten Titels der Ausstellung in der ifa-Galerie, der Berliner Dependance des Stuttgarter Instituts für Auslandsbeziehungen.

„Carrefour / Treffpunkt“ hat Alya Sebti, die künstlerische Leiterin der vergangenes Jahr zum fünften Mal veranstalteten Marrakech-Biennale ihren Versuch überschrieben, eine Art Essenz der noch jungen Schau zu präsentieren. Darin wird die 1000 Jahre alte Stadt im Nordwesten Marokkos als „kultureller, geografischer und künstlerischer Knotenpunkt“ annonciert.

Alaouis sechsminütiges Video zeigt freilich, dass die nahe nordafrikanische Küste oft genug gerade nicht zum Zentrum wechselseitiger Kulturbegegnungen wird, sondern zur Rampe in ein einsames Grab. Für die Flüchtlinge, die im Mittelmeer sterben, gibt es höchstens einen Treffpunkt in der Unendlichkeit – des Todes.

Die Idee der kleinen Ausstellung ist interessant. Mit ihr will das vom Auswärtigen Amt finanzierte ifa Verständnis für die (von ihm unterstützten) Biennalen im Windschatten der großen Flaggschiffe wie Venedig wecken. Ungewollt demonstriert sie allerdings die Schwierigkeit, Idee und Atmosphäre einer Biennale zu vermitteln.

Die Biennalen der „zweiten Reihe“ sind besonders. Meist wachsen sie aus der Zivilgesellschaft am jeweiligen Ort, reflektieren kritischer, kreativer „glokale“ Problemlagen. „Man muss in einem Kontext arbeiten, man kann nicht außerhalb davon tätig sein“, begründete Hicham Khalidi, Alya Sebtis holländisch-marokkanischer Co-Kurator der 5. Marrakech-Biennale vergangenes Jahr, warum er die Biennale mit einer sozio-kulturellen Feldforschung in dem Land vorbereitete, das „Reporter ohne Grenzen“ auf Platz 136 der Skala für Pressefreiheit einordnet.

Derlei Kontexte können Besucher der Schau bestenfalls erahnen. Alya Sebti lockt glücklicherweise nicht mit den süßen Orientalismen, die einem bei dem Mythos Marrakech quasi auf den Lippen liegen. Die Dezentrierung und Öffnung des Selbst, auf die sie hinaus will, ist freilich sehr abgehoben.

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Max Boufatal: Der Eid des Aristoteles; der Eid des Hippokrates
 (links) (Der Eid des Aristoteles, galvanisierter Draht und Plastikgarn, 2010
 (rechts) Der Eid des Hippokrates, galvanisierter Draht, Kupferdraht und Korb, 2014
 © Max Boufatal)

Die zwei Masken aus Hartpappe und Draht des französischen Bildhauers Max Boufathal symbolisieren Sebtis Zentralidee nur recht allgemein. Und in dem nüchternen Ausstellungsraum hängt die Soundinstallation der deutschen Künstlerin Clara Meister „Singing Maps and Underlying Melodies“ seltsam in der Luft.

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Clara Meister: Singende Karten und geborgene Gesänge, 2014
 (Projekt und Performance mit marokkanischen Musikern, kuratiert von Clara Meister in Zusammenarbeit mit S.T.I.F.F. und Kamar Studios Morocco 
© Clara Meister)

Wer wissen will, wie die „alternative Kartierung“ Marrakechs mit Konzerten lokaler Musiker ausgesehen haben könnte, wird sich das anhand des Stadtplans, des achteckigen, aufklappbaren Modells der Medina von Marrakech und Musik aus Lautsprechern nur schwer vorstellen können. Und eher das Video der Aktion im Netz betrachten. Da zieht eine Gruppe von Musikanten durch die engen Gassen und überfüllten Märkte des historischen Altstadtquartiers.

Auch bei Saâdane Afifs „Souvenir: La leçon de géométrie“ entweicht das Entscheidende seiner Aktion. Die Kegel, Pyramiden und Quader, die er auf einem Tisch nebeneinander gestellt hat, sind zwar Symbole, die verschiedene Kulturen verbinden. Die Dynamik des von ihm initiierten Open-Air-Unterrichts in Marrakech im vergangenen Jahr, mit täglich wechselnden Lehrern und Publikum, transportieren sie nicht.

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Saâdane Afif: Der Geometrie-Unterricht, Marrakesch, 2014
 (© Foto: Max Glauner, Galerie Mehdi Chouakri, Berlin, Xavier Hufkens, Brüssel und Raeber von Stenglin, Zürich)

„Undress“ heißt schließlich eine Rauminstallation, bei der aus acht, im Raum verteilten Boxen Düfte von Bergamotte, Sandelholz und Orange entströmen. Die japanische Künstler Megumi Matsubara hat Reisen durch Nordafrika in poetische Geschichten übersetzt, aus denen ein Parfümeur wieder Duftkompositionen kreiert hat. Im Raum vermischen sie sich zu einem Meta-Parfüm, das die Künstlerin „La Japonaise“ genannt hat. Dessen Duft hängt aber immer von den Bewegungen der Besucher ab. Matsubara geht es um „Entblößung“ – aber hier wird auch die Alchemie des Unvorhersehbaren, die den „Treffpunkt“ auszeichnet, sinnlich.

 

Ingo Arend

taz 04-09-2015

 

Carrefour/Treffpunkt. Die Marrakech-Biennale und darüber hinaus.

ifa-Galerie, Linienstrasse 139, Di-S0, 14-18 Uhr. Noch bis zum 8. Oktober.

 

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Die gleichnamige ifa-Publikation

mit Texten von Alya Sebti, Bonaventure Soh Beng Ndikung, Angelika Stepken u.a.

hat 80 Seiten und kostet 7 Euro.

 

 

 

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14. Istanbul-Biennale

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“Es sind Momente wie diese, die die mitunter magische Anziehungskraft von Bakargievs Biennalen erklären.” Schimären aus einem Zwischenreich: Adrián Villa Rojas Skulpturen-Installation “The Most Beautiful Of All Mothers” am Privatstrand vor der Exil-Villa Leo Trotzkys auf der Ferieninsel Büyükada vor Istanbul. Foto: Ingo Arend

 

Mit Leo Trotzki durch den Salzkanal

Auf der 14. Istanbul-Biennale sorgt Ex-Documenta-Chefin Carolyn Christov-Bakargiev für esoterische und magische Momente.

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Zirkulierte unter Biennale-Kritikern: Ein Handzeller mit dem Logo der Biennale und der Aufschrift: “Bloodwater”. Foto: Ingo Arend

Bloodwater. Seit Monaten machte das Wort am Bosporus die Runde. Im Südosten zahlt die Türkei für den aufgekündigten Waffenstillstand mit den Kurden einen verheerenden Blut- und Bombenzoll. Ein unversöhnlicher Präsident beschwört am Grab toter Soldaten die Märtyrer der Nation. Istanbul ist zum Nadelöhr der weltweiten Flüchtlingsströme geworden. Entsetzt schaut das Land auf das Bild eines toten Flüchtlingskinds am Strand. Metaphorisch hat sich für türkische Intellektuelle der Bosporus längst blutrot gefärbt. Da wirkte das Thema „Saltwater – A Theory of Thought Forms“, das Carolyn Christov-Bakargiev, die Kuratorin der 14. Istanbuler Biennale über ihre Schau geschrieben hatte, plötzlich seltsam deplatziert: eine Mischung aus intellektuellem Luxus und platter Evidenz.

Schwarzes Meer, Bosporus, Marmarameer und Mittelmeer. Es lag nahe, Wasser, das Lebenselement der 12-Millionen-Metropole, einmal zum Thema der 1987 gegründeten Biennale zu machen. Bislang ist noch niemand auf diese naheliegende Idee gekommen. Dabei wird diese Brücke zwischen Europa und Asien genau dadurch definiert. Trotzdem klang es unfreiwillig sarkastisch, als Bakargiev im Vorfeld der Schau einer tief verwundeten Nation Gesundheitstipps gab. „Salzwasser“ schrieb sie in ihrem kuratorischen Statement, „heilt Atmungsprobleme und viele andere Krankheiten. Es beruhigt auch die Nerven“.

Stitched Panorama

Marwan Rechmaoui: “Säulen“-Serie, 2015. 14 Säulen: Metall, Beton und Mixed Media. Foto: Sahir Ugur Eren/IKSV

Dennoch ist die 14. Ausgabe einer der interessantesten Biennalen der Welt keine Übung in Esoterik und Hobby-Ozeanologie geworden. Was manche Beobachter befürchtet hatten; so wie Bakargiev seit Monaten ausgerechnet von der britischen Theosophin Annie Besant geschwärmt hatte. Das 1901 veröffentlichte Buch „Thought forms“ der Feministin und Freimaurerin, die zugleich aber auch Hinduismus und Ariertum erneuern wollte, erhob sie zu einem philosophischen Blueprint ihrer Schau. Wer Bakargievs zentrale Ausstellung im Istanbul-Modern-Museum betritt, steht nämlich gleich zu Beginn vor den geborstenen Säulen des libanesischen Künstlers Marwan Rechmaoui- Symbole für die Zerstörungen des Krieges und die prekäre Balance der Überlebenden.

 

Demokratischer Faschismus

Gleich danach folgt das Video „Imagination – III“. Darin hat die Künstlergruppe Artikişler Kolektifi Arbeiteraufstände in Ankara 2010 dokumentiert – drei Jahre vor den Kämpfen um den Gezi-Park in Istanbul. Im 1911 eröffneten Art-Nouveau-Hotel „Splendid Palace“ auf der idyllischen Ferieninsel Büyükada im Marmarameer lässt der südafrikanische Künstler William Kentridge in einer Video-Collage Leo Trotzki, von 1929-1933 im Exil in der Türkei, den „demokratischen Faschismus“ der dreißiger Jahre beschwören, den manche heute in der Türkei heraufdämmern sehen.

Wenige Meter weiter empfiehlt der brasilianische Künstler Cildo Mereiles im Ölbild „Project Hole to throw dishonest Politicians“ die ultimative Lösung der Probleme der Postdemokratie. Vor dem Präsidentenpalast in Brasilia sieht man ein kleines Loch, durch das man die unfähigen Politiker direkt in das magmatisch glühende Erdinnere entsorgen kann. Und die in schwarz, weiß und rot explodierenden Ölmalereien Vernon Ah Kees sind ein besonders gelungenes und sehenswertes Beispiel interkultureller Verständigung in Zeiten der Krise. Der australische Künstler hat das Gefühl von Hass, Trauer und Gewalt in Kunst zu fassen versucht, das er bei seinen Reisen durch den von Krieg und Gewalt besonders getroffenen Südosten der Türkei zu spüren bekam.

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Cildo Meireles: Projecto de buraco para jorgar politicos desonestos. Project hole to throw dishonest politicians.Öl auf Leinwand, 2011. Foto: Sahir Ugur Eren/IKSV

Es zeichnet die Istanbul-Biennale also aus, dass sie sich in einem Moment äußerster politischer Bedrängnis nicht zu plakativer Politkunst und billigen Gesten hinreißen ließ. Wie schnell man dabei von den Ereignissen überholt werden kann, hatte die 13. Istanbul-Biennale vor zwei Jahren demonstriert, als ihr Konzept des öffentlichen Raums vor dem Kampf um den Gezi-Park über Nacht zu einer Proseminarübung ausblich. Die politische Kunst, die Bakargiev in Istanbul präsentierte, überzeugt dagegen durch ihre Tiefenwirkung und ihr Formbewusstsein.

Die Skulpturen der iranisch-amerikanischen Künstlerin Sonia Balassanian sind eines der vielen Beispiele dafür, wie Bakargiev im Jahr der 100. Wiederkehr des Völkermords an den Armeniern dieses Tabuthema in der Türkei aufnimmt. Aus dem charakteristischen Tufa-Stein aus der Region der verlassenen armenischen Hauptstadt Ani hat sie Köpfe geformt, die an die deportierten armenischen Intellektuellen erinnern, die im April 1915 auf Geheiß der jungtürkischen Regierung deportiert und später im Südosten des Landes ermordet wurden.

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Sonia Balassanian: “Heads” in Tufa-Stein. 12 Elemente. 16. Februar 2015. Foto: Sahir Ugur Eren/IKSV

 

Zierelemente mit Knochen

Ein anderes Beispiel gibt der amerikanische Künstler Michael Rakowitz. Auf beklemmende Weise ruft der Chicagoer in seiner Arbeit „The flesh is yours, the bones are ours“ dieses im Lande immer noch umstrittene Tabuthema auf. In der griechischen Schule in Galata hat er Nachbildungen der Stuckaturen auf den Boden gelegt, die früher die Spezialität armenischer Handwerker war. Wer genau hinsieht, merkt, dass die geschwungenen Zierelemente auf den Deko-Stücken aus Knochen geformt sind.

Rakowitz war schon bei Bakargiev’s 13. Documenta in Kassel dabei. Geschickt schirmt sich diese Kuratorin mit einem Cordon Sanitaire guter Künstler gegen die Kritik ihrer unkonventionellen Thesen ab. In Istanbul sind sie alle wieder dabei: Pierre Huyghe, Anna Boghiguian, Theaster Gates. Mit diesem Wanderzirkus von outstandig talents demonstriert sie aber auch eine Art kuratorische Nachhaltigkeit gegen das neoliberale Kuratoren-Prinzip des Ex-und-Hopp: Jede Biennale wirft Szene und Markt ein paar schnell umjubelte, schnell wieder vergessene Unbekannte und Trends zum Fraß vor. Bakargiev arbeitet lieber mit longtime companions.

Und die enttäuschen sie nicht. Wieder einmal ist es alles andere als Standardware, was etwa der belgisch-mexikanische Künstler Francis Alÿs in Istanbul ablieferte. Sondern von einer stillen, poetischen Kraft, wie in seinem neuen Schwarzweiß-Film „The Silence of Ani“ Kinder aus Ostanatolien in den Grasfeldern der verlassenen, historischen armenischen Hauptstadt Vogelmelodien auf flötenähnlichen Instrumenten spielen.

Hinter diesen beeindruckenden Inkunabeln dekliniert Bakargiev, wie schon 2012 in Kassel, ihre posthumanen Obsessionen durch: Wissenschaft und Natur als der Kunst gleichberechtigte ästhetische Formen. Als Medium der „Methode Bakargiev“ fungiert dabei die Wunderkammer. In die Rotunde im Kasseler Fridericianum stellte sie vor drei Jahren Profanes neben Hochkulturelles.

 

Gallé und Cajal

In Istanbul stellt sie Gallé-Vasen mit ihren vegetabilen Ornamenten neben ein Buch Charles Darwins über Orchideen, die Neuronen-Zeichnungen des spanischen Naturforschers Santiago Ramón y Cajal und die Architekturzeichnungen des italienischen Bauingenieurs Raimondo Tommaso d’Aronco, der Ende des 19. Jahrhunderts zum Chefarchitekten von Sultan Abdülhamit II. avancierte. Deswegen finden die Besucher ein Buch des deutsch-österreichischen Naturforschers Karl von Frisch über den Tanz der Bienen, ein Schwarzweiß-Video des amerikanischen Naturforschers William Irvine über das Phänomen von Knotenbildungen in Flüssigkeiten oder die Bilder des brasilianischen Umweltaktivisten und Malers Frans Krajcberg.

Vor allem finden sich hier aber die Zeichnungen der britischen Sozialistin, Feministin und Theosophin Annie Besant (1847-1933). Dem 1901 erschienen Buch „Thought forms“ der Wissenschaftlerin, die Hinduismus und Ariertum erneuern wollte, hat Bakargiev den Titel ihrer Schau entlehnt. In 30 farbigen Zeichnungen lässt sich Besants Versuch nachvollziehen, den unsichtbaren „Denkformen“ – Bildern des Unbewussten, Unsichtbaren, Geahnten – einen ästhetischen Ausdruck zu verleihen. Natürlich ist es ein bisschen abseitig, Und wird am Ende Bakargiev darin Recht geben, Besant als eine Vorläuferin der malerischen Abstraktion einzustufen.

Die Natur ist schön, so lautet eine der Botschaften dieses, „Channel“ genannten Parcours, die Methoden der Wissenschaft sind es auch. Hartnäckig lotet Bakargiev solche Überlappungszonen aus, stellt die Grenzen zwischen Kunst und „Nicht-Kunst“ in Frage. Bakargievs Interesse an den Grenzgängern zwischen Wissenschaft, Parawissenschaft und Kunst birgt die Gefahr der Ästhetisierung des „bloß“ wissenschaftlich Gemeinten. Konfrontiert aber immer auch mit der Frage, wo die Kunst anfängt und wo sie aufhört.

Letztgültig entschieden ist mit Bakargievs Biennale natürlich nicht, ob wir uns von einem historisch gewordenen Begriff der Kunst verabschieden müssen – so erklärte sie jüngst ihr Anliegen auf einer Konferenz zum 60ten Jubiläum der (2012 auch von ihr kuratierten) Documenta. Wer das als Sakrileg am Allerheiligsten empfindet, sollte keine Biennale besuchen. Wo, wenn nicht hier sollte gegen den Strich der gängigen Paradigmen und Anschauungen argumentiert werden?

 

Smartfon im Salzwasser

Natürlich ist Bakargievs „Channel“ selbst eine „Thought Form“. Metaphorisch schließt er den Kanal Bosporus mit dem Salzionenkanal kurz, der für den Energiestoffwechsel der menschlichen Zelle überlebenswichtig ist. Er verlinkt also Topologisches, Biologisches und Philosophisches. Und Technikkritik und Natureuphemismus umspülen sich bei der streitlustigen Italoamerikanerin so wie Salz- und Süßwasser im realen Bosporus. Smartfone, hatte sie wiederholt gelästert, geben beim Fall ins Salzwasser den Geist auf, korrodieren (anders als in Süßwasser), der Mensch aber kann nicht leben ohne Salz. Leider loten zu wenige Arbeiten diesen (natur-)philosophischen Kern ihrer Schau wirklich aus.

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Die endgültige Formel für Salzwasser? Liam Gillicks Wandmalerei “Hydrodynamica Applied” an der Außenmauer des Kunstmuseums Istanbul Modern. Foto: Sahir Uhur Eren/IKSV

Das unaufhörlich Salzwasser pumpende Schlauchsystem, das die türkische Künstlerin Pinar Yoldas auf einem Boot auf Büyükada installiert hat, wirkt genauso hilflos angesichts dieser komplexen Thematik wie die Formel, die der britische Künstler Liam Gillick an die dem Bosporus zugewandte Außenmauer des Kunstmuseums Istanbul Modern im alten Warenhafen Istanbuls angebracht hat – eine Adaption der berühtem Gleichung Daniel Bernouills, des niederländisch-schweizerischen Mathematikers zur Strömungslehre. Immerhin ziehen sich die Arbeiten der 80 eingeladenen Künstler in 35 Venues wie in einem weit verzweigten Kapillarsystem durch die riesige Stadt.

Zu den beeindruckendsten Momenten gehört dabei der Besuch in den Redaktionsräumen der armenischen Zeitschrift Agos im Stadtteil Harbiye, wo bis zu seiner Ermordung im Januar 2007 der Journalist Hrant Dink wirkte. Was auch die Frage beantwortet, ob diese Biennale zu der explosiven politischen Lage passt: Kunst, so lässt sich bilanzieren, kann keine politischen Konflikte befrieden. Gegen die Exzesse der Gewalt öffnet sie aber immer wieder Räume für den friedlichen Diskurs, der weiter reicht als bis zur nächsten Wahl, zur nächsten Demonstration.

Am Ende eines dieser langen Wege steht man dann vor den Tierstatuen, die der junge argentinische Bildhauer Adrián Villar Rojas auf ins Wasser montierte Betonplatten an den Strand vor der verfallen Exil-Villa Leo Trotzkis auf Büyükada stellte: Verstörende Zwitterwesen aus weißem Kunststoff und verrottender Natur: Holz, Zweige, Federn. Bei allen esoterischen Untertönen der Kuratorin: Es sind Momente wie diese, die die mitunter magische Anziehungskraft von Bakargievs Biennalen erklären.

 

Im Anadolu Club

Wenn Kritik angebracht ist an der Istanbul-Biennale, dann eher, wie sie sich sozial verortet. Von Hans-Ulrich Obrist bis Klaus Biesenbach war der VIP-Auftrieb in diesem Jahr hochkarätig wie nie. Und wenn die Biennale symbolisch Solidarität mit Flüchtenden und Bedrängten hätte demonstrieren wollen, hätte sie ihren VIP-Empfang sicher nicht im noblen Anadolu Club auf Büyükada zelebriert – traditionell Treffpunkt der Istanbuler Upper-Class der 60er Jahre.

Unterm Sonnenbaldachin sprachen Orhan Pamuk als Vorsitzender des neugegründeten Freundeskreises der Biennale und William Kentridge Freundlichkeiten und sangen das Loblied der Sponsoren. Ein Hauch von High-Society hat sich über eine Schau gelegt, die in den knapp 30 Jahren ihres Bestehens das Interesse auf sich gezogen hatte, weil sie alles Klassische und Etablierte früh und radikal verabschiedet hatte.

Die Reste demokratischer Gegenöffentlichkeit traf man eher auf der Vernissage im unabhängigen Schauraums Depo in Galata. Dort eröffnete zeitgleich mit der Biennale eine Schau mit zeitgenössischen Künstlern der armenischen Diaspora „Grandchildren. New Geographies of belonging“. Hier schwamm man wieder im „Salzwasser“ des Widerständigen, das der blockierten „Zelle“ Türkei erst wieder neue demokratische Energien zuführen wird.

Ingo Arend

http://14b.iksv.org/

http://www.depoistanbul.net/en/activites_detail.asp?ac=134

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Preis der Berliner Nationalgalerie 2015

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Jenseits der Genres.

Anne Imhof gewinnt den Preis der Berliner Nationalgalerie. Die zeitgenössische Kunst löst die Grenzen auf.

Die Installation von Anne Imhof für den Preis der Nationalgalerie für junge Kunst 2015 im Hamburger Bahnhof.© Foto: David von Becker

Die Installation von Anne Imhof für den Preis der Nationalgalerie für junge Kunst 2015 im Hamburger Bahnhof.© Foto: David von Becker

 

 

Befehle über den Kopfhörer, Klangberieselung im Minimalenvironment, Geistertänze mit Buttermilch und Schaukeln auf Gebetsteppichen. „Kunst gibt es nur für und durch den anderen‘‘, Jean-Paul Sartres Weisheit wird dieser Tage in Berlins Hamburger Bahnhof auf eine einsame Spitze getrieben.

Zu sehen sind dort die vier Positionen, die für die Endrunde des „Preises der Nationalgalerie“ ausgewählt waren. Mit der 2000 ins Leben gerufenen Auszeichnung werden alle zwei Jahre mit einigem Aufwand innovative Ansätze junger Künstler unter 40 Jahren ausgezeichnet.

Eine Art deutscher „Turner-Prize“ wurde der Preis zwar nie. Doch was hier den zweistufigen Filter von rund hundert ExpertInnen in zwei Jurys passiert hat, sagt schon etwas aus über das abgegriffene Label „zeitgenössisch“. Und den überschießenden Marktlaunen der Berliner „Art Week“ in der vergangenen Woche hielt der Preis ein strenges, unparteiisches Qualitätsideal entgegen.

Man kann die dort präsentierten Positionen goutieren, man gerät sogar in Gefahr, sie zu hassen. Zumindest eröffnen sie „auf eindrückliche Weise Kunst und Kino neue Perspektiven“ – so haben die Veranstalter die Kriterien für die Auswahl definiert. Selten ist „Interaktion“ mit dem Werk so sehr zum integralen Bestandteil von Kunst geworden, selten fließen die Genres derart ineinander, verschmelzen Objekt, Rezeption und Kontext der Arbeit zu etwas Drittem, nahezu Immateriellen.

Am weitesten geht dabei Christian Falsnaes. Ob man nun den Anweisungen folgt, die der 1980 in Kopenhagen geborene Künstler einem gibt, wenn man ihm ins Angesicht schaut. Oder ob man ihnen folgt, wenn man in einen abgedunkelten Raum betritt und Teil einer Gruppen-„Performance“ wird. Die Typenbezeichnung ist fast zu schwach für die Versuchsanordnung, mit der Falsnaes die Dynamik von Spiel, Gruppe und Macht auslotet.

Vom Bildschirm an der Wand brüllen einen Aufforderungen entgegen, dazu kommen die Anweisungen eines Performers. Instinktiv wehrt man sich gegen das oktroyierte, optisch intensivierte Rollenspiel. „Eindrücklich“ ist noch untertrieben für das Moment der Unterwerfung, das in Falsnaes‘ Arbeit steckt. Gute Kunst macht aber aus, dass sie an die Grenzen geht. Und Falsnaes geht bis an diejenige, in der Neugier in Aggression umschlägt.

Auch bei Florian Hecker, 1975 geboren, gehört der Betrachter ins Set. Denn in seinen Räumen wird der kaum identifizierbare Sound, der aus den von der Decke hängenden Lautsprechern rieselt, von den Besuchern mit jedem Schritt neu „gemischt“. Um das synthetische Erlebnis dieser auditiven Konzeptkunst mit Minimal-Effekt perfekt zu machen wird er von den, mit Loden und Aluminiumflächen bestückten Wänden immer anders reflektiert.

Ohne Zuschauer geht es auch bei dem Körpertheater nicht, das Anne Imhof, Jahrgang 1978, inszeniert. Bei der Aufführung, eine Kombination ihrer früheren Arbeiten „Deal“ und „Rage“, bewegen sich Darsteller geisterhaft durch den Raum. Zwischen Betonbassins, über denen Boxersäcke schweben, und mit Graffiti überzogenen Pissoirs transportieren sie Buttermilch hin- und her. Schildkröten schleichen durch den Raum. Langsam verliert der Betrachter sein Zeitgefühl.

Die spannendste Position bietet das eurasische Kollektiv „Slavs and Tatars“. Die 2006 gegründete Gruppe war auf der letzten Berlin-Biennale 2014 bekannt geworden. Im Garten des Hauses am Waldsee tönte damals aus riesigen Lautsprechern zwischen zwei Grashügeln der elektronisch verzerrte, muslimische Gebetsruf in einer türkischen Fassung aus der Atatürk-Ära.

Dieses Jahr sind die Spezialisten für das produktive Cross-Over von Objekten, Historienbildern und Performance mit einem Gebetsstand präsent. „Qit Qat Qlub“ ist der verheißungsvolle Titel des Ensembles, in dessen Mitte eine aufgefaltete, mit Perserteppichen belegte Installation steht, die aussieht wie ein „Fliegender Teppich“.

Das demonstriert die – durchaus erotisch gemeinte – Lust des Künstlerduos am semantischen Doppelwert von Sprache. Auch auf den riesigen, wie Schaukeln von der Decke hängenden Gebetsketten verspricht der interkulturelle Dialog, um den es Payam Sharifi und Kasia Korczak geht, zu einer Swinger-Übung statt zum Dschihad zu werden.

Dass die letzte Jury vergangenen Freitag den Preis Anne Imhof zuerkannte, spricht für einen gewissen Nachholbedarf in Sachen Förderung junger Performance-Kunst, die synästhetisch und jenseits der Genres arbeitet, so wie ihre Arbeit zwischen Film, Theater und Skulptur mäandert.

Die Gewinnerin des Preis der Nationalgalerie 2015, Anne Imhof und der Gewinner des Förderpreises für Filmkunst 2015, Bastian Günther. Foto: David von Becker

Die Gewinnerin des Preis der Nationalgalerie 2015, Anne Imhof und der Gewinner des Förderpreises für Filmkunst 2015, Bastian Günther. Foto: David von Becker

Die 50.000 Euro Preisgeld früherer Jahre sind inzwischen gestrichen. Dafür winkt der Preisträgerin eine, langfristig womöglich lukrativere, Einzelausstellung im Hamburger Bahnhof. Im nächsten Jahr werden wir uns in der mystischen Welt der Anne Imhof dann also final entgrenzen können.

Ingo Arend

 

AUSSTELLUNG

Preis der Nationalgalerie 2015. Hamburger Bahnhof.

Noch bis zum 17.1.2016

 

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Berlinische Galerie: Auswegen aus der konfektionierten Stadtplanung

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Plädoyer für die soziale Stadt

In der Berlinischen Galerie sucht der unkonventionelle Architekt Arno Brandlhuber nach Auswegen aus der konfektionierten Stadtplanung

Zwei hochragende Bürotürme am Kopf einer langen Passage, links und rechts davon fallen Grünflächen ab. Das Victoria-Areal an Berlins Kurfürstendamm hatte sich Rem Koolhaas 1988 als Mischung aus sozial und ökonomisch gedacht. Gebaut wurde sein Entwurf nie. Doch wer das Architekturmodell auf einer Spanplatte betrachtet, kann zwei Welten vergleichen. Heute steht auf dem Grundstück hinter dem Kranzler-Eck bekanntlich der sterile Glaskeil des Chicagoer Architekten Helmut Jahn.

Zu sehen ist Koolhaas‘ Architekturmodell derzeit in der Berlinischen Galerie. „The Dialogic City: Berlin wird Berlin“ – der Beitrag von Berlins Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur zum diesjährigen Art-Week-Themenschwerpunkt „Stadt/Bild“ist ein produktiver Etikettenschwindel.

Denn der Architekt Arno Brandlhuber, Spiritus Rector der Ausstellung, ruft hier ein Berlin auf, das es nicht geben „wird“. Der größte Teil der Ausstellung besteht nämlich aus rund 500 Architekturmodellen: Den ausgezeichneten, aber nicht realisierten Entwürfen öffentlicher Architekturwettbewerbe des Landes seit dem Jahr 1991.

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Arno Brandlhuber, Florian Hertweck, Thomas Mayfried, Ausstellungsansicht: The Dialogic City -€” Berlin wird Berlin 
© The Dialogic City

Bisher lagerten die Modelle in einem Depot der Berlinischen Galerie. Nun liegen sie verpackt in einem Regal im Museum: Gerhard Merz‘ Entwurf für das Denkmal der ermordeten Juden Europas etwa in einer rissigen Holzkiste oder der Entwurf eines unbekannten Architekten für den Neubau einer Turnhalle für Blinde in Berlins Rothenburgstraße in einem vergilbten Umzugskarton.

Bis zum Ende der Ausstellung im Frühjahr nächsten Jahres werden diese Modelle von Archivaren unter den Augen der Besucher ausgepackt und digitalisiert. Die Schau macht dieses alternative Potential also dem kollektiven Wissen zugänglich. Auch wenn nicht jedes der B-Modelle als Beleg gegen den konfektionierten Städtebau dient. Wer vor dem Konvolut steht, spürt, dass Berlin auch ganz anders aussehen könnte.

Mit Architekturarchäologie allein gibt sich ein Mann wie Brandlhuber natürlich nicht zufrieden. Seit Jahren ficht der unkonventionelle Architekt, Jahrgang 1964, für eine sozial orientierte „Raumproduktion der Berliner Republik“. Mit seinem Atelier- und Galeriehaus in der Berliner Brunnenstraße hatte er 2010 ein Zeichen gegen die architektonische Retroästhetik der Stimmann-Ära gesetzt.

Die Idee, das polyzentrische, durchmischte Berlin gegen den Vormarsch der segregierten Ghettos zu stärken, steckt auch hinter seiner „Intervention“ in der Berlinischen Galerie. In dem dicken, zur Ausstellung erschienenen Reader beschwört er ein „Stadtmodell, das die sozialen und kulturellen Unterschiede zusammen denken will“. Das „dialogische Prinzip“, das der Schau den Titel gibt, hat er dem französischen Philosophen Edgar Morin entlehnt.

Der Verzicht auf das übliche Ausstellungsdisplay ist Kalkül. Wir sollen uns das künftige Berlin gefälligst selbst denken. Dennoch fehlt der Schau der sinnliche Stimulus dafür. Einen, wie ihn Carsten Krohn 2010 in der Ausstellung „Das ungebaute Berlin“ lieferte, als er einhundert –ebenfalls nie realisierte – Projekte aus dem 20. Jahrhundert für Berlin von Hans Poelzig über Le Corbusier bis Peter Zumthor präsentierte.

Brandlhubers interessante Ideen gegen Wohnungsnot und Flüchtlingsströme: das leer stehende Flughafengebäude Tempelhof um acht Etagen aufzustocken, Mietshäuser für 6,50 Euro pro Quadratmeter als Wohn- und Arbeitsstätten zu konzipieren und einen bestimmten Anteil neuer Luxuslofts für Hartz-IV-Empfänger zu reservieren, bleibt so seltsam anschauungslos.

Und auch wenn er den Ansatz wiederbeleben will, den der SPD-Politiker Hans-Jochen Vogel als Regierender Bürgermeister von Berlin entwickelte hatte, wäre das eine ausstellungsgestalterische Anstrengung jenseits des Handapparates von Büchern Wert gewesen, der jetzt in der Schau zum Blättern einlädt. Immerhin ist die Berlinische Galerie der richtige Ort für Brandlhubers Vorhaben. Denn auf dem Gelände des Landesmuseums liegt der kartographische Stadtmittelpunkt Berlins. Brandlhuber hat die Stelle am Boden des Ausstellungsraumes mit einem Bronzeabguss markiert.

In seiner Regierungserklärung hatte Vogel 1981 ein Bodenrecht gefordert, „das Grund und Boden nicht wie eine beliebig vermehrbare Ware verhandelt, sondern wie ein elementares Grundbedürfnis, wie Wasser, Brot“. In der Hauptstadt der vergoldeten Townhouses liest sich eine Idee aus den Eighties plötzlich wieder so aktuell wie revolutionär.

Der silberne Reader, den die Besucher in Berlin statt Bilder von Projekten mitnehmen können, könnte eher im Bücherregal landen als Text für Text in den Köpfen der Besucher. So dass diese Schatzgrube kluger Ideen von Andrej Holm bis Niklas Maak dasselbe Schicksal erleiden könnte wie die Architekturmodelle im Depot der Berlinischen Galerie: Abgesunkenes Kulturgut in der Dunkelkammer der Kulturgeschichte.

Ingo Arend

 

AUSSTELLUNG

Brandlhuber+ Hertweck, Mayfried The Dialogic City : Berlin wird Berlin

Berlinische Galerie, Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur

Noch bis zum 21.03.2016

ausstellung 350

 

Den 672-seitigen Reader zum Thema, hrsg. von Arno Brandlhuber, Florian Hertweck und Thomas Mayfried, Verlag der Buchhandlung Walther König, gibt es in der Ausstellung kostenlos.

 

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Daniel Kehlmann: Ich und Kaminski

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Szene aus Wolfgang Beckers Spielfilm ICH UND KAMINSKI (© X Verleih)

 

Anmerkungen zu Daniel Kehlmanns Roman „Ich und Kaminski“

Parasiten

Ich und Kaminski – schon im Titel von Daniel Kehlmanns viertem Roman wird jener Vorrang der Rezeption vor der Kunst behauptet, der aus der Welt der Kunst das viel gescholtene “Betriebssystem Kunst” gemacht hat. In ihm weiß man nicht mehr viel von Kunst selbst, wohl aber, wie man Positionen besetzt, Bedeutung markiert, Signale setzt und sich eine Karriere bastelt. Sebastian Zöllner, der Held von Kehlmanns schmalem Band, ist der Prototyp des ebenso dreisten wie ignoranten Strategen in diesem Betriebssystem. Er plant eine Biographie über Manuel Kaminski, einen in Vergessenheit geratenen Maler vom Beginn des vorigen Jahrhunderts. Als Kritiker hat Zöllner nicht viel zu bieten.

Zöllner ist durch eine Kette von Zufällen in den Journalismus gerutscht. Schon in der Universität hat er seine Referate aus dem Lexikon abgeschrieben. Nicht ein theoretisches Interesse treibt ihn zu dem Biographie-Projekt, sondern die Hoffnung auf ein Sprungbrett ins System. Man würde, so hofft dieser aufdringliche Taugenichts, ihn nach Erscheinen seines Buches ins Fernsehen einladen, über ihn sprechen “und am unteren Bildrand würde in weißen Buchstaben mein Name und Kaminskis Biograph eingeblendet sein. Das würde mir einen Posten bei einem der großen Kunstmagazine einbringen.”

Man sieht schon: Ich und Kaminski ist kein klassischer Künstlerroman. Es geht Kehlmann nicht darum, mit Hilfe der fiktiven Biographie eines Malers, über den Breton einen “begeisterten Artikel” schrieb und dem Picasso drei Bilder abgekauft hat, etwa die Frühzeit der Moderne neu aufzurollen. Kehlmann will auch keinen Schlüsselroman schreiben. Selbst wenn ihm für Manuel Kaminski erkennbar die Figur des 1908 geborenen Malers Balthazar Klossowski de Rola, genannt “Balthus”, Pate gestanden hat. Wie dieser lebt Kaminski in einem abgelegenen Bergdorf in den Alpen. Wie dieser schafft Kaminski den Durchbruch mit einer Ausstellung in New York. Doch er weitet das Vorbild dieser Figur zu einem Prototypus.

Im Kelleratelier von Kaminskis Bergzuflucht verstaubt eine geheime Serie von Porträtversuchen. Kaminskis legendärer Bilderzyklus der Reflexionen dagegen hängt komplett im Metropolitan Museum in New York. In diesen Werken, auf denen Spiegel zu sehen sind, die einander in unterschiedlichem Winkel gegenüberstehen, könnte man auch einen Maler wie Gerhard Richter erkennen, seine Grundfrage nach der generellen Darstellbarkeit vonRealität oder eine Anspielung auf die gefürchtete Selbstreferentialität der modernen Kunst: “Grausilbrige Gänge in die Unendlichkeit öffneten sich, leicht gekrümmt, erfüllt von unheimlichem, kaltem Licht”.

All diese Bezüge tippt Kehlmann nur an. In erster Linie spießt er mit seiner bizarren Künstlerpersönlichkeit subtil und ironisch die Mythen des Kunstmarktes und des Kunstsystems auf. Kehlmann hüllt seinen greisen Genius in das Gewand der Künstlerlegende, die nur weitergeraunt wird und deren Einzelheiten im Dunkel liegen. Kaminskis Kunst beruht natürlich auf einem Schlüsselerlebnis. Nachdem er sich versehentlich in einer Salzmine in Frankreich verlaufen hatte, soll er sich tagelang eingeschlossen haben: “Aber von da an malte er vollkommen anders”.

Der Aufstieg zum künstlerischen Ruhm ist bei Kehlmann ein Zufall, den man am besten mit Tricks erreicht, die eine unfassbare Größe suggerieren. Erst hängt rein zufällig ein Bild Kaminskis in einer Pariser Surrealisten-Ausstellung. Das fällt zufällig dem amerikanischen Maler und Bildhauer Claes Oldenburg auf. Der erreicht nun, dass der legendäre New Yorker Avantgardegalerist Leo Castelli in seinen Räumen ein Bild Kaminskis aufhängt, dessen Titel man einfach mit dem unheilschwangeren Zusatz: “painted by a blind man” erweitert. Die Kunstwelt steht erschüttert. Der Durchbruch ist geschafft. A legend is born!

Klar, dass sich Kehlmann mit solchen Bildern mitunter hart am Rande der Klischees bewegt, die der Normalbürger über die „Insassen“ des oft ja ziemlich geschlossenen Kunstsystems gern hegt und pflegt. Kritiker sind unnütz und schwafeln, was die Situation gerade gebietet – das ist ein zwiespältiger Subtext von Kehlmanns Buch. Sein “Held” Zöllner hat nämlich einen ausgeprägten Hang zum opportunistischen Urteil. Das “parasitäre Verhältnis”, das darzustellen Kehlmann so faszinierte, existiert nun ohne Zweifel. Es ist in Wahrheit aber vielschichtiger.

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Szene aus Wolfgang Beckers Spielfilm ICH UND KAMINSKI (© X Verleih)

Denn der Künstler braucht die Kritik als Widerpart und Spiegel. Beide sind Parasiten. Und wenn sich Zöllner bei einer gemeinsamen Reise an die Ostsee, wo Kaminskis tot geglaubte Jugendliebe Therese lebt, von dem Maler nach Strich und Faden ausnehmen lässt, anstatt dass der ihm die ersehnten Exklusivinformationen ausplaudert, kehrt Kehlmann das Verhältnis nur um. So verbleibt er an der Oberfläche einer vielschichtigen Osmose, deren verschlungene Kanäle ein differenzierteres Bild verdient hätten.

Diese inhaltlichen Mängel wiegt Kehlmanns Erzählkunst aber mehr als auf. Sein federnd leichter, aber niemals seichter Erzählstil und der komplexe, perfekt verschlüsselte Hintergrund mit vielen sorgsam verarbeiteten Anspielungen machen den 1975 in Wien geborenen Daniel Kehlmann zu einer Ausnahmeerscheinung unter den jungen deutschen Literaten. Denn er paart die Leichtigkeit, mit der sich die jüngere deutsche Pop-Literatur so gern begnügt, mit einer klug durchdachten, penibel recherchierten Idee und vorzüglicher Konstruktion. Kehlmanns Sprache ist klar und geradlinig. Seine Bücher sind so transparent und stringent aufgebaut wie Kristalle.

So gesehen hat er den Abfall des Betriebssystems Kunst doch noch in wahre Kunst transformiert. Ein ästhetisches Recycling, das sich sehen lassen kann. Wenn der für sein Alter ausgesprochen produktive Autor so gut weitermacht, wird er sich mit über kurz oder lang irgendeinem Sebastian Zöllner gegenübersehen, dem es dann vermutlich um die Frage geht: Ich und Kehlmann.

Ingo Arend

 

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© Suhrkamp

 

 

Daniel Kehlmann: Ich und Kaminski

suhrkamp taschenbuch 3653, Berlin 2004

174 Seiten,

7,99 Euro

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Ein ungeschminktes Bild des Desasters. Künstlerische Reaktionen auf die Griechenland-Krise.

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„Souzy Tros“ nannte die griechischen Künstlerin Maria Papadimitriou ihr Projekt am Stadtrand von Athen . Bei dieser ungewöhnlichen Aktion konnten Menschen zusammen arbeiten, kochen, tauschen. Ein bescheidener Vorschein dessen, was Giorgio Gamben einmal „die kommende Gemeinschaft“ genannt hat.

Ein Heer von grünen Segelbooten segelt auf ein Pier zu. Ihnen entsteigen runde Männlein mit auffallend großen Gesichtern, im Hintergrund dräut ein stürmisch bewegter Ozean. „Here comes the investors“, das Werk des griechischen Künstlers Michalis G. Kallimopoulos stammt zwar aus dem Jahr 2009. Aber es drückt noch immer gut die Angst vor dem aus, was auch nach der jüngsten Brüsseler „Einigung“ der EU mit dem neuen Regierungschef Alexis Tsipras bevorsteht: Der Einmarsch der Investoren in dem Land an der Ägäis.

Zu sehen war Kallimopoulos‘ Arbeit im Sommer 2014 in der Schau „No Country for young men“ im Brüsseler Kunstpalast Bozar. Mit Arbeiten von 32 Künstlern und Kunstkollektiven brachte die griechischstämmige Kuratorin Katerina Gregos darin das Gefühl von Wut und Auswegslosigkeit auf den Punkt, das sich in dem Land sieben Jahre nach dem Ausbruch der „Finanzkrise“ aufgestaut hatte.

Die Ausstellung war auch ein Akt künstlerischen Widerstands. Denn sie konterkarierte die Ausstellung der damaligen griechischen Regierung des konservativen Ministerpräsidenten Andonis Samaras zum Auftakt ihrer EU-Ratspräsidentschaft. „Nautilus. Navigating Greece“ (ebenfalls im Bozar) beschwor mit einem Panorama antiker Artefakte einmal mehr den gefahrlosen Mythos der großen Kulturnation. Gregos dagegen zeichnete ein ungeschminktes Bild des zeitgenössischen Desasters in dem Griechenland von heute.

Wenn Jannis Pissis, der Berater des griechischen Kulturministers Arestides Baltas sagt: „Diese Jahre der Krise sind natürlich auch reizvoll für Künstler, für kulturschaffende Menschen“ klingt das zynisch angesichts der Probleme arbeitsloser Künstler in Griechenland. Ganz falsch ist die Analyse nicht. Mit 12 Millionen Euro hat das Land den kleinsten Kulturhaushalt Europas. Und er wird weiter gekürzt. Das in 15 Jahren für 34 Millionen Euro neu erbaute Museum für Gegenwartskunst (EMST) kann nicht öffnen. Griechenlands großes „Athens&Epidauros-Festival“ musste diesen Sommer viele Veranstaltungen absagen. Und ohne EU-Fördergelder hätte die 5. Thessaloniki-Biennale im Mai nicht stattfinden können.

Katerina Gregos spricht von einem wahren „Schauer künstlerischer Kreativität“ in ihrer Heimat. Das Künstlerkollektiv „Depression Era Project“ dokumentiert seit 2012 die Folgen der Sparpolitik im Land. Das deutsch-griechische Ausstellungsprojekt „Tempus Ritualis“ präsentierte vergangenen Sommer in Thessaloniki Arbeiten zu neuen, spontanen Formen der Vergemeinschaftung in Zeiten der Krise. In der Galerie Ausstellung „Quar-t“ entdeckten Absolventinnen der Kunstabteilung der dortigen Aristoteles-Universität im gleichen Jahr den Minimalismus neu als Ausdruck der Krise.

In Athen zeigt die Kuratorin Iliana Fokianaki in ihrem Non-Profit Project Space „State of Concept“ derzeit die Ausstellung der griechischen Malerin Margerita Bofiliou mit dem paradigmatischen Titel „Everything is wrong“. In diesem Sommer lud die Neon-Stiftung des griechischen Sammlers Dimitrios Daskalopoulos zur Ausstellung „Terrapolis“ in die Französische Schule in Athen. Und im Ausstellungsraum „Slaughterhouse“ der Deste-Foundation des Sammlers Dakis Joannou auf der Insel Hydra versuchte sich der Künstler Paul Chan an einer installativen Neuauflage der Platonischen Dialoge (Paul Chan – Hippias Minor, bis 30.9.).

“Die griechischen Künstler lebten eigentlich immer in einer Krise“ bringt Georgios Divaris, der Dekan der Kunstabteilung der Universität von Thessaloniki, die besondere Geisteshaltung der Kunstszene in dem Land auf den Punkt. „Sie sahen Wohlstand sowieso nicht als das Ziel in der Kunst an. Kunst war ja kein Beruf, vielmehr ein Lebensausdruck. Die Kreativität hat bei uns dennoch nie aufgehört. Und die Ausstellungen sind in der Krise nicht weniger geworden.” „Learning from Athens“ – Adam Szymczyks Motto für die 14. Documenta 2017 muss man derzeit wohl mit „von der Krise lernen“ übersetzen.

Von wohlfeiler Solidarität können sich die Künstler in Griechenland zwar nichts kaufen. Aber dass Künstler und Mitarbeiter kürzlich vor dem Schriftzug “GERMANIA” über dem Deutschen Pavillon in Venedig als Zeichen der „Solidarität mit den Menschen in Griechenland und aus allen anderen Ländern, die durch Sparpolitik leiden” eine griechische Flagge mit dem Wort “GERMONEY” aushängten, verschafft ihnen zumindest Aufmerksam- und Sichtbarkeit. Und es stärkt den wichtigsten Effekt der florierenden Kunstaktivität: Das Gefühl von Solidarität und Zusammengehörigkeit. So wie bei dem „Souzy Tros“-Projekt der griechischen Künstlerin Maria Papadimitriou. Am Stadtrand von Athen konnten Menschen bei dieser ungewöhnlichen Aktion zusammen arbeiten, kochen, tauschen – bescheidener Vorschein dessen, was Giorgio Agamben einmal „die kommende Gemeinschaft“ genannt hat.

Ingo Arend

https://souzytros.wordpress.com/about/

zuerst erschienen in Kunstzeitung Nr. 229, September 2015

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Die Ausstellung „The Vacancy“ in einer Hotel-Baustelle an der Friedrichstraße erinnert an die Zeiten, als noch die Kunst die Berliner Stadtmitte regierte.

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Moritz Schleime setzt auf Popkultur in der Ausstellung „The Vacancy“. Foto: Ingo Arend

Sehnsucht nach der großen Freiheit
33 Künstler, 33 Räume

Unzählige graue Mosaiksteine aus Stoff auf einem rissigen Holzboden. An der vergilbten Wand hängt die Zeichnung eines alten Teppichmusters. Selbst eine „Leerstelle“ ist „Das gelbe Teppichmesser“ vielleicht nicht. Zumindest ist die Arbeit von Jenny Feldmann ein gelungenes Beispiel dafür, wie man eine Leerstelle füllen kann. Aus den Versatzstücken einer Billigauslegeware hat sie einen reich ornamentierten Orientteppich aus dem 19. Jahrhundert nachgeformt, den sie in einer Zeitschrift gefunden hat.

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Das gelbe Teppichmesser. Eine Arbeit von Jenny Feldmann in der Ausstellung „The Vacancy“. Foto: Ingo Arend

Zu sehen ist das schöne Stück der jungen Hamburger Künstlerin derzeit in Berlin-Mitte. „Vacancy“ heißt die temporäre Ausstellung, die die Galerie Crone in dem alten Hostel Adler,
direkt am U-Bahnhof Oranienburger Tor, ausgerichtet hat. Gerade wird die Immobilie mit wechselhafter Geschichte zum Hotel umgebaut. Das Adler galt als das „schlechteste Hostel der Stadt“. Die Schau mit dem lapidaren Untertitel „33 Räume, 33 Künstler“ überrascht nun mit guter Kunst.

Das coole Spektakel über fünf Etagen in dem entkernten Bau nimmt die derzeit grassierende Nostalgie nach dem Berlin der 90er Jahre auf, mit der schon die Ausstellung „Ngoro Ngoro“ in einem Künstleratelier in Weißensee während des Berliner Gallery Weekends im Frühjahr sensationellen Erfolg hatte. Der Charme des Unfertigen, Kaputten paart sich mit dem Effekt „Kunst im Lebensalltag“ und der Melancholie des Historischen – im Treppenhaus des heruntergewirtschafteten Hauses kann man noch Holzschnitzereien des Gründerzeitbaus bewundern. Überall liegt Schutt auf den freigelegten Dielen, uralte Kabel quellen aus der Wand.

Wenn es eine übergeordnete kuratorische Erzählung dieser gelungenen „Zwischennutzung“ gibt, dann die sanfte Trauer über die Zeiten, als die Kunst noch die treibende Energie der Berliner Stadtmitte mit ihren vielen „Leerstellen“ war. „Die große Freiheit ist nicht mehr da“, seufzt Markus Peichl, Geschäftsführer der Galerie und einst Gründer der Zeitschrift Tempo. „Trotzdem kann ich mir keine andere Stadt vorstellen, wo das noch so möglich wäre. Wir brauchen diese Leerstellen für die junge Kunst.“

Beiläufig stößt einen die Aktion in Sichtweite des verwaisten, bald hochpreisig verbunkerten Tacheles wieder einmal mit der Nase auf die Besitzverhältnisse in der Stadt. Besitzer des Hotels in spe ist eine Unternehmensgruppe um Rafael Korenzecher – ein schwer durchschaubares Firmenkonglomerat rund um Mode, Immobilien und Medien. Korenzecher verlegt auch die die Jüdische Rundschau und blogt gegen Antisemitismus. Aber immerhin geht es ihm bei dem schmalen Bau weder um strukturellen noch um spekulativen Leerstand. Und er hat offenbar ein Herz für Kunst.

Das kommerzielle Kalkül der Schau ist aufgegangen. Einige Arbeiten wurden bereits verkauft. Die Qualität dieser „Kunst für drei Wochen“ spricht aber gegen eine bloß raffinierte Aktion in Sachen Marketing und Gentrifizierungsbeschleunigung. Auch wenn sich Peichl als Medienpartner das Zeit-Magazin ins Boot geholt hat. Über den Instagram-Feed der Hamburger werden die Kunstwerke in die sozialen Medien gestreut.

Allerdings gehören nur vier der 33 Künstler zur Galerie. Der Maler Carsten Fock ist noch der bekannteste der Teilnehmer. Ansonsten hat sich Crone auf den Rat von Freunden wie der Fotografin Katharina Sieverding oder den Medienkünstler Marcel Odenbach verlassen. Und hat Nachwuchs-Künstler in die staubige Baustelle geholt. Der Hamburger Maler Antony Valerian ist der jüngste von Ihnen. Der 1992 geborene Schüler von Daniel Richter zeigt seine schwerelos schwebenden Landschaftsbilder.

Mal zeigen sich die Künstler dem rohen Raum gewachsen. Pola Sieverdings riesige Fotografien von Männertorsi scheinen wie für sie gemacht. Mal kontrastieren die Arbeiten reizvoll mit der Rohheit des Gebäudes. Wie man an den wunderbar filigran gezeichneten Aderngespinsten der Berliner Künstlerin Paula Doepfner sehen kann. Mal beziehen sie sich explizit auf die Geschichte des Gebäudes.

Der Berliner Künstler Max Schaffer hat auf den Boden eines düsteren Durchgangszimmers eine aufgeschnittene Matratze gestellt. Und die Unterschriften von Gästen des Hostels, die er in einem alten Aktenschrank gefunden hat, hat er im Großformat auf die rissige Tapete an der Wand übertragen.

Eine der lustigsten Arbeiten stammt von Sofia Goscinski. „Head in the Closet“ hat sie ihre Skulptur genannt. Wer sich auf eine in die Wand eingelassene Klomuschel setzt, dessen Kopf verschwindet in einer zweiten Schüssel, die verkehrt herum darüber hängt. Womit wir bei einer weiteren Bedeutungsebene des Ausstellungstitels wären. In der Literaturtheorie sind „Leerstellen“ nämlich unvermittelt aneinanderstoßende Textsegmente, die seine erwartbare Ordnung unterbrechen. Auch so kann Schönheit entstehen.

Text und Fotos Ingo Arend

 

AUSSTELLUNG

Temporary Art Space der Galerie Crone


Friedrichstraße 124


10117 Berlin

  1. – 19. 10. 2015 | Di. – Fr. 13 – 20 Uhr | Sa. + So. 11 – 20 Uhr

 

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Skulptur von Christian Theiss in der Ausstellung „The Vacancy“. Foto: Ingo Arend

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Ece Temelkuran: Euphorie und Wehmut. Die Türkei auf der Suche nach sich selbst.

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Buch über Faschismus in der Türkei

Nettsein als revolutionärer Akt. Die Autorin Ece Temelkuran sieht die Türkei in „Euphorie und Wehmut“ auf dem Weg in die Gewalt. Sie setzt auf die Zivilgesellschaft.

„Faschismus“. Mit diesem Standardvorwurf geißeln die Kemalisten rituell die Herrschaft der muslimisch-konservativen AKP in der Türkei. Inzwischen grassiert diese Angst aber auch in der Zivilgesellschaft. „Wir haben genug von dem islamischen Faschismus Erdogans“ skandierten die Gezi-Protestanten 2013.

In der Türkei überziehen sich die politischen Lager derart inflationär mit dem F-Wort, dass man aufhorcht, wenn eine kritische Publizistin nun in dieselbe Kerbe schlägt. „Euphorie und Wehmut“, das jüngste Buch der viel gelesenen Schriftstellerin und Journalistin Ece Temelkuran, läuft auf nichts weniger als den Vorwurf hinaus, in ihrer Heimat breite sich Faschismus aus.

Der Titel ihres Werks signalisiert schon, dass ihr Buch eine subjektiv gefärbte Streitschrift mehr als eine strenge Analyse ist. Dennoch trifft die undogmatische Linke, Jahrgang 1973, einen neuralgischen Punkt, wenn sie den türkischen einen „schleichenden Faschismus“ nennt – weil er „das Wesen der Menschen in Richtung Wahn justiert“.

Temelkuran bemüht Hannah Arendts Wort von der „Gleichschaltung“. Das trifft auf das AKP-Ziel einer muslimisch grundierten „Gehorsamsgesellschaft“ zu. Inzwischen aber nicht mehr für alle Intellektuellen, denen sie vorwirft, Recep Tayyip Erdogan zu Beginn seiner Amtszeit mit „widerwärtiger Freiwilligkeit“ entgegen gekommen zu sein. Diskutabel macht ihre These, dass die staatliche Repression in der Türkei und die Pogrome gegen Regierungs-Gegner und Andersdenkende dem „eisernen Band des Terrors“ zu ähneln beginnt, das für Arendt den Faschismus charakterisierte.

Temelkuran datiert den „Prozess der Auflösung von Demokratie und Menschlichkeit“ aber nicht erst ab 2002, dem Jahr, in dem die AKP zur Macht kam. Für sie realisiert sich schon mit den Militärputschen 1960, 1971 und 1980 der gewalthaltige Wiederholungszwang einer „Republik, die auf Vergessen gründet“. Als Mustafa Kemal 1923 die Türkei „erfand“, wurde jede Erinnerung an die osmanische Geschichte getilgt. Diese historische Amnesie sei verantwortlich für die explosive Mischung aus Selbstüberschätzung und Minderwertigkeitskomplex.

Die Liste der nationalen Albträume, die die Autorin aufblättert, ist unendlich. Von dem mit der Todesstrafe durchgesetzten Hutgesetz 1925 über die Kurden-Massaker in Dersim 1937/38 bis zur erneuten Kurdenjagd im Schatten des Krieges gegen den Islamischen Staat. Den „großen Buch im kollektiven Selbstbewusstsein der Türkei“ macht Temelkuran im Jahr 1971 aus. Damals wurden die drei linksrevolutionären Studenten Deniz Gezmiş, Hüseyin İnan und Yusuf Aslan hingerichtet, weil sie die Freiheitsrechte der Verfassung von 1960 „zu wörtlich genommen“ hatten.

Deren Tod habe den Boden für den „inflationären Hass“ bereitet, der das geistige Klima in dem Land bis heute prägt. Die brutale Härte der AKP heute gegen ihre Gegner ist nur eine weitere Drehung in dem ewigen Circulus vitiosus der Gewalt am Bosporus. Nicht jede Metapher Temelkurans – wie die der Türkei als eines Waisenkindes, das sich nach dem starken Vater sehnt – ist geglückt. Dennoch macht die historische und sozialpsychologische Tiefendimension ihr Buch so lesenswert und zu einer positiven Ausnahme unter vielen schnell geschriebenen Zustandbeschreibungen der tödlichen Realität am Bosporus.

Die Journalistin geriet selbst in diesen Teufelskreis. „Internettrolle“ der Regierung drohten ihr im Netz mit Tod und Vergewaltigung nach einer regierungskritischen Artikelserie, 2011 verlor sie ihre Anstellung beim TV-Sender Habertürk. Ein Patentrezept gegen den „Wahnsinn namens Türkei“ kann Temelkuran in ihrem wütenden, aber immer scharfsinnigen Buch natürlich nicht weisen. Sie setzt auf die zivilgesellschaftliche Kontrolle politischer Freiheiten wie durch die Wahlbeobachter von Oy ve Ötesi . Und sie empfiehlt „Nett sein“ als „revolutionären Akt“ gegen eine „Kultur extremer Gewalt“. Wenn es schon mit der berüchtigten „Brücke zwischen Orient und Okzident“ nicht geklappt hat. Vielleicht könnte das Land, in dem sie einen „hinkenden, konfusen, chaotischen Faschismus“ entstehen sieht, darin endlich einmal Vorbild sein: Wie man diese Herrschaftsform mit humanen Umgangsformen verhindert.

Ingo Arend

zuerst erschienen in taz vom 10.11.10.2015

 

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Cover © Hoffmann und Campe

 

Ece Temelkuran:

Euphorie und Wehmut

Die Türkei auf der Suche nach sich selbst

 

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe und Monika Demirel

Hoffman und Campe, Hamburg 2015, 240 Seiten

20 Euro

 

 

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