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Kunstfestival Europalia: Anatolia – Home of Eternity

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Euphorie und Verzweiflung. „Anatolia – Home of Eternity“ – das Kunstfestival Europalia beschwört in Brüssel die Türkei als „Wiege der Zivilisationen“, verfehlt aber die Gegenwart.

Bärtige Männer in Ritterrüstungen, Kettenhemden und goldenen Helmen. Als Mahmud Abbas Anfang des Jahres den türkischen Präsidenten Erdogan in seinem Palast in Ankara besuchte, staunte er nicht schlecht. Zur Begrüßung säumten 16 Ritter in verwegenen Kostümen die Palasttreppe, die die 16 historischen Reiche der Türken symbolisieren sollten.

So geschichtsbewusst gab sich der Staatschef nicht immer. Als 2004 beim Bau der Istanbuler U-Bahn Überreste des ältesten Hafens der Stadt gefunden worden waren, witterte Erdogan Sabotage seiner exzessiven Baupolitik und schnaubte: „Schafft die Scherben ins Museum“.

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Sitzende Frauenfigur, zweite Hälfte des 6. Jahrtausends v.u.z, Nigde-museum, Türkei (Foto: Europaliga)

Dass genau dieser Historienschutt nun als Kulturbotschafter für das explosive Reich des grimmigen Präsidenten in Ankara werben darf, dass ihre Ausstellung von Erdogan selbst eröffnet wurde, ist ein ironischer Treppenwitz der Geschichte, für den allein man dem belgischen Kunstfestival Europalia schon dankbar sein darf.

Eines der 37 gesunkenen Schiffe, die damals im antiken Hafen des Theodosius gefunden wurden, das älteste von ihnen ist über 1500 Jahre alt, ist nämlich im MAS, dem Museum aan de Stroom in Antwerpen zu sehen. Die Schau „Istanbul – Antwerpen. Port City Talks“, ist Teil des unbekannten, aber aufwändigen Festes.

1969 gegründet, hat es 24 Ausgaben mit Länderschwerpunkten von China bis Brasilien organisiert. Dass sich Europalia, eine Verballhornung aus Europa und Ops, dem Namen der römischen Göttin für Fruchtbarkeit und Überfluss, auf die Kunstgeschichte konzentriert, kann kein Grund dafür gewesen sein, dass zwischen der „ewigen“ Türkei, die in diesem Jahr im Brüsseler Kunstpalast Bozar präsentiert wird und der realen eine doch recht große Lücke klafft. In der europäischen Hauptstadt wird die Türkei als „Wiege der Zivilisationen“, Anatolien als „Heimat der Ewigkeit“ besungen. Seit über 90 Jahren ist das Land aber auch die Wiege eines ewigen Bürgerkriegs.

Die Schau erinnert zwar daran, dass die Region mit 12000 Jahren beeindruckend vielfältiger Kulturgeschichte zivilisationsgeschichtlich schon mal weiter war. Die Statue einer selbstbewussten Mutter-Göttin mit breiten Hüften und großen Brüsten aus dem sechsten Jahrtausend v. u. Z. lässt die Ahnung keimen, dass die Macho-Kultur diese Menschheitswiege nicht immer so dominierte wie heute.

Und der Fries von dem Hadrianstempel in Ephesos aus dem Jahr 383 n.u.Z., in dem der christliche, oströmische Kaiser Theodosius in einem Reigen paganischer Gottheiten steht, belegt eine friedliche Koexistenz der Religionen und Ideologien schon in grauer Vorzeit, wie sie heute – inzwischen selbst am Bosporus – nicht mehr vorstellbar erscheint.

Ihre Botschaft, zusammengestellt aus 200 Leihgaben von 30 türkischen Museen: Die Türkei, zumindest aber der historische Grund, dem sie entwuchs, gibt andere als die imageprägenden TV-Bilder her: Die Niedermetzelung der Gewerkschafter auf dem Taksim- Platz 1977, die Tränengasjagd auf die Gezi-Demonstranten 2013, die zerfetzten Körper nach dem Anschlag von Ankara, die Bombardierung der kurdischen Rebellen im Südosten. Die Schau verfehlt aber die Gegenwart.

Zwar gibt es, über ganz Belgien verteilt, Ausstellungen wichtiger Gegenwartskünstler wie Gülsün Karamustafa oder Hüseyin Alptekin, zwar treten säkulare Stars wie Sezen Aksu oder Mehmet Aslan alias DJ Set auf. Die repräsentative Flaggschiff-Ausstellung „Anatolia“ endet jedoch bei dem dunkelroten Kaftan, den Sultan Osman II. bei seiner pompösen Parade zu den Freitagsgebeten in der Hagia Sophia trug.

Atatürk entsorgte die osmanische Kunstgeschichte aus dem kollektiven Geschichtsbewusstsein der Türkei, Erdogan will die republikanische Kunstgeschichte vergessen machen. Doch zählt diejenige seit 1923 etwa nicht zum „cultural heritage“ der Türkei, das hier so verschwenderisch ausgebreitet wird?

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Fischer am frühen Morgen, Istanbul, 1950 (Foto: Ara Güler / Europaliga)

Vor dem Hintergrund des Kulturkampfes in der Türkei muss die Entscheidung des Europalia-Teams, das repräsentative Oeuvre mit der Republikgründung enden zu lassen, wie eine Parteinahme für die AKP-Vorstellungen vom Wert und Unwert der Zivilisationen. Unbewusst wiederholt die teure Ausstellung damit einen fatalen türkischen Hang zur Geschichtsklitterung.

Gäbe es nicht die Fotografien von Ali Taptik und Ahmet Polat, dem Besucher bliebe die Türkei von heute ziemlich fremd. Die beiden Künstler, Jahrgang 1983 und 1978, sind auf ihre Weise Wiedergänger Ara Gülers, so wie sie das Abgründige des türkischen Alltags in den Blick nehmen. Der sattsam bekannte Pionier der türkischen Fotografie mit seinen markanten, expressionistischen Schwarzweiß-Fotografien fehlt natürlich auch in Brüssel nicht.

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Rauchende Frau in Osmanbey, Istanbul, 2014 (Foto: Ahmet Polat / Europalia)

Polats Aufnahme des „Rauchenden Mädchens“ in Istanbul von 2014 sagt aber etwas aus über den labilen Gemütszustand einer zeitgenössischen Nation, die sich ihrer Geschichte nicht mehr sicher ist. Die junge Frau schwankt zwischen Euphorie und Verzweiflung.

Ingo Arend

 

FESTIVAL

Europalia Turkey

website

noch bis zum 31.01.2016

Anatolia. Home of Eternity,

Imagine Istanbul, beide Bozar Brüssel,

Katalog, je 45 Euro.

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Quadrate im Aufbruch: 100 Jahre Schwarzes Quadrat.

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Tim Trantenroth: Raumquadrat, 2015, daneben: Andreas Schmid: Qaudrate im Aufbruch. Foto: Ralf Bartholomäus / Weisser Elefant

In einer Gruppenausstellung der Kommunalen Galerie Weißer Elefant demonstriert ein Klassiker der Kunstgeschichte seine ungebrochene Anziehungskraft.

„Höhere Wesen befahlen: „Rechte obere Ecke schwarz malen!“ Fast könnte man meinen, Sigmar Polke hätte Tim Trantenroth die Idee eingegeben: Aber statt des Dreiecks, wie bei dem Kölner Genieverächter, der sich gern über große Meister lustig machte, ist es eben doch ein 40 mal 40 Zentimeter großes, schwarzes „Raumquadrat“, das schräg zur Decke des Ausstellungsraums in dem roten Backsteinbau in der Auguststraße prangt.

Fast genauso sah es aus, als im Dezember 1915 in der Galerie Dobytschina in Petrograd (St. Petersburg) die Ausstellung „0,10 – Die letzte futuristische Ausstellung der Malerei“ eröffnete. Kasimir Malewitsch präsentierte auf dieser Schau sein berühmtes „Quadrat auf schwarzem Grund“ in dem, traditionell der russischen Ikone vorbehaltenen „Herrgottswinkel“. Trantenroth will schon an einen der wichtigsten Momente der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts erinnern. Und wohin passte diese Idee besser als in eine Galerie, die „Weißer Elefant“ heißt?

Eine überschäumende Hommage an den Mythos Malewitsch ist die Schau in einer von drei Kommunalen Galerien des Großbezirks Mitte nicht geworden. Was angesichts des 100. Jubiläums dieser „nackten Ikone“ (Malewitsch) nahe gelegen hätte. Die Ideen von einem „Nullpunkt der Malerei“ und vom Künstler als „Vorurteil der Vergangenheit“, die der Suprematist damals deklarierte, würden die 12 Künstlerinnen, die Kurator Ralf Bartholomäus hier versammelt hat, vermutlich nicht mehr unterschreiben. Auch wenn sie alle so abstrakt und ungegenständlich arbeiten wie er.

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Elisabeth Sonneck: Чёрный без чёрного / Schwarz ohne Schwarz, 2015. Foto: Elisabeth Sonneck / Weisser Elefant

Elisabeth Sonneck beispielsweise hat ein Quadrat als seitlich eingerolltes Blatt auf die grundierte Ausstellungswand gehängt, das gar nicht schwarz ist, sondern nur so wirkt, weil die mehrfach aufgetragenen Blautöne es wie schwarz erscheinen lassen. Je näher man „Чëpный бeз чëpнoгo / Schwarz ohne Schwarz“ kommt, desto stärker löst sich dessen scheinbare Monochromie aber in unendlich viele Nuancen auf. Das Ende der Malerei, dargestellt mit den Mitteln der Malerei – ein sanfter Protest gegen Malewitsch.

Die kluge, konzentrierte Ausstellung belegt, wie diese Ikone der Moderne die zeitgenössische Kunst immer noch inspiriert. Die Emphase, mit der der Künstler vor hundert Jahren rief: „Fliegerkameraden, folgt mir, fliegt! Vor uns erstreckt sich die Unendlichkeit“, ist seinen Kollegen von heute zwar fremd. Die Abstraktion ist heute durchgesetzt. Aber in fast allen Arbeiten der Schau taucht das Quadrat auf. Freilich setzen diese Künstler Malewitschs Symbol nicht apodiktisch, sondern gehen spielerisch damit um.

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Andreas Schmid : Quadrate im Aufbruch, 2015. Foto: Elisabeth Sonneck / Weisser Elefant

In seinen „Quadraten im Aufbruch“ öffnet Andreas Schmidt Malewitschs Symbol zu zwei, auf die Wand gesetzten schwarzen Linien und zwei weißen Leuchtröhren – eine Erinnerung an das Dynamisierungsgebot der Avantgarde. Matthias Stuchtey hat das Schwarze Quadrat als Relief aus einem zersägten IKEA-Regal in ein Relief transformiert. Und Anja Gerecke hat es als „Plateau“ aus MDF-Holzplatte auf den Boden gelegt und mit Gummi überzogen, damit man es betreten, also benutzen kann.

„Aphele Panta / Tu alles weg“ – das Zitat des griechischen Neuplatonikers Plotin, mit dem Bartholomäus die Schau betitelt, trifft nicht nur Malewitschs Forderung, die Kunst von jedem Gegenstandsbezug zu befreien, sie auf die geometrischen Grundformen zu reduzieren. Sie passt auch gut zu dem nüchternen, minimalistischen Grundton der Schau.

Wenn die Künstlerinnen etwas zu begeistern scheint, dann Malewitschs Idee des Immateriellen. Ob man nun Anne Gathmanns Rauminstallation „1/0“ nimmt, in der zwei große, von der Decke bis zum Boden reichende Glasscheiben die Dialektik von Präsenz und Nichtpräsenz und ein Gefühl für Gegenstandslosigkeit aufrufen.

Ob man den weiß gestrichenen Quader „Nichts von allem“ des Installations-Künstler Tilman Wendland nimmt, der an Malewitschs Architekturmodelle erinnert. Und „16. September bis 2. Oktober 2015“, das filmische Protokoll des Lichteinfalls in einem Zimmer der Galerie von Veronika Hingsberg erinnert an Malewitschs „Suprematie der reinen Empfindung“.

„Ich habe mich in den Nullpunkt der Formen verwandelt und bin über Null hinausgegangen“ schrieb Malewitsch 1915. Dass dieser Vorstoß in die vierte Dimension nicht nur ästhetisch, sondern moralisch verstanden werden kann, zeigt das Malewitsch-Zitat, das Andreas Schmidt neben seine Installation gehängt hat. „Der Mensch muss dazu kommen, sein ‘Ich’ in allen Völkern und Nationen zu sehen, damit das furchtbarste aller Übel, die nationalen und rassischen Unterscheidungen, beseitigt werden“ schrieb der große Russe in seiner Schrift „Suprematismus I“ 1922. Diese „Transformation“ ist aktueller denn je.

Ingo Arend

zuerst erschienen in taz vom 13.10.2015

 

AUSSTELLUNG

Tu alles weg. 100 Jahre Schwarzes Quadrat

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Anja Gerecke: Anja Gerecke: Plateau, Installation, 2015. Foto: Anja Gerecke / Weißer Elefant

 

Galerie Weißer Elefant

Berlin

Auguststraße 21

Di – Sa 13 – 19 Uhr

Ein Katalog erscheint zur Finissage.

 

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Ortsbestimmung als Selbstbestimmung. Zum 80. Geburtstag des amerikanischen Minimal-Künstlers und Polit-Aktivisten Carl Andre

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Sculpture “43 Roaring forty” (1968) by Carl Andre at KMM in Otterlo/The Netherlands

Es ist, was es ist

„Alles was ich tue, ist Brancusis Endlose Säule auf die Erde zu legen statt in den Himmel zu stellen.“ Was Carl Andre im Gespräch mit dem amerikanischen Kunstkritiker David Bourdon 1966 zur Kleinigkeit herunterspielt, war in Wirklichkeit eine kleine Kunstrevolution. Am 16. September 1935 in Quincy im US-Bundestaat Massachussetts geboren, gehörte der Künstler immer noch zu den bedeutendster Bildhauern der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Als er im April 1966 137 industriell gefertigte gelblich-weiße Schamottziegelsteine hintereinander aufgereiht auf den Boden des Jewish Museum in New York legte, war der Umbruch des „rumänischen Genies“, wie er sein Vorbild Constantin Brancusi bewundernd nannte, vollendet.

Jahrelang hatte der künstlerische Autodidakt Andre noch Brancusis pyramidenförmiges Muster der zwei spitzwinklig aufeinander gestellten Dreiecke so in schlanke, rechteckige Holzsäulen gekerbt, dass sie wie dessen „Unendliche Säule“ aussah. Bis er vom geraden Weg der „Skulptur als Form“ abwich. „Den Rücken musst Du aber auch noch ausschnitzen, sonst ist es ja keine Skulptur“ hatte sein Mitbewohner in einem verlausten New Yorker Künstlerappartement, der später selbst zu Weltruhm aufgestiegene Künstler Frank Stella, über eine der Stelen gefrotzelt. Andre strich mit den Fingern über den rissigen Holzstamm und befand: „Wieso eigentlich? Der unbehauene Block ist die Skulptur.“ Er zerlegte die aufrechte Plastik zur „Skulptur als Struktur“, baute Brancusis Säule in konvexen Pyramiden aus übereinander geschichteten Holzquadern nach, bis er sie schließlich ganz umlegte.

Folgt man der Künstlerlegende, waren es die die langen, sich unendlich in den Horizont erstreckenden Schienenstränge der Eisenbahn von Pennsylvania, bei der der abgebrannte Andre 1960 bis 1964 als Bremser und Schaffner arbeiten musste, die ihn dazu animierten, von der Horizontale in die Vertikale zu wechseln. „Flach wie Wasser“ wünschte er sich die Skulptur nach einer Kanufahrt über die spiegelnden Flussoberflächen von New Hampshire. Jedenfalls war Andre mit seinem Sockelsturz der Kunstgeschichte, ohne es je zu wollen, bei dem angekommen, was der amerikanische Kunstkritiker Richard Wollheim in einem Aufsatz 1965 zur „Minimal Art“ erklärte und zu denen er Dan Flavin, Donald Judd, Sol LeWitt und Robert Morris zählte.

Die Inkunabel der Kunstgeschichte von 1966 namens „Lever“, die in der kanadischen Nationalgalerie in Ottawa liegt, auch an diese Revolution. „Primary Structures“- der Titel der Ausstellung junger amerikanischer und britischer Bildhauer wurde in den Sechzigern Programm. Ihre gemeinsamen Kennzeichen: industrielle, unbearbeitete Materialien, seriell angeordnete, elementare Formen, das Fehlen jeder Symbolik oder Metaphorik spiegelten sich am deutlichsten in den meist quadratischen Ensembles aus Stahl- oder Kupferplatten Andres, die inzwischen zum Standard der Museumsausrüstungen weltweit gehören.

Mit der in in ihre Einzelteile zerlegten Skulptur hatte Andre die Arbeit des Bildhauers völlig umgekehrt. Nicht mehr der Künstler schneidet ins Material. Sondern die scharf geschnittene Stahlplatte schneidet in den Raum. Die gleichmäßig, ohne Hierarchie angeordneten Platten, von denen keine die andere überragt, demonstrierten Egalität und Demokratisierung der Komposition. Sie lassen kein Platz für trügerische Repräsentationen oder Bildkonventionen. Was manchen als scheinbar hermetisch und geheimnisvoll verschlossene Bedeutungsträger irritierte, sollte aber nichts weiter signalisieren, als das, was es ist. Material. Metall. Spürbar. Sehbar.

Die aufwendige One-Man-Show, die die Kunstmuseen in Krefeld und Wolfsburg 1995 zu Andres 60. Geburtstag durchführten – die weltweit erste große Retrospektive zu seinem Werk – provozierte schon damals die Frage, was von Andre’s in den 60er Jahren entwickeltem und seitdem eigentlich nur variiertem Formenrepertoire bleibt. Der Bildhauer sieht sich selbst gerne in der Tradition eines Rodschenko oder Tatlin. Verglichen mit der seit ein paar Jahren ebenfalls kritischer Revue unterzogenen, himmelsstürmenden, revolutionären Avantgarde vom Beginn des Jahrhunderts, wirkt sein Werk wie eine ausnahmsweise geglückte Revolutionsgeschichte.

Wie die Konstruktivisten, die eine völlig neue Welt samt neuem Alltag aus geschichtslosem Boden stampfen, gar in die Luft hängen wollten, Anhänger der Elementarform, unterschied ihn von diesen immer Offenheit und die Abneigung gegen verpflichtende Festlegungen. Und bei Andre muss das Gleiche nicht gleich sein. Die 1995 in Krefeld nachgebaute Kalksandstein-Installation „Sand-Lime-Instar“ von 1966 macht mit 120 in Farbe und Gewicht identischen Einzelmodulen, den „Equivalents“, die später der amerikanische Kunstfotograf Alfred Stieglitz zum Vorbild seiner Aufnahmen abstrakter Wolkenformationen nahm, nicht nur den negativen Raum zwischen ihnen sichtbar, sondern formt acht völlig unterschiedlich proportionierte Gebilde.

Neun massive Würfel aus Blei und Stahl. Ein kleines Kraftfeld von gerade mal 30 Zentimetern Höhe. Puristisch, trutzig steht Andres neueste Arbeit „2Cu7PB None“ mit der chemische Elementen-Bezeichnung meist auf den Museumsböden dieser Welt. Minimal als Bollwerk gegen die flatterige Postmoderne? Zumindest Andre’s Werk beweist, dass Konzentration, Reduktion und Kontemplation keine Flucht vor unentrinnbarer Vielfalt und Komplexität bedeuten müssen, sondern Felder authentischer Möglichkeiten eröffnen. Wer auf seine Metallskulpturen tritt, den Blick über den offenen Raum schweifen lässt, seine Entfernung zur Wand schätzt, merkt: Bedeutung stellt sich erst ein, wenn man selbst hinzutritt.

Aluminium klingt leichter als Zink, Zink tritt sich weicher als Stahl, Stahl härter als Kupfer. Ort entsteht durch Klang. Das Kunstwerk ist erst vollendet, wenn der Betrachter es begeht, in den Blick nimmt. Die Kunsthistorikerin Doris von Drathen hat Andre’s Selbsteinschätzung seiner Arbeit als „Herstellen von Orten“ mit einer problematischen Anleihe mit Heidegger’s „Stiften von Orten“ verglichen. Doch es geht nicht um mythische Setzungen, sondern darum, ihn zu bestimmen, indem man Relationen setzt. Ästhetische Ortsbestimmung ist der erste Schritt zur Selbst-Bestimmung.

Für die focht Carl Andre nicht nur künstlerisch. Mit dem häufig benutzten Titel „Vater des Minimalismus“ ist Andre nur unzureichend, weil formalistisch beschrieben. Politik, Kunst und Leben bildeten bei ihm eine untrennbare Einheit. 1969 gehörte er zu den Mitbegründern der amerikanischen „Art Workers Coalition“. Diese kapitalismuskritische, gewerkschaftlich orientierte Künstlerbewegung focht mit lautstarkem Aktionismus gegen den Vietnam-Krieg, Rassismus und Sexismus. Im April 1969 verkündete er in einem Manifest, das „Gift des Kunstbetriebes“, „ausdrücken“ zu wollen „wie eine Zigarette“.

Ironie und Tragik der Geschichte ist, dass die Retrospektiven des amerikanischen Künstlers heute zumeist in den erlesensten Tempeln der Kunst in Westeuropa stattfinden. 1967 stellte der Düsseldorfer Galerist Konrad Fischer Andre als erster in Deutschland aus und brachte damit die amerikanische Minimal Art über den Atlantik. In seiner Heimat findet er für sein sperriges und wenig spektakuläres Werk bis heute selten so viel Aufmerksamkeit wie hierzulande. Man könnte sich fragen, was Sponsoren von ihm zu fürchten haben. Ob die Minimal Art wirklich eine fortschrittliche Revolte war, wurde nämlich früh bezweifelt.

Schon 1972 sah die Osnabrücker Kunsthistorikerin Jutta Held in der Minimal Art vor allem Robert Morris’ und Donald Judd’s eine „amerikanische Ideologie“. Ohne eigenständigen künstlerischen Gestaltungsanspruch bilde sie unhinterfragt die Mechanismen und Bedingungen der industriellen Produktion ab, mit denen sich Amerika nach dem Zweiten Weltkrieg zur Weltmacht hocharbeitete. Auch bei Andre lassen sich solche Spurenelemente finden. Mit seinen Stahlplatten, die im Freien oxydieren und Spuren der Verwitterung zeigen sollen, will er sich „den Bedingungen der Welt unterwerfen“. Andre wehrt sich bis heute gegen die Einordnung in die Riege der Konzeptkünstler, sprach von „Kunst als gestilltem Verlangen“, von „Kunst-Wünschen“ statt von „Kunst-Ideen“.

Auch diese Selbsteinschätzung kann man bezweifeln, wenn man an die drei Tonnen schwere Skulptur aus 1296 Metallplatten denkt, die er vor 20 Jahren in Wolfsburg ausbreitete. Aus 99 Prozent reinem Zink, Zinn, Blei, Aluminium und Stahl sind sie in einer komplizierten Reihenfolge so angeordnet, dass sie die Wertigkeit dieser Elemente im Periodensystem abbilden und wie eine Bach’sche Fuge mögliche Verbindungen zwischen ihnen bildlich variieren. Andre‘s Hommage an den russischen Naturwissenschaftler Mendeleev.

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screenshot website (Ausschnitt) turnercontemporary.org

Trotz solcher Widersprüche überlebt Carl Andre‘s Kunst als Ökologie der und Autonomie von Wahrnehmung. Der Mann, der eine konventionenbrechende Kunst „ohne jegliche menschliche Assoziationen“ schaffen wollte, meinte in Krefeld: „Die Menschen müssen in Berührung bleiben, sich verlieben, einander in die Augen schauen“. Es ist die Primär- und Elementarerfahrung von Andre’s Kunst, die heute schockierend aktuell anmutet: die von Masse und Materialität im optischen Zeitalter mit seiner Omnipräsenz täuschender und gestellter Bilder, die von Ortsbestimmung in ortsloser Welt, die der gestürzten und zur Linie gestreckte Skulptur als Initiator für einen beweglichen, nicht festlegbaren Blickpunkt in wieder festlegungssüchtigen Umbruchzeiten.

Was als Gegenbewegung zu dem leergelaufenen, egozentrischen Lyrismus der abstrakten Expressionisten wie Jackson Pollock entstand, entfaltet heute neue Kraft im Umfeld multimedialer Reizüberflutung und übermütiger Neo-Neofiguration. So lässt man sich Materialismus gefallen. „Meine Kunst“, sagte Carl Andre 1970 im Gespräch mit der amerikanischen Kunstkritikerin Phyllis Tuchman, „entsteht aus dem Begehren, Dinge in der Welt zu haben, die bestätigen, dass man auf der Welt ist.“

Ingo Arend

 

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Die Contemporary Istanbul 2015 erweitert die türkische Öffentlichkeit

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Kunstmarkt. Zwischen Bling-Bling-Kitsch und sozialem Event.

Die Istanbuler Kunstmesse CI erweitert die türkische Öffentlichkeit. In diesem Jahr feierte sie zehnjähriges Jubiläum.

von Ingo Arend

hier hören

screenshot ARD Mediathek

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Teaser auf  der getidan Startseite zeigt einen Ausschnitt aus: INSEKTEN

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© 2001 – 2015 Erik Weiser unless otherwise specified

 

 

 

 

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Die 10. die Kunstmesse „CI – Contemporary Istanbul“

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Burhan Kum: Once I was a dictator II. Öl und Tusche auf Leinwand, 2015. Foto: The Empire Project

Die 10. CI-Kunstmesse in Istanbul liebt den Kitsch und ist ein Stimmungsbarometer für die Lage im Lande nach den Wahlen.

Einmal war ich ein Diktator

Zwischen Depression, Sarkasmus und Durchhaltewillen

„Imitation einer Zeitung“. Die Idee hätte von den Yes Men sein können, wegen der Ende vergangener Woche in Istanbul die Polizei ausrückte. Mit einer Razzia beschlagnahmte sie die Ausgaben zweier Zeitungen namens „Özgür Bugün“ und „Özgür Millet“. Oppositionelle Medienmacher hatten mit den Fake-Editionen der Zeitungen „Bugün“ und „Millet“ dagegen protestiert, dass die Regierung diese kurz vor den Parlamentswahlen von Sicherheitskräften hatte stürmen und die Redaktion auf Linie bringen lassen. „Özgür“ bedeutet im Türkischen „frei“.

Ganz ist der Wille dazu also noch nicht verschwunden in der Türkei. Auch wenn Präsident Erdogan und seine AK-Partei nach ihrem überraschenden Wahlsieg triumphieren. Und als Ausdruck dieses Drangs war wohl das Happening wenige Kilometer Luftlinie entfernt von der Polizeiaktion zu deuten. Vier Tage lang feierte die Kunstmesse „CI – Contemporary Istanbul“ vergangene Woche im Kongresszentrum in der Nähe des Taksim-Platzes ihr zehnjähriges Jubiläum.

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Ludovic Bernhardt: Drones Dresser. Porzellan. Leuchtröhren, 2013. Foto: Ingo Arend

Die Schau, die der Tourismusunternehmer Ali Güreli 2005 aus der Taufe hob, ist ein Paradox. Mit einer aggressiven, weltweit geführten Marketing-Offensive hat Güreli sein „Baby“ unter die zehn größten Messen der Welt gehievt. Kaum eine internationale Kunstmesse, auf der er nicht ein Dinner gab, kaum ein Land dieser Erde, für das er nicht einen „CI-Ambassador“ ernannte. Das Ergebnis spricht für den rastlosen Einsatz des umtriebigen Business-Mannes.

In diesem Jahr brachte es die Messe auf die unerwartete Rekordbeteiligung von 86.000 Besucher, über 100 Galerien kamen diesmal, davon 65 aus dem Ausland. Damit hat sie Messen wie die Art Miami, die Art Basel, die Fiac oder die Arte BA in Buenos Aires, mit der sie bislang ungefähr gleichauf lag, hinter sich gelassen. Nur die Arco in Madrid (92.000 Besucher) ist jetzt noch größer.

Zumindest für den Kunstmarkt hat die CI damit die Aufholjagd zu den zehn führenden Weltwirtschaften vorweggenommen, die Präsident Erdogan der Türkei bis zum 100. Republikjubiläum 2023 verordnet hat. Was nicht heißt, dass die CI politisch auf Seiten der AKP-Regierung zu verorten wäre. Auch wenn Beobachter der Szene Gürelis „Ambassador-at-large“, seinem Mitstreiter Hasan Bülent Kahraman, einem umtriebigen Kurator Ambitionen auf das Amt des Kulturministers im neuen Kabinett Ahmet Davutoglu nachgesagt werden.

Diesen Rekord verdankt die Messe aber weniger ihrer Qualität. Seit ein paar Jahren schmückt sie sich mit einem Diskurs-Programm mit dem Namen „CI-Dialogues“, bietet kuratierte Sonderschauen zu Performances und demonstriert mit der (leider im Kellertrakt platzierten) Sektion „Plug-in – New Media“ äußerste Zeitgenossenschaft. Doch trotz eines ernstzunehmenden Zulassungs-Ausschusses regieren auf der CI Werke von farbenfrohem Kitsch und schillernde Kostbarkeiten.

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Carole Feuerman: Butterfly Capri. Öl auf Harz, 2013, Foto: CI Istanbul

Kaum ein Besucher, der nicht vor Carole Feuermans 160.000 Dollar teuren „Christina“, der lackierten Harzskulptur einer Frau im geblümten Badeanzug, ein Selfie schoss. Oder vor dem 12 Jahre alten und 600.000 Dollar teuren Banksy-Werk der zwei küssenden Polizisten bei der Londoner Galerie Lazarides posierte. Gegen diesen buntscheckigen Basar hatten es in Istanbul erstmals vertretene deutsche Galerien wie Johann König, Daniel Marzona oder Stefan Koal (alle Berlin) mit ihrem asketischen Konzeptualismus schwer.

Dennoch hat man nicht den Eindruck, als kümmerte das den Messechef Ali Güreli. Für ihn heißt ganz offensichtlich: Hauptsache, die Hütte ist voll. Und es ist genau dieser Massenandrang, der der Messe eine Verankerung in der türkischen Gesellschaft, insbesondere aber in Istanbul verschafft, die ihre entscheidende Stärke im Wettkampf mit denjenigen ausmacht, die Istanbul nun auch als „international art hub“ ausgemacht haben.

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Banksy: Kissing Coppers. Acryl und Sprühfarbe auf Leinwand, 2005. Foto: CI Istanbul

Die Messe boomt nämlich auch genau deswegen, weil sie als Ventil einer Gesellschaft unter immer stärkerem, islamischem Formierungszwang dient. In Antalya dürfen die Besucher des Filmfestes nicht mehr in zerfetzten Jeans und T-Shirt erscheinen. In Adana darf sich ein anderes nicht mehr nach dem Nationalgetränk Raki nennen. Da wächst das Bedürfnis nach einer unkonventionellen Öffentlichkeit mit ästhetischen Überraschungswerten.

Auch das sollte man ohne jeden Hochmut zur Kenntnis nehmen. Für diese feiersüchtige „crowd“ scheint die Frage zu gelten, die der Schweizer Künstler Daniele Buetti auf einen seiner zum Verkauf angebotenen Leuchtkästen schrieb, die „Is beauty just the promise of happiness?“. Kein Wunder, dass sich die Besucherschlange zur CI-Vernissage am 11. November vom Messegelände bis hinauf ins Nobelviertel Nişantaşı zog.

Echte Entdeckungen auf dem buntscheckigen Basar, den sie stürmten, sind selten. In diesem Jahr überzeugte der eigenwillige Ihsan Oturmak. Seine Ölbilder stummer Menschengruppen rufen das gestörte Verhältnis von Individuum und Masse in der Türkei auf. Es sagt etwas aus auch über die liberale Kunstszene in der Türkei, dass der 28-jährige Kurde nur über den Umweg der „emerging“ Karavil-Galerie aus London den Weg ins Kunstgeschehen seiner Heimat fand.

Die auf der CI traditionell stark vertretene, politische Kunst machte sich diesmal rar. Mit Gasmasken aus Fell demonstrierte die pakistanische Künstlerin Mehwish Iqbal, wie solche Accessoires Teil des Lebensalltags geworden sind. Die Istanbuler Galerie Sanatorium bot eine Serie von Porzellantellern mit den aufgebrannten Typenbezeichnungen von Angriffsdrohnen feil. Ludovic Bernhardt prangert damit den immer währenden Krieg an, den diese lautlosen Wunderwaffen eingeleitet haben.

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Mehwish Iqbal: Ordinary People. Objekte, Fell, 2015, Foto: Ingo Arend

Manchmal war vorauseilende Vorsicht die Mutter der Provokation. Xavier Laboulenne aus Berlin hatte die homoerotischen Comics von Gengoroh Tagame mit grauem Seidenpapier verhängt. Was die Sache auch wieder spannend machte. Dass vor allem Besucherinnen den Schleier vor den Werken abenteuerlich penetrierter Männer lüfteten, war womöglich kein Zufall. In der Macho-Gesellschaft Türkei werden fast täglich Frauen umgebracht oder vergewaltigt. Auf Tagames Bilder konnten sie betrachten, wie das „starke Geschlecht“ zum Objekt sexueller Gewalt wird.

Immerhin funktioniert die Messe als Stimmungsbarometer nach den Wahlen. „Wie konservativ dieses Land doch ist“, seufzte Bige Örer, die Direktorin der Istanbul-Biennale enttäuscht. „Etwas Besseres als das iranische Modell kann uns gar nicht passieren“ frotzelte dagegen der Istanbuler Galerist Kerimcman Güleryüz über die anschwellende Auswanderungs-Debatte unter türkischen Intellektuellen und der liberalen Bourgeoisie.

„Eine reiche Diaspora“ argumentiert er, „kann der türkischen Kunst besser helfen“. „Nach den Wahlen hatte ich natürlich auch so einen Moment absoluter Hoffnungslosigkeit“ gestand die junge Künstlerin Hera Büyüktaşçıyan, die einen armenisch-griechischen Hintergrund hat, auf der abendlichen Party eines Istanbuler Kunstsammlers. „Bis ich begriffen habe, dass sie genau das wollen. Dagegen hilft nur weiter kreativ zu sein, Kunst machen“.

Im privaten Rahmen präsentierte Büyüktaşçıyan, die im Sommer während der Biennale schon im preisgekrönten armenischen Pavillon auf der Insel San Lazzaro degli Armeni ausgestellt hatte, ihre neueste Arbeit „The stranger in my throat“: Die Installation einer Reihe von kurzen Holzstäben, die sie in Form einer großen, gewundenen Fischgräte von einem Klavier herunter gleiten lässt. Die Gräte steht dabei für das, was den Menschen bewusst oder unbewusst im Hals stecken bleibt. Mit der Arbeit hatte sie eine bestechende Metapher für die Denk- und Sprechblockaden, für die verborgenen, unterdrückten Aspekte der Erinnerung gefunden, die auch den öffentlichen Diskurs in der Türkei bestimmt – heute mehr denn je.

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Besucherszene auf der CI Istanbul. Foto: CI Istanbul

„Was die Kunst anbetrifft, sind sie eher indifferent“ versucht Seyhan Musaoğlu die Betreiberin des „Space Debris“-Projektraums in Karaköy die Haltung der regierenden AK-Partei zu beschreiben. Der kleine Art-Space bemüht sich um einen “innovative dialogue with a collective soul“ und fördert neue medienkunst und interdisziplinäre Projekte. Wir werden einfach weiterarbeiten wie bisher und um Unterstützung für unsere Projekte werben. So lange, wie sie nicht direkt attackiert werden, ist von ihnen nichts zu befürchten. Sie betrachten die Kultur sowieso mehr unter dem Toruismus-Aspekt.“

„Wir werden niemals aufgeben“ skandiert dagegen lautstark Bedri Baykam, die lebende Legende der modernen türkischen Kunst. Der 1957 geborene Künstler, der kurz vor der Messe zum Präsidenten der „International Association of Arts (IAA)“ gewählt wurde und an Istanbuls Taksim-Platz sein privates „Piramid“-Kunstcenter betreibt, war einst Präsidentschaftskandidat der sozialdemokratisch orientierten Oppositionspartei CHP und gilt als hartnäckiger Kemalist.

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Alex Folla: Football Prayers, Turkey. Öl auf Leinwand, 2014. Foto: Galerie Sparta

Mit derart gemischten Gefühlen stellen sich am Bosporus also alle „four more years Erdogan“ ein. Der Istanbuler Maler Burhan Kum hat das Trauma auf den Punkt gebracht. „Once I was a dictator“ heißt sein neuestes Werk, das er am Stand von Güleryüz‘ Galerie „The Empire Project“ präsentierte.

Auf dem Schwarzweißbild aus Tusche und Öl brennen die Ufer des Bosporus, ein Schiff versinkt und ein Stadtteil explodiert, während sich vor der Katastrophenkulisse seelenruhig eine ottomanisch gewandete Figur fläzt. Es wird sich zeigen, ob demnächst die türkische Polizei wegen der „Imitation“ eines römischen Kaisers ausrückt.

Ingo Arend

Eine kürzere Version des Artikels erschien in der taz vom 17.11.2015

http://contemporaryistanbul.com/

 

 

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Im Herbst feierte die Zeitschrift „Texte zur Kunst“ 25-jähriges Jubiläum.

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Knotenpunkt der Diskurse

Im Herbst feierte die Zeitschrift „Texte zur Kunst“ 25-jähriges Jubiläum. Sie hat die Kunstgeschichte auf neue theoretische Füße gestellt.

„Vollkommen wirkungslos“. Auf einem Symposium 2010 im Berliner Theater Hebbel am Ufer zog der amerikanische Kunsttheoretiker Benjamin H. D. Buchloh ernüchtert Bilanz. Nichts, was sich der Kunstmarkt nicht einzuverleiben vermöge, lamentierte ein enttäuschter Geistesheroe auf der Jubiläumsveranstaltung zu 20 Jahre Texte zur Kunst. Er sei nichts als eine ohnmächtige Randfigur des Betriebs. Die amerikanische Kritikerin und Konzeptkünstlerin Andrea Fraser, ebenfalls zu Gast, überlegte sich gar, in die Psychotherapie zu wechseln.

Buchlohs Urteil wiegt schwer. Wenn es noch einen Kunstkritiker gibt, dem man so etwas wie kritische Wirkungsmacht zugestehen wollte, dann dem 1941 geborenen Harvard-Professor und Gerhard-Richter-Spezialisten. Sein Verdikt hätten sich die Gründer von Texte zur Kunst 1990 sicher nicht träumen lassen.
Trug der Titel der Zeitschrift, die der Kunsthistoriker Stefan Germer, Jahrgang 1958, und die Politologin Isabelle Graw, Jahrgang 1962, Ende 1990 in Köln aus der Taufe hoben, doch demonstrativ das Bekenntnis zu Kritik und Theorie vor sich her.

Texte zur Kunst klang wie eine Adaption von André Bazins Cahiers du Cinéma. Vorbild war jedoch die amerikanische Zeitschrift October, für die Germer während seines Studiums in Chicago geschrieben hatte. Die wiederum war nach dem Eisenstein-Film October – Ten Days, that shook the world von 1928 benannt, der in der UdSSR wegen „Formalismus“ verpönt war.

Mit dem Blatt hatte die amerikanische Kunstkritikerin Rosalind Krauss 1976 ein progressives Organ für die Kritik zeitgenössischer Kunst und populärer Kultur geschaffen. Zu dessen Autoren zählte, neben Buchloh, auch der amerikanische Kritikerpapst Hal Foster. Die Entstehungsgeschichte von Texte zur Kunst (TzK) ist also auch die Geschichte eines transatlantischen braindrains undogmatischer Prägung.

Mit diesem Vorbild wurde TzK zum Pionier der „Kunstwissenschaft“, in die sich die Kunstgeschichte während der 90er Jahre verwandelte. Mit Social History, Gender Studies, französischem Poststrukturalismus und Psychoanalyse statt betulicher Stilkritik wollten ihre Macher das Fach auf neue theoretische Füße stellen. Auch ihre Macher beflügelte die Idee von der Ästhetik als neuer Leitwissenschaft der Postmoderne. Der amerikanische Kunsttheoretiker W.J.T Mitchell sah sie gar von einer marginalen Position ins intellektuelle Zentrum aufsteigen.

TzK verstand sich dabei aber immer als „links“. So bekräftigte es Graw, heute zur respektierten, aber immer streitlustigen Kunsttheorie-Professorin an der Frankfurter Städel-Akademie aufgestiegen, noch 2010, zum 20-jährigen Jubiläum. Dem Duo Germer und Graw ging es aber immer um zeitgemäße Gesellschaftskritik jenseits der alten Ideologiekritik oder eines überholten Agitprop.

In einem heute noch lesenswerten Aufsatz über die „Verlorene Ästhetik der neuen Linken“ befand ihr Mitstreiter, der junge Kunsthistoriker Tom Holert 1992, „der versteinerte Diskurs der moralischen Imperative und Authentizitätspostulate hat die Linke und ihr Kulturverständnis gänzlich inakzeptabel werden lassen“. Beharrte aber auf der „Ästhetik als Feind allen Herrschaftsdenkens und jeder instrumentellen Vernunft“.

TzK ist also ein markantes Beispiel für den Versuch eines Teils der linken Intelligenz, sich nach dem Epochenbruch 1989 neu zu orientieren. Unter dem Motto: „Kultur der Politik, Politik der Kultur“ wollte auch die, ebenfalls 1990 gegründete, Wochenzeitung Freitag Politik und Ästhetik zu einer neuen, gesellschaftskritischen Masse verschmelzen.

Irgendeiner sterilen Ableitungsrhetorik zog TzK die „Vorführung extremer Sachverhalte“ vor. Programmatisch hieß der Titel der ersten Ausgabe im September 1990 „Avantgarde und Massenkultur“. Die Filme David Cronenbergs wurden genauso seziert wie die französische Salonmalerei Ende des 19. Jahrhunderts oder die legendäre Vogue-Chefin und Mode-Ikone Anna Wintour.

Immer ging es um Ästhetik und Politik. „Ausstellungsmodelle zwischen Display und Animation“ standen ebenso zur Debatte wie die deutsche Leitkultur. Ein Musterbeispiel des kreativen Theorie-Crossovers war der Versuch, mit dem „Apparate“-Begriff Walter Benjamins oder Louis Althussers die „Materialität der kommunikativen Prozesse“ wieder sichtbar zu machen, die der diffuse Begriff „Medium“ verwischte.

So etwas wie „Macht“ ortete die Zeitschrift nicht nur in der Politik, sondern auch im Kunstbetrieb selbst. „Feld“, „Kontext“ und „Institutionenkritik“ waren die Stichworte der Stunde. Kein Wunder, dass der französische Soziologe Pierre Bourdieu „Haustheoretiker“ (Graw) des Blattes war und nicht der Systemanalytiker Niklas Luhmann. Die Texte-Gründer sahen sich als „Entmystifizierer“ und „Transparenzmacher von Produktionsbedingungen“ von Kunst.

1992 hatten „Germer&Graw“, so der Titel einer gemeinsamen Kolumne, den damaligen FAZ-Kritikerpapst Eduard Beaucamp ins Kreuzverhör genommen, weil er dem Maler Jörg Immendorff mangelndes „Handwerk“ vorgeworfen hatte. („Ich bin kein Konservativer. Wir gehören zur 68er-Generation“ verteidigte sich der Kritiker während des Gesprächs.Der französischen Kuratorin Catherine David warfen sie vor, ihre Kritik des konservativen Kunstbetriebs nur vermöge der ihr verliehenen Macht als Kuratorin der Documenta 1997 in Szene setzen zu können.

Mit anderen Kunstmagazinen teilte TzK das Problem, etwas zu kritisieren, in das es selbst involviert war. Die Zeitschrift finanziert sich bis heute auch über Editionen befreundeter Künstlerinnen. Kritiker sehen darin die logische Folge ihrer ambivalenten Haltung zum Markt. Verwünschungen der „totalisierenden Kulturindustrie“, wie sie TzK-Intimus Benjamin Buchloh in der Zeitschrift wiederholt ausstieß, hatte Stefan Germer, 1998 mit gerade 40 Jahren an Leukämie verstorbene Hoffnung seiner Zunft, in einem Interview einmal kühl entgegen gehalten: „Statt Feindbilder zu pflegen, sollte man neu theoretisch untersuchen, was passiert wirklich mit Kunst, wenn sie sich auf den Markt begibt? Da sind die klassischen marxistischen, neomarxistischen und sozialgeschichtlichen Entwürfe überholt.“

Diese Haltung hatte TzK aber nie von geharnischter Grundsatzkritik abgehalten. 1992 attackierte Rosalind Krauss in einem Essay „Die kulturelle Logik des spätkapitalistischen Museums“. Noch heute wirbt TzK mit Germers Fundamentalkritik der Weltkunstschau als „anachronistisches Ritual“ von 1992.

Mag sein, dass der sperrige Furor der frühen Jahre sich verlor, die Sprache bleierner, akademischer wurde, als die Zeitschrift dazu überging, Schwerpunktthemen wie „Bohéme“, „The Curators“ oder „Neokonservatismus“ zu ventilieren. Zudem hatte TzK stetig mit dem nicht ganz unbegründeten Verdacht zu kämpfen, Organ der Selbstverständigung einer tendenziell selbstreferenziellen Szene zu sein. Mit einer Auflage von zuletzt 5000 Exemplaren entfaltet man auch schwerlich kulturelle Hegemonie. Und 25 Jahre und 100 Ausgaben später fühlt sich TzK-Gründerin Graw, wie sie kürzlich im Netz seufzte, „wie eine Veteranin“.

Ihre Zeitung sieht überhaupt nicht so aus. Sie ist ein kleiner, aber einzigartiger Knotenpunkt der Diskurse. Von Beginn an schrieben hier heute tonangebende Kunsthistorikerinnen wie Sabeth Buchmann oder Clèmentine Deliss, Musiker wie Jan Distelmeyer und Dirk von Lotzow oder Pop- und Theorievernarrte wie Diedrich Diederichsen und Mark Terkessidis.

Ende November feiert die Zeitung in Berlin ihr 25-jähriges Jubiläum mit einem Symposion zum „Kanon“. Die Idee dahinter, die Zeitschrift habe „ihren eigenen Kanon geschrieben“, klingt weniger anmaßend, wenn man das jüngste Buch der FAZ-Kunstredakteurin Julia Voß liest. So wie die Journalistin, Jahrgang 1974, in „Hinter weißen Wänden“ Kunstgeschichte als „Sozialgeschichte der Kunst“ definiert, klingt das wie ein Echo des frühen TzK-Rufs nach „Social History“. Weniger Erfolg dürfte das Blatt bei dem Versuch gehabt haben, die „verlorene Ästhetik der neuen Linken“ zu dynamisieren.

Deren moralische Postulate feiern gerade ein furioses Revival in den Aktionen des „Zentrums für politische Schönheit“. Den Aktivisten dieser brachialen Symbolpolitik dürften Isabelle Graws Differenzierungsbemühungen im jüngsten TzK-Heft zu „Photography“ lächerlich skrupulös vorkommen. Das „Subjekt, das sich im Selfie ständig neu erfindet und verändert“ sei „durchaus souverän, weil es sich sein Leben nicht völlig von der neuen Ökonomie aus der Hand nehmen lassen will“, schreibt die Texte-Herausgeberin dort. Vollkommen wirkungslos ist dieser Ansatz deshalb nicht.

Ingo Arend

https://www.textezurkunst.de/

Eine kürzere Version des Artikels erschien in: der freitag vom 5.11.2015

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Die Documenta 14 hat ihr neues Magazin „South as a state of mind“ gelauncht. Eine Kurzlektüre.

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south350Nach Süden

Das „Land, wo die Zitronen blüh’n, im dunkeln Laub die Gold-Orangen glüh’n“ war es sicher nicht, das Adam Szymczyk vorschwebte, als er den „Süden“ vergangenes Jahr zu einer Zentralkategorie der Documenta 14 erhob. „Learning from Athens“, das Motto der Schau im Frühsommer 2017, war nicht als Signal für den Rückzug in das Arkadien gedacht, wo Hirten Flöte und Mädchen mit Lämmern spielen. Sondern als Aufbruch der Kunst in die Konflikte der Gegenwart: Schuldenpolitik, Globalisierung und das Elend der Flüchtlinge.

Wie dieser Aufbruch von statten gehen soll, lässt sich nach der ersten Ausgabe der neuen Documenta-Zeitung noch nicht so ganz genau sagen. In „South As A State of Mind“, dem 2012 von der griechischen Kuratorin Marina Fokidis gegründeten Kunstzeitschrift, die nun zur publizistischen Plattform der Schau avancierte, spricht ihr Chef zwar davon, dass sich die „wirtschaftliche und humanitäre Krise in Europa verschärft“ habe. Und die griechische Kulturwissenschaftlerin Angela Dimitrikaki sorgt sich, dass die europäischen Massen trotzdem kein „radikales politisches Bewusstsein“ entwickelten. Das „Theater der Aktionen“, mit dem Szymczyk bei der Documenta die Betrachtung von „Artefakten“ ersetzen will, bleibt aber nur eine interessante Formel.

Einige der 20 Aufsätze dekonstruieren zumindest theoretisch schon mal die Verhältnisse. Die französische Politologin Francoise Vergès mahnt, den „Süden nicht zu idealisieren“. Während die Schweizer Dichterin Miriam Cahn diese Himmelsrichtung in dem Gedicht „Mare Nostrum“ als Zuflucht ihrer Familie vor den Nazis beschwört. Er sei aber auch, so Vergès in einem Rückblick auf ihre Kindheit in der französischen Kolonie Réunion, ein Raum der Entrechtung, Vertreibung und Diskriminierung. Luzide entlarvt der Berliner Architekt Aristide Antonas Athen, die Ikone der Antike und der Demokratie, als eine architektonische Herrschaftsprojektion des Nordens, die die osmanische Provinzhauptstadt ausradierte, heute aber den digitalen Finanzströmen zum Opfer fällt.

Manche Texte dieser „gegenhegemonialen Bibliothek für die Schlachten von heute“ (Szymczyk) sind ohne erkennbaren Bezug zur Documenta: Paul B. Preciados Geschichte der Sexualität in Europa. Manche winken mit dem Zaunpfahl des Widerstands: Kurator Bonaventure Soh Bejeng Ndikung hat eine Rede zum Schuldenboykott ausgegraben, die Thomas Sankara, damals Staatschef von Obervolta, 1987 vor der Organisation Afrikanischer Staaten hielt. Linda Nochlins Überlegungen zu Gustave Courbets „Bettelweib“ lassen die ästhetischen Präferenzen der Documenta erahnen. Einen Vorteil hat die Lektüre dieser spannenden Materialsammlung: Man kann an sich selbst studieren, wie sich ein „Lernprozess wie ein Aufstand“ (Audre Lord) entwickelt.

Ingo Arend

taz vom 4.12.2015

 

website (Ausschnitt)

website documenta 14 680

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Ausstellung in Istanbul: Šejla Kamerić –„When the heart goes Bing Bam Boom“

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Šejla Kamerićs Arbeit “Liberty” im Schaufenster des Arter Kunstraums in Istanbul. Foto: Ingo Arend

 

Der fragile Sinn für Hoffnung

Mit „When the heart goes Bing Bam Boom“ richtet der Istanbuler Kunstraum Arter der bosnischen Künstlerin Šejla Kamerić eine große Retrospektive aus.

Was würde passieren, wenn ein europäisches Land wirklich seine Grenze schlösse? In San Marino konnte man es vor 13 Jahren studieren. Am 19. Juni 2002, morgens um sieben Uhr, schloss für genau eine halbe Stunde die Grenze zwischen dem Zwergstaat, der nicht der EU angehört und seinem Nachbarn Italien.

Was als Kunstaktion gedacht war, endete in einem echten kleinen Volksaufstand. Erst empörten sich die Menschen über die Verkehrsblockade. Bis sich die Diskussionen zwischen dem Grenzzaun in einen lautstarken Protest gegen Grenzen überhaupt verwandelten.

„Closing the border“, das Video, das die bosnische Künstlerin Šejla Kamerić von ihrer Intervention im öffentlichen Raum machte, sollte man vielleicht beim nächsten CSU-Parteitag zeigen. Dann würden sich die politischen Populisten ihre Slogans womöglich noch einmal überlegen. Im Istanbuler Kunstraum Arter, wo der Streifen derzeit zu sehen ist, fand die Arbeit jedenfalls lebhaftes Interesse beim Publikum.

Die erste große Retrospektive von Kamerić reicht 15 Jahre zurück. 36 Arbeiten der 1976 in Sarajevo geborenen Künstlerin hat die Kuratorin Başak Doğa Temür in einem klug komponierten Parcours in dem Kunsthaus der Industriellenfamilie Koç auf Istanbuls beliebter Einkaufsmeile İstiklâl Caddesi versammelt. Und doch meint man plötzlich mitten in den Konfliktzonen des Europa von heute zu sein: Flucht, Krieg und Bürgerkrieg, das schikanöse Grenzregime, die Bedrohung der Freiheit.

Die problematischen Selektionsmechanismen, die dabei angewandt werden, hatte Kamerić schon 2000 bei der Manifesta 3 in Ljubljana thematisiert. Fußgänger, die die berühmte Tromostovje-Brücke überqueren wollten, mussten sich entscheiden, unter welchem Schild sie passieren wollten: „EU-Citizens“ oder „Others“.

Identität, Rolle, Herkunft sind für Kamerić freilich keine bloß akademischen Fragen. Sie hat sie am eigenen Leib zu spüren bekommen. Bekannt geworden ist sie 2003 mit ihrer Arbeit „Bosnian Girl“. Bei ihren Recherchen zu dem Völkermord an den bosnischen Muslimen in Srebrenica stieß sie auf das Graffiti “No teeth…? A mustache…? Smel like shit…? Bosnian Girl!“, das ein unbekannter niederländischer Soldat der berüchtigten UNPROFOR-Einheiten an einer Baracke hinterlassen hatte.

Kamerić übertrug den rassistischen Spruch auf ein Plakat, unterlegte ihn mit ihrem eigenen, besonders fotogenen Porträt. Die Arbeit illustriert exemplarisch, wie die gelernte Grafik-Designerin mit Hilfe der Werbeästhetik nicht nur nationale Stereotype unterläuft. Inzwischen ist das Plakat zur Ikone junger Frauen auf Facebook .

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Šejla Kamerićs Arbeit “Bosnian Girl” im Arter Kunstraum in Istanbul. Foto: Ingo Arend

 

Immer wieder betont Kamerić, dass es nicht der Bosnienkrieg mitsamt seinem Völkermord allein war, die sie zur Künstlerin werden ließ. Ihr Vater starb während der Kämpfe. Ein Foto von 1993 zeigt die 17 Jährige im schwarz ausgebombten Sarajevo. Wie stark ihr diese Erfahrung heute noch unter der Haut sitzt zeigt „June is June everywhere“ aus dem Jahr 2013.

Die Arbeit hat Kamerić nicht zufällig mit „Selbstporträt“ untertitelt. Eine Wand des Kunsthauses ist mit Bildern derselben Schwarzweiß-Fotografie übersät. Sie zeigt die Einschusslöcher auf der Hauswand, auf die sie von ihrem Schlafzimmer im Haus ihrer Eltern in Sarajevo schaute.

Kein Wunder, dass sie sich daran gemacht hat, dieses dunkle Kapitel europäischer Geschichte aufzuarbeiten. Im Keller von Arter kann man das 85 Stunden umfassende Videomaterial sichten, das sie während einer zweijährigen Recherchereise zu Massengräbern, Konzentrationslagern und Augenzeugen in Bosnien unter dem Vergil-Spruch „Ab uno disce omnes – Von einem lernen wir alles“ zusammengetragen hat.

Trotz dieses Ausflugs ins Dokumentarische – ihre Kunst gerät Kamerić nie zur klassischen Antikriegs- und Erinnerungsästhetik, sondern gewinnt ihnen einen paradoxen Moment von Schönheit ab. In der Arbeit „Fragile Sense of Hope“ überführt sie die Kreuze aus Plastikstreifen, mit denen Bewohner von Spannungsgebieten ihre Fenster vor Explosionen schützen, in eine abstrakte Form: Gold auf Glas.

 

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Šejla Kamerićs Arbeiten “Liberty” und “BFF-Best Friends Forever” im Schaufenster des Arter Kunstraums in Istanbul. Foto: Arter

 

„When the heart goes Bing Bam Boom“ – der Titel der Ausstellung stammt von einem Punkrock-Song und ruft diese schmale Grenze zwischen Hoffen und Bangen auf. Auf ihr balancieren seit Jahrzehnten auch die Menschen in der Türkei. Die politische Botschaft von Kamerić neuester Arbeit „Liberty“ in dem großen Schaufenster des Kunsthauses dürfte für sie auf Anhieb verständlich sein.

Die sieben weiß strahlenden Neonbuchstaben locken mit der Hoffnung auf dieses fragile Gut. Die Stacheln, mit denen sie bewehrt sind, zielt auf die Ausrede, mit der alle Mächtigen es zu zähmen suchen: Freiheit muss eben auch beschützt werden.

Ingo Arend

taz vom 15.12.2015

 

AUSSTELLUNG

Šejla Kamerić: When the heart goes Bing Bam Boom

Arter. Istanbul

noch bis zum 28.2.2016

Katalog 20 Euro

http://www.arter.org.tr/W3/

 

 

 

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Documenta 14 – von Athen lernen

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Die wichtigste Kunstschau der Welt: die Documenta erlebt ihre 14. Auflage im Jahr 2017 als Premiere und als Forum der Krisenreflexion an zwei Orten gleichberechtigt in Kassel und Athen.

in DE Magazin Deutschland 3/2015 lesen

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Das Istanbuler Kunsthaus “Salt” schließt – angeblich aus technischen Gründen

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Türkische Kunstszene: Vorstellung von Gesellschaft

Istanbuls Kunsthaus “Salt” schließt, angeblich aus technischen Gründen. Und doch drängt sich der Eindruck auf, dass politischer Druck ausgeübt wurde auf eine dezidiert kritische Kultur-Institution.

Heruntergelassene Rolläden, die drei Eingangstüren verschlossen. Wer Istanbuls Einkaufsmeile İstiklal Caddesi entlangschlendert, stutzt. Denn an dem eleganten weißen Bürgerhaus mit der Hausnummer 136, wenige Schritte von der historischen Tünel-Bahn entfernt, sind die sonst tagtäglich weit geöffneten Glastüren geschlossen. Seit Beginn des Jahres hat “Salt Beyoğlu”, das mondäne Kunst- und Ausstellungshaus, geschlossen. Besucher werden auf den zweiten, kleineren Standort von “Salt” in dem historischen Gebäude der Ottoman-Bank in Galata verwiesen.

“Die coolste Stadt der Welt”. Nur zehn Jahre ist es her, dass das US-Magazin Newsweek die Stadt am Bosporus mit diesem Ehrentitel belegte. Und damit war nicht nur die Party- und Lifestyle-, sondern vor allem die neue Kunstmetropole gemeint. Gleichzeitig mit der vorsichtigen Demokratisierungsperiode Anfang der 2000er-Jahre war auch Gründerzeit für Galerien, Messen und Kunstsammlungen. Geht es diesem Kunstwunder am Bosporus jetzt an den Kragen?

“Technische Gründe” seien verantwortlich für die temporäre Schließung, teilt Salt-Direktor Vasif Kortun auf Nachfrage mit. Seit der von ihm kuratierten Istanbul-Biennale 2005 gilt der Kunsthistoriker als die einflussreichste Figur der türkischen Kunstszene. Im Jahr 2001 gründete er die “Platform Garanti”, aus der Salt hervorging. Um das Kunstzentrum mit Archiven, Bibliothek und Forschungszentrum dürfte manche europäische Metropole Istanbul beneiden.

Kortun gibt sich sachlich. Dennoch klingt das Argument merkwürdig, dass dem Kunsthaus vier Jahre nach der spektakulären Eröffnung im Winter 2011 aufgefallen sein will, dass das aufwendig renovierte “Siniossoglou Apartment”, Ende des 19. Jahrhunderts entstanden, keine Genehmigung der Istanbuler Baubehörde hatte. Das vierstöckige Haus soll nun wegen ein paar “räumlicher Überarbeitungen” gleich ein ganzes Jahr schließen.

Am Bosporus lag vor einigen Jahren ein großes Versprechen der zeitgenössischen Kunst

Die Gerüchte über politischen Druck hinter den Kulissen, die derzeit in Istanbul kursieren, sind plausibler als gewöhnlich. Denn Salt lockte nicht nur mit gelungenen Ausstellungen türkischer Kunstgrößen. “How did we get here?”, hieß eine Schau im vergangenen Herbst, in der die Geschichte sozialer Bewegungen in der Türkei nach dem Militärputsch 1980 aufgeblättert wurde.

Im Herbst 2012, auf dem Höhepunkt eines öffentlichen Streits um das Atatürk-Kulturzentrum an Istanbuls zentralem Taksim-Platz, wenige Monate vor Gezi, konterkarierte Salt die Pläne, das ungeliebte Symbol der türkischen Moderne abzureißen, um stattdessen ein Ensemble aus Shopping Mall und osmanischer Kaserne zu bauen, mit einer Ausstellung zur Architekturgeschichte des Hauses.

Es hat symbolische Bedeutung, wenn ein solches Haus schließt: für viele ähnliche Initiativen

Steht die Politik hinter der Schließung? “Über Gerüchte spreche ich nicht”, sagt Kortun mit gequältem Lächeln. Er hat aber erst einmal das Nachsehen: tausend Quadratmeter Ausstellungsfläche weniger, Café, Bibliothek und “Walk-in-Cinema” im Erdgeschoss geschlossen. Die beliebte Kunstbuchhandlung Robinson Crusoe, die in den Salt-Räumen Zuflucht vor der rasanten Gentrifizierung auf der İstiklal-Straße gefunden hatte, musste ausziehen.

Und so lässt sich in einem Klima, in dem Intellektuelle grundsätzlich verdächtig sind, die Schließung des Salt durchaus als symbolische Abstrafung lesen. Das Institut steht für eine zivilgesellschaftliche Erfolgsgeschichte. Seit den Neunzigerjahren bereitete vor allem die Kunst dem gesellschaftlichen Diskurs den Weg, den Politik und Staatsapparat verweigerten. Und mit Privatmuseen wie dem 2001 eingerichteten Haus des Sammlerehepaares Sevda und Can Elgiz, dem 2005 im alten Istanbuler Hafen eröffneten “Istanbul Modern” der Pharmazieunternehmer Eczacıbaşı oder der Borusan-Sammlung des Mäzens und Röhrenproduzenten Asım Kocabıyıik sicherte die liberale, säkulare Bourgeoisie institutionell den Freiraum ab, den Künstler wie Hale Tenger, Gülsün Karamustafa oder Halil Altındere ästhetisch erkämpft hatten.

Salt war aber nicht nur das avancierteste dieser kulturellen Vorzeigehäuser. Die finanzierende Garanti-Bank duldete mit Kortun auch einen anerkannten Gesellschaftskritiker an dessen Spitze. Zwar mehrten sich in den letzten Jahren Kritik über die dominierende Rolle dieser Mäzene. Der Firma Koç, Hauptsponsor der von der Istanbuler Stiftung für Kunst und Kultur (IKSV) organisierten Biennale, hielten Aktivisten vor, auch Militärfahrzeuge zu produzieren. Die Familie Koç lässt übrigens gerade im Viertel Dolapdere, direkt hinter dem Taksim-Platz, für vierzig Millionen Dollar ein Haus für ihre 1800 Werke umfassende Sammlung zeitgenössischer Kunst bauen – und erhielt dafür problemlos die Baugenehmigung.

Dennoch schätzt Salt-Chef Kortun die von den großen Firmen unterhaltenen Institutionen als “Alternativen zu der Kultur des Gehorsams, die im Aufstieg begriffen ist” – und weil sie “eine andere Vorstellung von Gesellschaft” kreierten. Ist die Schließung seines Hauses nun ein weiteres Indiz der “Katastrophe”, vor der Kortun die Türkei kürzlich in einem Interview (SZ vom 7. September) sah? Oder hat Ferit Şahenk, der Chef der milliardenschweren Doğus-Holding, Miteigner der Garanti-Bank, einfach nur die Notbremse gezogen?

“Das kulturelle Feld in der Türkei, Künstler wie Institutionen”, umschreibt der Kurator vorsichtig das grassierende Entsetzen über den immer repressiveren Kurs von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, “sind in diesen Zeiten alle mit einem gewissen Risiko konfrontiert, finanziell, rechtlich und politisch. Die Freiheit der Rede ist zwar unser Vorrecht. Aber der juristische und populistische Konsens ist derzeit nicht besonders offen herausfordernden Konzepten gegenüber.” Wenn ein furchtloser Intellektueller wie Kortun zu derart verklausulierten Formeln greift, scheint es enger zu werden für die Kunst am Bosporus.

Bild: SALT mission statement – Gilliancelik

Ingo Arend

zuerst erschienen in Süddeutsche Zeitung, 24. Januar 2016

 

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Pierre Bourdieu: Manet

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Le Déjeuner sur l’herbe – Das Frühstück im Grünen – Édouard Manet, 1863 (Musée d’Orsay)

 

 

Vorlesungen aus dem Nachlass:

Der Soziologe Bourdieu untersuchte an der Malerei Manets, wie sich eine symbolische Revolution vollzieht.

Eine nackte junge Frau sitzt in einer Waldlichtung, daneben zwei bekleidete junge Männer. Die Kritiker überschlugen sich, als Édouard Manet 1863 im Salon des Refusés mit seinem Bild „Le déjeuner sur l ’herbe – Frühstück im Grünen“ den offiziellen Salon der Akademie herausforderte. Für ein Landschaftsbild – damals eine „niedere Gattung“ – war das Werk viel zu groß.

Die Kritik höhnte über die flächige Malweise, bemängelte die fehlerhafte Perspektive und schmähte das Sujet als obszön. Nicht nur, weil die Frau nackt war; sondern weil sie das Gespräch mit den Männern verweigerte. Stattdessen visiert sie den Betrachter außerhalb des Bildes an. Für die Kunstgeschichte gilt der Maler seither als Wegbereiter der Moderne.

Wenn der französische Soziologe Pierre Bourdieu sein nachgelassenes Werk über Manet im Untertitel „Eine symbolische Revolution“ nennt, schlägt er in die gleiche Kerbe. Folgt man seiner Definition dieses Begriffs, wälzte die Kunst Manets „die kognitiven und sozialen Strukturen“ der damaligen Zeit um. Denn sie beendete die traditionelle Weise, Welt abzubilden ebenso wie die Macht der Institution, die diese Normen tradierte.

Auch Bourdieu sieht Manet als eine Art Revolutionär in diesem Sinne. Dennoch will er mit dem „Mythos vom Bruch brechen“, mit dem die Kunstgeschichte ihn bis heute umwölkt. Er sieht den 1832 geborenen Künstler keineswegs als genialischen Einzelgänger. Exemplarisch will er an ihm die „sozialen Bedingungen künstlerischer Produktion“ aufzeigen. Die „Ikonologie muss soziologisiert werden“, hält er einer stilfixierten Kunstgeschichte entgegen.

In der „dispositionalistischen Ästhetik“, die Bourdieu gegen den „Kult des Einzigartigen“ setzt, ist unschwer die Fortführung dessen zu erkennen, was er 1992 mit dem Werk „Die Regeln der Kunst“ (Deutsch 1999) begann. Damals untersuchte er die „Genese und Struktur des literarischen Feldes“ am Beispiel von Gustave Flauberts „Éducation Sentimentale“. Jetzt ist die Bildende Kunst dran.

 

Einer musste es tun

Manet, der 1883 mit 51 Jahren starb, fungiert darin vor allem als exemplarischer Platzhalter. Lesende lernen den Maler aber durchaus hautnah kennen: Seine Jahre in der Akademie, seine Ateliers, seine Streifzüge durch die Pariser Bohème. Bourdieu nähert sich Manet dennoch nicht klassisch biografisch, sondern analytisch.

Akribisch zeichnet er nach, wie der „aristokratische Revolutionär“ Manet schon über sein großbürgerliches Elternhaus mit einem „Netzwerk von Beziehungen“ seinen Aufstieg absichert. Wie schon vor ihm alternative Ausstellungen geduldet wurden, sich eine antiakademische Malweise entwickelte.

Die neureiche Bourgeoisie des zweiten Kaiserreiches unter Napoleon III. kaufte gern gefällige Genremalerei. Und unterminierte damit ebenfalls das pathetische Ideal, das die Akademie beim Künstlernachwuchs festzuschreiben suchte. Eingehend analysiert Bourdieu die Krise des französischen Bildungssystems. Das staatsmonopolistische System der Kunstausbildung von Akademie und Salon passte nicht mehr mit der gestiegenen Zahl von Künstlern und Sammlern zusammen.

Des Künstlers spektakuläre Aktion von 1863 wird in Bourdieus Lesart so zum notwendigen Schlusspunkt der „Emergenz eines autonomen künstlerischen Produktionsfeldes“. Mit anderen Worten: Das System war überfällig, sein Sturz absehbar. Einer musste es tun: Der ehrgeizige Maler nutzte den historischen Moment.

„Manet“ ist kein klassisches Buch, sondern eine Materialsammlung. Es besteht aus den Vorlesungen Bourdieus im Collège de France und dem – teils nur thesenhaften – Manuskript des Buches, zu dem er es verdichten, wegen seines Todes aber nicht vollenden konnte. Doch selbst als unvollendeter Umriss einer Kunstsoziologie setzt es Standards für Kunstkritik und -wissenschaft zu Zeiten, in denen Art-Celebrities an die Stelle der großen Meister getreten sind.

 

Kein soziologischer Fundamentalist

Akribisch fächert Bourdieu die Analysevariablen systematisch auf: soziale Herkunft, ökonomische Verhältnisse, Statuskonflikte im Konkurrenzfeld. In einer Tabelle listete er sogar auf, welche Kritiker damals wie oft welches Kriterium für Manets Werke benutzten. So wollte er der diskursiven Matrix auf die Spur kommen, die seine Rezeption prägte.

Kunsthistorischen Sprengstoff birgt die „dispositionalistische“ Ästhetik, weil sie am Ideal des autonomen Künstlers rüttelt. Zugespitzt gefragt: Erzwingen soziale Determinanten einer Zeit eine bestimmte Ästhetik? Bourdieu will kein soziologischer Fundamentalist sein, wehrt sich gegen jede „mechanistische Sichtweise“. Und rettet sich in die salomonische Formel, dass Manet „eine Position innerhalb eines Raums einnimmt, den er mit geschaffen hat und der gleichzeitig ihn erschafft“.

Wenn er das bekannte Zitat kolportiert, dass sich Manet nach einer heftigen Kritik von Thomas Couture, seinem traditionell orientierten Akademielehrer, in den Kopf gesetzt habe, eines Tages ein Bild zu malen, das diesem „Hören und Sehen vergeht“, belegt das seinen Ansatz von der Wirkmacht sozialer Faktoren.

Nur auf die ästhetische Eingebung hat Manet nicht gewartet. Warum er der nackten Frau auf dem „Frühstück im Grünen“ allerdings dieses coole Lächeln aufs Gesicht gelegt hat, kann freilich auch die dispositionalistischste Ästhetik nicht erklären.

Ingo Arend

taz 01-02-2016

 

 

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Cover: © Suhrkamp

 

Pierre Bourdieu: Manet

Eine symbolische Revolution. Vorlesungen am Collège de France 1998–2000

 

Aus dem Französischen von A. Russer und B. Schwibs

Suhrkamp, Berlin 2015

921 Seiten

58 Euro

 

 

 

 

 

 

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Mustang (Regie: Deniz Gamze Ergüven)

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Freiheitsversprechen Istanbul

Deniz Gamze Ergüven lässt in ihrem Film fünf Mädchen am brutalen Traditionalismus der ländlichen Türkei scheitern.

Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber. Dieses zugegebenermaßen etwas grobschlächtige Idiom schießt einem angesichts der politischen Entwicklung in der Türkei gelegentlich durch den Kopf. Das Regime Erdoğan wird immer autoritärer. Trotzdem wählt die Hälfte der 60 Millionen Wahlberechtigten, über die Hälfte davon Frauen, ihren Möchtegern-Diktator immer wieder. Wie ist diese Selbstunterwerfung zu erklären?

Deniz Gamze Ergüven sieht den Grund in dem brutalen Traditionalismus des Landes. In ihrem Film „Mustang“ lässt die türkische Regisseurin, Jahrgang 1978, fünf bezaubernde junge Mädchen daran scheitern. Weil die minderjährigen Waisen Lale, Nur, Selma, Ece und Sonay, die bei ihrer Großmutter in einem Dorf im Norden der Türkei aufwachsen, nicht so frei leben können, wie sie wollen, bleiben ihnen nur Selbstmord und Flucht.

Die Analogie zu Sophia Coppolas „Virgin Suicides“ (1999), der Verfilmung von Jeffrey Eugenides ’ gleichnamigem Roman, liegt auf der Hand. Das Problem ist nur, dass Ergüven ihren ersten Langfilm nicht als Parabel auf die verlorene Jugend angelegt hat wie Eugenides. Sie zielt mit „Mustang“ erkennbar auf die politische Gegenwart der Türkei von heute.

Sonst hätte sie während einer häuslichen Szene im Hintergrund nicht die vom Radio übertragene Rede Bülent Arınç , des ehemaligen stellvertretenden Ministerpräsidenten, eingeblendet: „Wo sind unsere Mädchen, die leicht erröten, ihren Kopf senken und die Augen abwenden, wenn wir in ihre Gesichter schauen, und somit zu einem Symbol der Keuschheit werden?“

Die Idee, „Virgin Suicides“ (polit)realistisch umzumünzen, hat einiges für sich. Im Sommer 2011 erschütterte die rätselhafte Selbstmordserie von neun Frauen in der Provinz Batman die Türkei. Doch dann muss man es konsequent tun. Bei Ergüven sind aber alle fünf Mädchen so ungebrochen freiheitsbeseelt, wie das für Teenager, die nie etwas anderes als ihr 1.000 Kilometer von Istanbul entferntes Dorf erlebt haben, schwer vorstellbar ist.

Und sie setzt allzu sehr auf eine binäre Struktur und Stereotypen: Hier die „fünfköpfige Hydra“ (Ergüven in einem Interview) der Freiheitsheldinnen, dort die bornierte ländliche Gemeinschaft mit Jungfrauentests und Zwangsheirat. Als der Großmutter zu Beginn des Films nach einem ausgelassenen Spiel der Mädchen mit Jungs aus ihrer Klasse am Meer Schlimmes schwant, wird eine nicht nur psychologische Drohkulisse aufgebaut.

Die Mädchen werden in sackartige Kleider gehüllt, das Haus wird zur Festung umgebaut, aus Verwandten werden moralische Ordnungshüter ohne Gnade, geschweige denn Zweifel. So muss die Kette von Ausbruchs- und Selbstmordversuchen ihren Lauf nehmen. Wer Unterdrückung in der Türkei erklären will, müsste aber aufzeigen, wie der Widerspruch zwischen Freiheitsbegehren und Selbstunterwerfung sich als Riss durch die Menschen selbst zieht. Nur das umwerfende Talent der Laiendarstellerinnen Güneş Nezihe Şensoy, Doğa Zeynep Doğuşlu, Tuğba Sunguroğlu, Elit İşcan und İlayda Akdoğan rettet über diese charakterologische Problemstelle Ergüvens hinweg.

Kein Wunder, dass am Ende das große Freiheitsversprechen in Gestalt des orangerot glühenden Istanbul winkt. Dorthin fliehen zwei der Mädchen auf einem Gemüsetransporter. Auf so ein Bild kann die Politik anspringen. Beim SPD-Filmabend während der Berlinale pries Dietmar Nietan, ein veritabler Türkeiexperte seiner Partei, das Werk als „Freiheitsfilm“. Politiker erliegen besonders gern ihren eigenen Klischees.

Ingo Arend

taz 24-02-2016

© Weltkino

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Kuratorin Susanne Pfeffer im Interview

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Images – website (Ausschnitt): fridericianum.org/exhibitions

 

„So entsteht eine Egalität der Bilder“

Kuratorin Susanne Pfeffer über die neuen imaginären Bilder, Bill Gates sowie ihre Ideen für die Venedig-Biennale 2017 

 

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Cory Arcangel: Data Diaries, Video, 2003 (Filmstill). Courtesy Cory Arcangel/Fridericianum

 

„Speculations on Anonymous Materials“, „nature after nature“ und „Inhuman“ hießen Ausstellungen, mit denen das Kasseler Fridericianum seit 2013 die Post-Internet-Art reflektiert. „Images“ heißt die neue Schau, mit der Direktorin Susanne Pfeffer mit neun internationalen Positionen zeigt, wie die Kunst den Umbruch der zeitgenössischen Bildkultur reflektiert. Ende Dezember berief Außenminister Steinmeier Pfeffer zur Kuratorin des Deutschen Pavillons auf der Venedig-Biennale 2017.

taz.am wochenende: Susanne Pfeffer, der World-Press-Photo-Wettbewerb vor zwei Jahren endete mit einem Skandal: Jedes fünfte Bild war digital manipuliert. Stimmt der alte Satz, dass die Bilder lügen, also doch?

Susanne Pfeffer: Ich finde es problematisch, Bilder für einen Ausweis von Wahrheit, Authentizität oder Realität halten zu wollen. Bilder, egal ob Kunst oder nicht, sind immer auch Trugbilder und aus einer bestimmten Perspektive aufgenommen. Es gibt immer eine Divergenz zwischen Bild und dargestellter Realität. An der Empörung über den Wettbewerb können sie ablesen, dass die Gesellschaft noch nicht so weit ist: Sie will echte, wahre Bilder.

Ihre jüngste Ausstellung will den Umbruch unserer Bildkultur reflektieren. Was geht da vor sich?

Wir können in Bilder digital eingreifen. Sie lassen sich jederzeit von jedem manipulieren. Man hat sofort Zugriff auf sie. Eine einzige Google-Suche bringt Tausende von Bildern hervor: kunsthistorische Bilder, Privatfotografien, aus historischen Archiven, Nachrichtenfotografien, Ausschnitte von Bildern, bearbeitete Bilder. Alle Bilder stehen gleichwertig nebeneinander. Sie werden ortlos, insofern Bilder, zum Beispiel im Netz, ohne Existenz eines Originals, einer festen Referenz, entstehen. Die ganze Distribution von Bildern hat sich verändert. Eine Folge davon: Die Bildgenese in der Kunst wird immer unwichtiger. All das will die Arbeit „Made in Heaven“ (2004) des britischen Videokünstlers Mark Leckey demonstrieren. In der glänzenden Oberfläche von Jeff Koon s ’ Skulptur „Rabbit“ spiegelt sich nichts weiter als der leere Raum, der ihn umgibt. Der Fotograf mit seiner Kamera, der Bildproduzent, ist nicht zu sehen. Leckey hält es für wichtiger, mit vorhandenen Bildern reflektiert umzugehen, als ständig neue zu machen

Empfinden Sie es als Pro­blem, dass die Bilder heute austauschbar geworden sind?

Es geht darum, sich dessen bewusster zu werden. Darauf will ein Künstler wie der Österreichischer Oliver Laric mit seinem Video „Versions“ (2009) hinaus. Mit dem berühmten iranischen Propagandafoto von den angeblichen Raketentests 2008, das in unterschiedlichsten Variationen in den Nachrichten auftauchte, thematisiert er die Möglichkeiten der Manipulation von Bildern. Aus vier Raketen werden acht und schließlich Dutzende. Irgendwann fragt man sich, welches Bild nun das echte, welches das originale war.

Das Eintauchen in die virtuellen Bilder, etwa bei dem Computerspiel „Second Life“, gehört auch zu dem Umbruch. Der Hype darum scheint jetzt aber wieder abgeflaut …

… weil dieses Eintauchen Teil unseres Alltags geworden ist. Die Grenzen zwischen Realität und Virtualität verschieben sich ja schon, wenn ich mit einer Künstlerin wegen einer Ausstellung skype, parallel aber am Telefon hänge, weil der Kontakt so schlecht ist, das Bild aber am Rechner wahrnehme. Besonders enttäuschend an „Second Life“ finde ich, dass die Leute dort das Gleiche wie in ihrem alltäglichen Leben tun: Häuser kaufen usw. Da fragt man sich doch, was dieser neue imaginäre Raum eigentlich bewirkt. Sind die Menschen in der Lage, etwas Neues zu erfinden, oder reproduzieren sie nur das, was man ihnen vorgibt?

Wie reagieren Künstlerinnen auf den derzeitigen Umbruch der Bildwelten?

Die Malerei hat schon den Angriff durch die Fotografie überstanden. Dennoch ist der aktuelle Bruch epochal. Das wird man aus der historischen Distanz noch deutlicher sehen. Und das Retardierende, Verlangsamende das zahlreiche Arbeiten in unserer Ausstellung haben, zeigt deutlich das Bewusstsein vieler Künstler. Krass, jeder Mensch kann heute jederzeit potentiell Schöpfer von Bildern werden. Die Bedrohung für die Kunst ist offenkundig. Es ist aber die Frage, ob man auch die neuen Chancen erkennt.

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Mark Leckey: Parade. Video, 2003 (Filmstill). Courtesy Galerie Buchholz, Cologne/Berlin/Friedericianum

 

Nennen Sie uns ein konstruktives Beispiel?

Zum Beispiel der 2002 verstorbene Künstler Michel Majerus. Er hat schon früh mit Bildprogrammen wie Photoshop gearbeitet. Und er malt keine neuen Motive, sondern vorhandene neu – jedes Bild ein Zitat. In einem seiner Bildensembles, das wir in Kassel zeigen, kann man sehen, wie Majerus visuelle Zitate aus Kunstgeschichte, Game Culture und Cyberspace sammelt und sampelt. Da steht dann eben Super Mario gleichwertig neben Gerhard Richter. Damit entsteht eine vorher nie dagewesene Egalität der Bilder.

Hat Bill Gates sein riesiges Bildarchiv Corbis mit Tausenden historischen Aufnahmen kürzlich deshalb an die chinesische Agentur Visual China Group verkauft, weil sich mit den guten alten Bildern kein Geld mehr verdienen lässt?

Die Tatsache, dass permanent und in dieser Geschwindigkeit Bilder produziert und reproduziert werden können, ordnet diesen Markt – und mit Corbis ging es Gates nie um etwas anderes – vollkommen neu. Doch der Verkauf zeigt zugleich, dass sich auch mit diesen Bildern immer noch viel Geld verdienen lässt.

Ihre Ausstellung will zeigen, dass das imaginäre Potenzial des Bildes die Realität beeinflusst. Was ist mit dieser Formel gemeint?

Das meint, dass dieser virtuelle Raum mein Reales verändert. Und dass das immer alltäglicher wird. Diese Imagination beginnt schon vor dem Bildschirm. Was ich da sehe, ist ja nicht das Reale. Das steckt auch hinter dieser massenhaft gesteigerten Bildproduktion. Die Leute wollen sich ein Bild machen, fragen sich, wie die Welt anders zu denken wäre. Und wenn ich die TV-Serienfigur einer Lehrerin in der Erinnerung für meine eigene Lehrerin halte, wenn ich das Fernsehen oder Internet und das Erlebte nicht mehr auseinanderhalten kann, was bedeutet das für meine Erinnerung, für mein Leben? Das Trugbild ist genauso echt wie jedes andere Bild.

Sie sprechen von „konzentriertem Innehalten“ als Möglichkeit dieser Entwicklung zu begegnen. Ist das ein kulturpessimistischer Warnruf?

Eher ein Plädoyer für Subversion. Künstler wollen dieses Mittel auch als Kritikinstrument nutzen. Die stroboskopartig erhellten Gegenstände in einem Video der amerikanischen Künstlerin Trisha Donnelly oder ein langsam, rhythmisch wiederkehrender Riesentintenfisch in Philippe Parrenos Videoarbeit „Alien Seasons“ (2002) sind schöne Beispiele dafür. Sie wollen einen Moment der Reflexion bewirken.

Realisiert sich heute, wo jeder Bilder beliebig herstellen kann, Joseph Beuy s ’ Motto „Jeder Mensch ist ein Künstler“?

Beuys hat das eher in dem Sinne von Sein-Leben-selbst-Gestalten gemeint. Aber klar: Die Tools, die heute jedem zur Verfügung stehen, sind faszinierend. Zum Filmen braucht man keine Kamera mehr, dazu reicht ein Handy. Trotzdem ist nicht jeder, der ein Bild machen kann, auch in der Lage, komplex damit umzugehen. Dafür brauchen wir dann doch die Kunst.

Das Bild der Zukunft wird auch im Mittelpunkt Ihrer Arbeit in Venedig stehen?

Über dieses Thema denken Künstlerinnen wie Kuratoren immer nach, wenn sie Kunst machen oder Ausstellungen vorbereiten. Dennoch kann ich mir auch wieder Brüche und das Gegenteil des Vorherigen vorstellen.

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Michel Majerus: yet sometimes what is read successfully, stops us with its meaning, no. II. Lack und Digitalprint auf Aluminium, 1998. Courtesy neugerriemschneider, Berlin and Matthew Marks Gallery, New 
York/Los Angeles/Fridricianum

 

Der Deutsche Pavillon in Venedig ist ein schwieriges Gebäude. Was reizt Sie daran?

Ich finde es gut, dass die Architektur des Deutschen Pavillons die deutsche Geschichte nie leugnen lässt.

Was halten Sie von der Wahl von Christine Macel zur Kuratorin der 57. Biennale?

Christine Macel ist eine experimentelle, interessante Kuratorin, die sehr präzise arbeitet. Sie entwickelt ihre Themen extrem aus der Kunst heraus. Ich bin gespannt.

Drückt sich in Ihrer Wahl ein Zurück zur Ästhetik aus? Okwui Enwezors Polit-Biennale „All the Worlds Futures“ im letzten Jahr wurde zwiespältig aufgenommen.

Dass Macel aus der Kunst heraus arbeitet, muss nicht heißen, dass es unpolitisch wird.

 

INTERVIEW: Ingo Arend

taz vom 27.02.2016

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Susanne Pfeffer

geboren 1973 in Hagen, ist seit 2013 Direktorin des Fridericianums in Kassel. Sie kuratierte zuvor in Bremen, Bozen und Lyon. Von 2007 bis 2012 war sie Chefkuratorin der Kunst-Werke in Berlin. 2017 wird sie den Deutschen Pavillon auf der 57. Biennale von Venedig leiten.

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AUSSTELLUNG

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Fridericianum, Kassel

Noch bis zum 1. Mai 2016

 

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Geoffroy de Lagasnerie: Die Kunst der Revolte. Snowden, Assange, Manning

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screenshot (Ausschnitt) Deutschlandradio Kultur

deutschlandradiokultur.de

 

Snowden, Assange, Manning – diese drei Männer sind keine Verräter, meint Geoffroy de Lagasnerie in seinem Essay “Die Kunst der Revolte”. Sondern: Sie verkörpern ein “neues politisches Subjekt”.

“Moderne Helden, die für die Wahrheit ihre Freiheit verloren haben” – so nannte der italienischen Bildhauer Davide Dormino die drei Whistleblower Edward Snowden, Julian Assange und Chelsea Manning. Das Trio beeindruckte ihn so, dass er es vergangenes Jahr als lebensgroße Bronzeskulptur verewigte. Den Heldenstatus spricht auch der französische Philosoph Geoffroy de Lagasnerie den Dreien nicht ab. Sein neues Buch “Die Kunst der Revolte” versteht er explizit als deren “Würdigung”.

Der Wissenschaftler, Jahrgang 1981, der an einer Pariser Kunsthochschule lehrt, sieht Snowden, Assange und Manning als “exemplarische Figuren” einer “neuen politischen Kunst” und eines “neuen politischen Subjekts”. Er wertet ihr Vorgehen als die “Radikalisierung der Demokratie” gegen einen Staat, der mit Massenüberwachung und der Vermehrung rechtsfreier Räume die bürgerlichen Freiheiten außer Kraft zu setzen beginnt.

Die unter Aktivisten und Wissenschaftlern übliche Charakterisierung als “ziviler Ungehorsam” führe freilich in die Irre. Vom klassischen Dreischritt des zivilen Ungehorsams – ungehorsam sein, sich verhaften lassen und die Strafe akzeptieren – unterschieden sich alle drei. Denn mit dem Nicht-Erscheinen in der Öffentlichkeit, mit Flucht und Exil stellten sie die Legitimität des Staates, den sie verraten, anders in Frage als etwa Mahatma Gandhi oder Rosa Parks.

In Lagasneries Deutung soll dieser postheroische Ansatz oppositionelle Politik von dem “Pathos der Politik befreien” und ihn davon entlasten, ein “Risiko für etwas auf sich zu nehmen, wofür sie nicht verantwortlich ist”. Er sieht hier eine “Ethik der Schurken gegen die Ethik der Staatsbürgerschaft” am Werk: Warum sich gegenüber einem Staat verantworten oder offen auftreten, der das Staatsgeheimnis kultiviert, selbst Verbrechen begeht und sich der Rechenschaft dafür entzieht?

Bindekraft der sozialen Medien

Als Beschreibung mag Lagasneries Analyse überzeugen, als Handlungsanweisung eher nicht. Denn die von ihm gepriesene “Praxis der Anonymität” und die “Möglichkeit des verdeckten Handelns” wird nicht mehr nur von progressiven Akteuren wie dem Hacker-Kollektiv “Anonymous” genutzt. Längst praktiziert nämlich die politische Rechte, der von der amerikanischen Dokumentarfilmerin Laura Poitras diagnostizierte “deep state” oder der enthemmte Mob im Karneval dieselbe “Kunst der Revolte”.

Ähnliches gilt für Lagasneries Idee einer “Entnationalisierung der Geister” via Internet und soziale Medien. Können deren “flüchtige Gemeinschaften”, von denen er sich erhofft, dass sie den Nationalstaat ersetzen, soziale Bindekraft entwickeln?

Dennoch: So hartnäckig, wie Lagasnerie insbesondere progressive Denker von Hannah Arendt bis John Rawls gegen den Strich liest, kommt er einem aufschlussreichen Gestaltwandel des Politischen auf die Spur. Sein spannender Essay gibt damit ein beeindruckendes Beispiel (links-)unabhängigen Denkens.

Ingo Arend

deutschlandradiokultur.de

 

 

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© Suhrkamp

 

 

Geoffroy de Lagasnerie:

Die Kunst der Revolte. Snowden, Assange, Manning

 

Aus dem Französischen von Jürgen Schröder

Suhrkamp. Berlin 2016

160 Seiten, 19, 95 Euro

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Peter Sloterdijk: Was geschah im 20. Jahrhundert? Unterwegs zu einer Kritik der extremistischen Vernunft


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screenshot (Ausschnitt) deutschlandradiokultur.de

 

Peter Sloterdijks “Was geschah im 20. Jahrhundert?” ist eine Sammlung bereits publizierter Aufsätze, die ihn als funkelnden Analytiker der Globalisierung zeigt. Er geißelt die Plünderung des Planeten als “energetischen Faschismus” und sieht die Raumfahrt als Weg zum “Weltgewissen”.

 

 
“Wir haben das Lob der Grenze nicht gelernt”. Als der Philosoph Peter Sloterdijk kürzlich mit der Flüchtlingspolitik Angela Merkels abrechnete, war ihm ein Aufschrei der Empörung sicher. Wegen Sätzen wie “Die deutsche Regierung hat sich in einem Akt des Souveränitätsverzichts der Überrollung preisgegeben”, warf ihm sein Kollege Richard David Precht “Nazi-Jargon” vor.

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Der Berliner Kulturjournalist Ingo Arend. (Deutschlandradio / Cornelia Sachse)

Dass der 1947 geborene Wissenschaftler, lange Jahre Rektor der Karlsruher Hochschule für Gestaltung, etwas voreilig in die Garde Ressentiment geladener alter Männer um Botho Strauß und Rüdiger Safranski einsortiert wurde, zeigt Sloterdijks neues Buch. Formuliert er darin doch die besseren Einsichten, die er bei seinen publizistischen Eruptionen offenbar vergisst.

In zwei brillanten Analysen der Globalisierung beschreibt Sloterdijk etwa die Erwartung eines Weltalters, “in dem schwache Grenzen und durchlässige Außenhäute das prägende Merkmal von sozialen Systemen werden”. Und erinnert die Europäer, einst Herren des Globus, daran, dass sie jetzt eben mit dem “Gegenverkehr der Anderen” rechnen müssen.

“Energetischer Faschismus”

In dem Aufsatz “Das Anthropozän” räumt er mit der Idee auf, die Natur und der Planet seien ein “grenzenlos belastbares Außen”, geißelt den “energetischen Faschismus” und fordert ein neues “Erdenbürgertum”. Gegen die funkelnde Stringenz solcher Analysen lesen sich die Traktate der amerikanischen Globalisierungskritikerin Naomi Klein wie staubige Argumentationsübungen.

Auf Sloterdijks latenten Populismus stößt man erst wieder, wenn er aus einer luziden Entschlüsselung der Figur des Odysseus als paradigmatischem “Heimkehrer” glaubt, schlussfolgern zu können, die Europäer seien ein “Volk von Lotusessern”, die “bereit sind, sich von ihrer eigenen Überlieferung loszusagen”.

Der Buchtitel “Was geschah im 20. Jahrhundert?” ist etwas irreführend. Zwar nimmt sich Sloterdijk von der Öko-Krise bis zum Grundgesetz so ziemlich alle Weltprobleme vor. Der Band ist aber keine aktuelle Generalanalyse, sondern eine überarbeitete Neuauflage bereits publizierter Aufsätze und Reden. Ihrer Qualität tut das keinen Abbruch.

Bilanz gescheiterter Utopien

In dem titelgebenden Aufsatz bilanziert der Philosoph die blutig gescheiterten Utopien des vergangenen Saeculums. Weil es dennoch notwendig sei, eine Überlebensvision für die Menschheit zu entwickeln, kommt er zu dem nachvollziehbaren Paradox eines “Messianismus ohne Messianismus”. Und prophezeit eine “hybride Synthese aus technischem Avantgardismus und ökokonservativer Mäßigung”.

Als “exzentrische Beobachtung”, die zum “Weltgewissen” befähige, versteht Sloterdijk die bemannte Raumfahrt in einem gerade mal achtseitigen Aufsatz zur “Philosophie der Raumstation”. In Miszellen wie dieser demonstriert der Mann die Stärke seiner ironischen Vernunft gegen die extremistische, die er die technisch-industrielle Zivilisation entfesseln sah.

Es hat also doch seine Vorteile, Grenzen hinter sich zu lassen.

Ingo Arend

www.deutschlandradiokultur.de

 

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© Suhrkamp

 

 

 

Peter Sloterdijk:

Was geschah im 20. Jahrhundert?

Unterwegs zu einer Kritik der extremistischen Vernunft


Suhrkamp Berlin 2016

248 Seiten

26,95 Euro

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Erdogans Inszenierungen: Der Zuchtmeister hat den Rückwärtsgang eingelegt

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Zielstrebig treibt der türkische Präsident die kulturelle Gegenrevolution in seinem Land voran. Im System Erdogan manifestiert sich die Rache der Geschichte für die autoritäre Modernisierung unter Kemal Atatürk.

Speertragende Wächter, Krieger in schimmernden Kettenhemden, Soldaten mit Goldhelmen. Als Palästinenserpräsident Mahmud Abbas im Januar 2015 auf Staatsbesuch in der Türkei war, staunte er nicht schlecht. Zur Begrüssung hatte Präsident Recep Tayyip Erdogan sechzehn kostümierte Soldaten auf der grossen Freitreppe seines funkelnagelneuen Präsidentenpalasts antreten lassen.

Abbas trug die groteske Heerschau mit Fassung. Stoisch schüttelte er die Hand seines stolzen Gastgebers am Fuss des historischen Catwalks. Derart spektakulär hatte noch kein türkischer Präsident die sechzehn Sterne versinnbildlicht, die sein Emblem zieren – Symbole für die sechzehn Reiche in der Geschichte Anatoliens. Die Inszenierung zeigt: Der Mann, der es als muslimischer Emporkömmling aus dem Istanbuler Proletarierbezirk Kasimpasa an die Spitze der kemalistischen Republik in Ankara geschafft hat, ist ganz gewiss von Machthunger und Grossmannssucht getrieben.

Doch trotz des blutigen Kriegs gegen die KurdInnen, der Verfolgung von Journalisten, Wissenschaftlerinnen und anderen Intellektuellen, der brachialen Schleifung der Pressefreiheit: Darauf reduzieren darf man den umstrittenen türkischen Präsidenten nicht. Denn hinter Erdogans Obsession mit Symbolen lassen sich die Umrisse einer kulturellen Konterrevolution erkennen, die er zielstrebig verfolgt.

Die Kultur wird ausgeweidet

Schon der Plan, im Gezipark an Istanbuls Taksimplatz eine Shoppingmall im Stil der Topcu-Kaserne von 1780 zu errichten, sollte einen Ort für das symbolische Miteinander von Männern, Frauen und Kindern in der Öffentlichkeit mit einem Symbol aus der Zeit vor der Republik ersetzen – die Topcu-Kaserne war 1909 das Hauptquartier eines Putschs sultantreuer Truppen gegen die republikanischen Jungtürken. Der Aufstand, den der Plan entfachte, hat es vorerst verhindert, dass das Atatürk-Kulturzentrum direkt gegenüber gleich mit abgerissen wurde. Unauffällig hat man es verfallen lassen. Inzwischen steht nur noch das ausgeweidete Betonskelett des 1969 errichteten Baus – mit seinen offenen Foyers, mondänen Sofas und Glaslüstern ein symbolischer Anschluss der Türkei an die westliche Kulturmoderne.

Auch der Ort für Erdogans neuen Präsidentenpalast in Ankara war mit Bedacht gewählt. Denn der Staatschef besetzte demonstrativ einen mythischen Ort: eine Grünfläche, die Mustafa Kemal Atatürk 1925 zum Staatsforst bestimmt hatte. Wie «seldschukisch» die Architektur des Palasts ist, darüber streiten die KunsthistorikerInnen. Das Ensemble mit den auskragenden Dächern erinnert auch weniger an Nicolae Ceausescus Palast in Bukarest als an eine Zeltstadt – Tribut an die nomadische Kultur der zentralasiatischen Turkvölker, die einst Anatolien besiedelten. Dass Erdogan kurz nach der Einweihung erklärt hatte, der in «külliye» umgetaufte Palast – und nicht etwa das Parlament – verkörpere in Zukunft Nation und Staat, machte die symbolische Wende noch deutlicher. Denn «külliye» bezeichnet einen Komplex aus Schulen, Küchen und Gästehäusern um eine Moschee.

Religion und eine konsultativ umschmeichelte Zentralautorität statt Laizismus und Streitkultur: Spätestens 2023, zum Hundertjahrjubiläum der Staatsgründung, soll das Land zur «Neuen Türkei» gewendet sein – mit einem allmächtigen Präsidenten an der Spitze. Der Alkoholbann, der Fall des Schleierverbots, die Aufhebung der Koedukation waren kleine, aber sorgsam geplante Schritte auf dem Weg zum grossen Ziel, Atatürks Kulturrevolution aufzuheben.

Den Keim für den aktuellen Retrovirus hat die damalige Kulturrevolution selbst gelegt, so autoritär, wie sie durchgesetzt wurde. Atatürks «Hutreform», das Verbot religiöser Bruderschaften und der arabischen Schrift sowie die Verpönung der «dekadenten» osmanischen Geschichte schnitten das Land über Nacht gewaltsam von seiner Geschichte und Kultur ab. Jetzt kehrt das jahrzehntelang Verdrängte und Verbotene zurück. Recep Tayyip Erdogan ist nur der brutalste Ausdruck dieses Drangs, das Land an seine kulturellen Quellen zurückzubinden, Rache für 1923 zu nehmen.

Am Phantomschmerz über den Verlust dieser Quellen leiden nicht nur fromme MuslimInnen. Schon Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk beschreibt in seinem Buch «Istanbul» (2010), wie ihn beim Anblick der architektonischen Relikte des Osmanischen Reichs das Gefühl unerklärlicher Schwermut überkommt, weil er deren Inschriften nicht entziffern kann. Dieses Sentiment griff Erdogan mit seinem Plan auf, an den Schulen wieder das osmanische Türkisch lehren zu lassen.

Wie vor neunzig Jahren wird dabei der Körper der Frau zur symbolischen Projektionsfläche und zum Kampffeld. Das ikonische Bild, das Staatsgründer Atatürk 1929 demonstrativ beim öffentlichen Tanz mit seiner Stieftochter Nebile zeigt, hängt noch heute in vielen Bekleidungsgeschäften in der Türkei. Dem setzt Erdogan seine verschleierte Frau Emine entgegen. Der vierfache Vater beschwört die «heilige Pflicht» der türkischen Frauen, der Nation mindestens drei Kinder zu gebären. Der Staat will die Geburt jedes Kindes mit einer Goldmünze belohnen.

Theater werden abgestraft

Ins Visier der Umgestaltungspläne gerät nun auch die türkische Kulturszene. Nicht nur, dass nach den Gezi-Protesten fünfzehn Theatern, die mit der Rebellion sympathisiert hatten, die öffentliche Förderung entzogen worden war. Erdogan will jetzt auch die 2013 angekündigte Privatisierung der bislang staatlich getragenen Theater durchsetzen – der letzten Hochburg der kemalistischen (Geistes-)Elite. In Zukunft sollen diese Häuser nur noch einzelne Projekte bei einer neu einzurichtenden «Kunstinstitution der Türkei» beantragen können, deren Mitglieder vom Ministerrat berufen werden sollen. Damit soll der «konservativen Kunst» der Weg bereitet werden, die die muslimischen TraditionalistInnen seit Jahr und Tag fordern.

Traditionell versteht der türkische Staat unter Kulturpolitik nicht viel mehr als den Tourismus und die Pflege der vielen historischen Monumente und Ausgrabungen im geschichtsträchtigen Kleinasien. Oder er finanziert Prestigeprojekte wie dasjenige der «Kulturhauptstadt Europas», als die Istanbul im Jahr 2010 fungierte.

Der beispiellose Boom der unabhängigen, zeitgenössischen Kunst dagegen, den die westliche Öffentlichkeit seit den neunziger Jahren am Bosporus bejubelt, ist fast vollständig auf das Mäzenatentum der grossen Industriellenfamilien Koc, Sabanci und Eczacibasi zurückzuführen, mit ihren Privatmuseen wie dem Istanbul Modern und Kulturstiftungen wie der Istanbuler Stiftung Kunst und Kultur. Die 1973 gegründete Institution allein organisiert eine Kunst- und eine Theaterbiennale, ein Jazz- und ein Filmfest sowie eine Designbiennale. In ihrem Motiv, die säkulare Öffentlichkeit im Land zu erhalten, trifft sich diese geldgebende, aufgeklärte Bourgeoisie mit den durchweg gesellschafts- und kapitalismuskritischeren Intentionen der vielen KünstlerInnen, die derzeit grösseren Widerhall in der internationalen Kunstszene finden als ihre KollegInnen in Griechenland oder selbst Frankreich.

Der Präsident lehrt Gehorsam

Bislang galt die Kunstszene der Regierung als vernachlässigbare Grösse. Doch der Geist kritischer Reflexion, der sich hier entwickelt hat, ist dem Regime zunehmend ein Dorn im Auge. Das führte Anfang des Jahres dazu, dass eines der grössten Kunsthäuser, das 2011 von der grossen Garanti-Bank gegründete interdisziplinäre Forschungs- und Ausstellungszentrum Salt, seine international beachtete Vorzeigelocation im Stadtteil Beyoglu für zunächst ein Jahr schliessen musste.

Februar sagte die nichtkommerzielle Kunstabteilung der Akbank, eines der grössten Unternehmen der Türkei, eine Kunstausstellung zum Thema «Post Peace» in ihrem gut frequentierten Ausstellungsraum auf Istanbuls Flaniermeile Istiklal Caddesi ab. Waren es im Fall von Salt angeblich «technische Gründe», verwies die Akbank auf die «heikle Situation in der Türkei». KritikerInnen sehen beide Vorfälle als Indiz für das immer repressivere Klima im Land.

Mit derlei Ansagen, Rochaden und Druck hinter den Kulissen kopiert der rüde Präsident das fest ins kollektive Bewusstsein der TürkInnen eingebrannte Bild des strengen Lehrers, der den Menschen vor einer Schiefertafel das lateinische Alphabet einbläut. Ob er die Gezi-DemonstrantInnen mit vorgehaltener Tränengaspistole Gehorsam lehrt, ob er den KurdInnen das Recht auf das eigene Volkstum abspricht oder ob er beim Sonntagsspaziergang in Istanbul einen Mann, der auf dem Balkon eines Cafés eine Zigarette raucht, öffentlich zur Rede stellt.

Dass er in seinem Tausendzimmerpalast weiter unter einem riesigen Porträtbild Atatürks arbeitet, ist keine geschickte Tarnung, sondern das folgerichtige Paradox der erdoganschen Erziehungsdiktatur. Denn der Staatschef wiederholt Atatürks Kardinalfehler. Als er Ende vergangenen Jahres in Brüssel eine aufwendige Schau über 12 000 Jahre Kulturgeschichte in Kleinasien eröffnete, blieben die 85 Jahre türkische Republik ausgeblendet – selektive Historie, diesmal andersherum.

Mehr als sechs Pfeile

Das System Erdogan ist die Rache der Geschichte für eine autoritäre Modernisierung. Sie markiert allerdings nicht den Aufbruch zu neo-ottomanischen Zeiten, sondern die blutige Implosion einer der grossen Revolutionen aus dem von Eric Hobsbawm so genannten «Jahrhundert der Extreme». Insofern beginnt die eigentliche Aufgabe nach Erdogan. Demokratie und modernes Leben werden weder durch einen EU-Beschluss noch durch den Sturz des Autokraten in die Türkei zurückkehren. Sondern nur mittels der «Modernisierung von unten», die der chinesische Kurator Hou Hanru seiner Istanbul-Biennale von 2007 als Motto gab – und die ihm damals einen Shitstorm der kemalistischen AkademikerInnen eintrug.

Und diese Modernisierung muss den TürkInnen attraktivere Symbole anbieten, als immer nur mit den «sechs Pfeilen» des mythischen Staatsgründers zu wedeln, die für Laizismus, Säkularismus, Etatismus, Republikanismus, Populismus und Nationalismus stehen. Wenigstens trägt dieser ausgeblichene Kostümkrieger, der wahlweise im Frack oder mit Fellmütze noch immer in der rechten oberen Ecke jeder türkischen Behörde, Bar oder Dönerbude hängt, keine Waffen wie Erdogans historische Star-Wars-Krieger.

Ingo Arend

Die Wochenzeitung Nr. 12/2016 vom 24.03.2016

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Gerhard Paul: Das visuelle Zeitalter

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Der Flensburger Historiker Gerhard Paul hat eine voluminöse Geschichte der Visualität seit dem 19. Jahrhundert geschrieben. Er zeigt das Bild als Waffe im Krieg, als Medium der Überwachung und als Ziel von Bilderstürmen.

Your Country Needs You. Der Suggestivwirkung des Plakats, das der englische Graphiker Alfred Leete 1914 entwarf, kann man sich noch heute schwer entziehen. Mit grimmigem Blick und ausgestrecktem Arm richtet sich Lord Kitchener, der britische Kriegsminister, direkt an den Betrachter. Die Dominanz des Auges lässt es für den Flensburger Historiker Gerhard Paul zu einer Ikone des “Visuellen Zeitalters” werden.   weiterlesen

Ingo Arend

(Deutschlandradio Kultur > BUCHKRITIK | Beitrag vom 01.04.2016)

 

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HACKING HABITAT. ART OF CONTROL – Internationale Kunstschau im ehemaligen Gefängnis am Wolvenplein in Utrecht

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Die Gedanken sind frei

Hacking Habitat – eine Kunstschau im niederländischen Utrecht nimmt die Kontrollgesellschaft der neuen Medien und sozialen Netzwerke aufs Korn

„Sie können uns nicht zwingen, das San Bernardino-iPhone zu hacken.“ Der Satz, mit dem Apple-Chef Tim Cook sich kürzlich weigerte, verschlüsselte Daten für das FBI zu entsperren, hat es in sich. Das Betriebsgeheimnis des umstrittenen Softwarekonzerns könnte uns vielleicht noch egal sein. Die Gefahr für die informationelle Selbstbestimmung von Millionen von Usern eher nicht. Der Streit, den Apple gerade vor Gericht gewann, belegt auch, wie die einst subversive Tätigkeit von ein paar Nerds zur zentralen Kategorie der (Netz-)Gesellschaft avanciert ist.

„Hacking Habitat“, die internationale Kunst-Ausstellung im niederländischen Utrecht, ist also nicht nur dem Standortmarketing einer Kommune geschuldet, die sich mehr ins Gespräch bringen möchte. Bislang galt die viertgrößte Stadt des kleinen Königreichs nicht unbedingt als aufregender Kunststandort.

Der Beweis für die zentrale Idee der Schau, dass „High-Tech Systeme unser Leben unter Kontrolle gebracht“ haben und zum zentralen Bestandteil unseres alltäglichen Lebensumfeldes geworden sind, wird uns mit jeder neuen App quasi frei Haus geliefert. Die künstlerische Aufarbeitung eines sozialen Konfliktfeldes allererster Rangordnung war also mehr als überfällig.

Die Utrechter Kuratorin Ine Gevers, Jahrgang 1960, ist eine Spezialistin für Ausstellungen und Themen jenseits des Mainstreams, „Niet normaal“ hieß eine Ausstellung von ihr 2010 in Amsterdam. Werke von 85 internationalen KünstlerInnen hat sie für ihr jüngstes Projekt versammelt. Darunter Größen wie William Kentridge, Joseph Beuys oder Harun Farocki. Und wo ließe sich die Idee, dass wir einer allumfassenden Kontrollgesellschaft ausgeliefert sind, besser visualisieren als in einem Knast?

Das Utrechter Gefängnis Wolvenplein, 1865 auf den Resten der alten Stadtmauer Utrechts nach dem Vorbild von Jeremy Benthams‘ legendärem Zentralgefängnis erbaut, 2014 endgültig aufgegeben, ist der ideale Schauplatz für Gevers‘ Vorstellung von der alles beherrschenden Kraft des „neuen Panoptikum“: dem unentrinnbaren Kreislauf der Netzwerke, Systemprotokolle und Algorithmen.

Das Gefaengnis Wolvenplein in Utrecht

Ort des Geschehens: Das Gefängnis Wolvenplein in Utrecht. Foto: Hacking Habiat

 

Wie sehr die Verheißung einer neuen Utopie in Gestalt des Internet zum Angstthema schlechthin geworden ist, zeigt sich schon, wer das Gefängnis betritt. Der argentinische Künstler Eduardo Basualdo hat einen riesigen schwarzen Ballon in der Form eines verschrumpelten Globus in das Foyer gehängt. Sein Werk „Teoría. La gabeza de goliath“ könnte die schwarze Materie sein, die das irdische Leben aus dem All bedroht oder die schwarze Negativform der unschuldigen weißen Datenwolke, die uns digitale Schwerelosigkeit verspricht, Wahrheit aber überwacht.

Eduardo Basualdo, El Misterio del Caos

Eduardo Basualdo, El Misterio del Caos, 2015, sculptuur, zwart aluminum, staal, courtesy van PSM / Hacking Habitat

 

So arbeitet man sich von Aram Bartholl’s globales Netzwerk „Dead Drops“, in die Wand eingelassene USB-Sticks, zu den „Camera Birds“ des niederländischen Duos Front 404, Vögeln, die statt eines Kopfes eine Kamera tragen. Jedes Werk ist eingepfercht in den kaum drei Quadratmeter großen Zellen des trutzigen Wolvenplein-Komplexes, Stahlabort und Zellen-Sichtfenster inklusive. Durch die Fenster ist der umgitterte Gefängnis-Sportplatz zu sehen.

Abgesehen vom furchteinflößenden Genius Loci liegt der Wert der Ausstellung vor allem aber darin, dass sie aufzeigt, wie sehr die Künstler das Entstehen dieser schönen neuen Kontroll-Welt umtreibt.

Ob man nun die „Nemesis Machine“ des britischen Künstlers Stanza nimmt, mit der er die Gesamtheit der Datenströme: Solche aus Überwachungskameras, von Wettermessungen oder dem Verkehrsaufkommen in London in Echtzeit in sein aus Computerbauteilen errichtetes Modell der Stadt überträgt.

Stanza, Nemesis Machine – From Metropolis to Ecumenopolis

Stanza, Nemesis Machine – From Metropolis to Ecumenopolis, 2016, installatie, mechanische metropool maquette met real-time urban data, variabele afmetingen, courtesy van de kunstenaar, Foto: Stanza / Hacking Habitat

 

Oder ob man sich von der Faszination seines Landsmannes Timo Arnall faszinieren lässt. „Internet Machine“ heißt sein sechsminütiger Kurzfilm, in dem er sich auf einen Streifzug durch das 65700 Quadratmeter große, unterirdische Speicherzentrum der spanischen Telefonica in Alcalá, 35 Kilometer nordöstlich von Madrid, begibt.

Die Bilder der riesigen Rechner oder der gelben, dieselbetriebenen Backup-Generatoren, die den Betrieb bei Stromausfall aufrechterhalten sollen, destruieren lautlos, aber unaufdringlich den Mythos der Cloud, die das Immaterielle der digitalen Welt suggeriert.

Das Problem von Gever‘s Ausstellung ist, dass sie mit der Metapher des Gefängnisses und ihrer Warnung vor der „samtenen Diktatur“ dem ambitionierten Parcours ein reichlich kulturpessimistisches Gefühl des Unentrinnbaren unterlegt. Zumal die Beispiele für das, was sie in einer eigenen Abteilung „Violence and its counterstrikes“ nennt, nicht gerade überzeugend, um nicht zu sagen hilflos sind. Wenn man von dem obligatorischen Hacker-Meeting im Rahmenprogramm einmal absieht.

Die US-Künstlerin Susan Hiller hat in einem Raum mit Jukebox und Songbooks eine „Die Gedanken sind frei“ betitelte Sammlung von Freiheitsliedern zusammengetragen. Der niederländische Designer Ruben Pater hat eine Soundinstallation beigesteuert, die dabei helfen soll, die verschiedenen Geräusche von Drohnen zu unterscheiden. Und das niederländische Kunstkollektiv Circus Engelbregt will den Menschen mit Workshops wieder so etwas wie „Intuitieve Mensbenadering – Intuitive menschliche Annäherung“ ermöglichen: Antidigitaler Ringelpietz mit Anfassen gegen die NSA?

Überzeugender erscheint da noch das Projekt „Error404“ einer cleveren Studentengruppe der Utrechter Universität. Mit dieser, nach der berühmten „Not found“-Irrtums-Meldung im Internet benannten „ScramplerApp“ können Facebook-User die Texte und Bilder zu verpixelten, bunten Mosaiken auflösen, von denen sie nicht wünschen, dass das Netzwerk sie identifizieren kann. Nur der jeweilige Adressat kann sie mit der App wieder lesbar machen. Von dieser Counter-Hack-Art könnte sich vermutlich selbst der große Freund der User, Apple, noch eine Scheibe abschneiden.

Ingo Arend

 

AUSSTELLUNG

Hacking Habitat. Art of Control

Noch bis zum 5. Juni 2016

Gefängnis Wolvenplein, 3572 CD Utrecht, Niederlande
Mittwoch bis Sonntag von jeweils 10.00 bis 18.00 Uhr
Online Vorverkauf: Studenten 9 Euro, Erwachsene 12,50 Euro, Gruppen ab 10 Personen 8 Euro p.P. (online anmelden)
An der Kasse: Studenten 10 Euro, Erwachsene 15 Euro
Kinder bis 12 Jahre haben freien Eintritt

 

Katalog

Niet Normaal-Stichting

29,90 Eur0

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Residency-Programm des Goethe-Instituts in Bangalore

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Projektarbeit in der Metropole

Im indischen Bangalore hat mal wieder das Residency-Programm des Goethe-Instituts begonnen. Initiator des Projekts ist das Goethe-Institut im indischen Bangalore, benannt nach dem deutschen Sprach- und Religionswissenschaftler Friedrich Max Müller.

 

Von Ingo Arend

Quelle -Deutschlandfunk, Kultur vom 14.4.2016

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Initiator des Projekts: Das Goethe-Institut im indischen Bangalore, benannt nach dem deutschen Sprach- und Religionswissenschaftler Friedrich Max Müller. Foto: Ingo Arend

 

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Wolfgang Ullrich: Siegerkunst. Neuer Adel, teure Lust

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Künstler als kreative Dienstleister

 

Der Künstler entwickele sich immer mehr vom Avantgardisten zum Geschäftsmann, meint Wolfang Ulrich. Selbst die kritische Kunstszene sei zum Wohlstandsphänomen mutiert, schreibt er in seinem Essay “Siegerkunst”. Der Publizist hat damit einen Nerv getroffen. mehr lesen

Ingo Arend

Quelle – Deutschlandradio Kultur

BUCHKRITIK | Beitrag vom 15.04.2016

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