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Eine Rose in der Wüste

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Im Golfemirat Katar ist das neue Nationalmuseum eröffnet. Das spektakuläre Gebäude in der Hauptstadt Doha wurde vom französischen Stararchitekten Jean Nouvel nach dem Vorbild einer Wüstenrose entworfen.

„Desert Rose“ – so heißen vielleicht B-Movies über verblühte Provinzschönheiten. Doch Jean Nouvel hätte keine bessere Formel finden können für sein neuestes Projekt. Denn das Schicksal des Staates, für den der französische Stararchitekt seinen jüngsten Solitär entwarf, ähnelt den Blütenformationen aus mineralisiertem Sand zum Verwechseln, die den lyrischen Namen Wüstenrose tragen.

Dass Katar, ungefähr so groß wie Hessen, das reichste Land der Welt werden würde, war der unwirtlichen Halbinsel am Persischen Golf nicht in die Wiege gelegt. Dass sich das gerade eröffnete National Museum of Qatar, das jetzt diesen kometenhaften Aufstieg feiern soll, wie eine Wüstenrose aus arabischem Sand erhebt, ist ein sinnfälliges Bild für diese außerordentliche zivilisatorische Karriere.

1904, gut fünfzig Jahre, nachdem sich die aus dem Norden Qatars ausgewanderte Sippe der al-Thani den Flecken Al Bidda im Süden unter den Nagel gerissen und ihre Konkurrenten nach Bahrein vertrieben hatten, beherbergte die Stadt gerade einmal 6500 Einwohner mit 350 Perlenfischer-Booten. Heute ist Doha, das daraus wuchs, eine Millionenmetropole.

Pritzker-Preisträger Jean Nouvel, inzwischen 73 Jahre alt, verklärt die Formfindung für das neue Haus gern, wenn er von einer Eingebung spricht. Doch welches Symbol hätte er sonst wählen sollen? Die Perle, die mythische Ressource des Landes, war schon besetzt.

„The Pearl“ nennt sich ein 400 Hektar großes künstliches Eiland vor der Ostküste Dohas mit Luxusvillen, Strand und Yachtclub für den internationalen Millionärs-Jet-Set. Blieb – neben den architektonisch schwer visualisierbaren Bodenschätzen Öl und Gas – nur noch die andere, ebenfalls im Überfluss vorhandene, natürliche Ressource: Sand.

Der Bau ist freilich alles andere als eine mondäne Notlösung für das Repräsentationsbedürfnis der kunstvernarrten Herrscherfamilie geworden. Die atemberaubende Form des 52.000 Quadratmeter großen Gebäudes toppt Nouvels, Ende 2017 eröffnete Kuppel aus Metallsternen für den Louvre Abu Dhabi noch einmal.

Die Dohaer Wüstenrose dürfte in die Liste der modernen Weltwunder aufrücken – irgendwo zwischen der jordanischen Felsenstadt Petra und Frank Gehrys Museum in Bilbao.

Wie eine Land-Art-Skulptur, eine geologische Faltung wächst der sandfarbene Verhau aus 539 vertikalen und horizontalen Diskussen aus ultrahochfestem Beton aus dem Sand an Dohas Corniche – so elegant wie zerbrechlich, so komplex wie poetisch.

Um das komplizierten Haus nur planen zu können, mussten die Firmen Hyundai und Gehry Technologies das weltweit größte, dreidimensional operierende „Building Information Model“ (BIM) entwickeln. Im Gegensatz zu den Hunderten Toten auf den Baustellen für die Stadien der Fußball-Weltmeisterschaft 2020 soll bei dem Bau nur ein Arbeiter – eines natürlichen Todes – gestorben sein.

Das bis zu 40 Meter hohe Haus ist auf Symbolwirkung gebaut. Trotzdem öffnet diese raumgewordene Intersektionalität neue museale Räume. Denn das Gewirr aus Schnittstellen und Überblendungen erzeugt im Inneren einen Parcours permanenter Überraschungen und verschobener Perspektiven. Besucher durchschreiten das Gebäude wie ein ständig wechselndes Kraftfeld. Kein Raum gleicht dem anderen.

Souverän verbindet Nouvel Tradition und Moderne: Das avantgardistische Halbrund nimmt die Kreisform einer Karawanserei auf. Sanft umschließt es den alten Königspalast von Sheikh Abdullah bin Jassim al-Thani, dem Sohn des Staatsgründers. Von 1975 bis 1996 residierte das National Museum of Qatar in dem charakteristischen Flachbau.

Abgerundet wird der Komplex durch einen 112.000 Quadratmeter großen Landschaftspark und eine 900 Meter lange, künstliche Lagune. Drei Jahre hat der französische Künstler Jean-Michel Othoniel an seinem bisher größten Werk „ALFA“ gearbeitet. 114 Fontänen, jede individuell aus schwarzen Perlen konstruiert, spielen auf das Alphabet und die arabische Kalligraphie an. Ihre Reflexe auf der Lagune wirken wie zerfließende Tuscheflecken auf einer Wasseroberfläche.

Nouvels 440 Millionen Dollar teure Wüstenrose komplettiert die Liste der Großen Projekte Qatars um ein weiteres Juwel: Dem 2008 auf einer künstlichen Insel eröffneten Museum für Islamische Kunst von I. M. Pei, Rem Kolhaas‘ 2017 eröffnete Nationalbibliothek und Araka Isozakis noch im Bau befindlicher „Education City“.

Nur noch eine luxuriöse Bonbonniere ist das neue Museum aber nicht. Es geht nämlich um Identitätspolitik pur. Denn in dessen elf Galerien versuchen sich die Museumsfachleute um Direktorin Sheika Amna al-Thani an der Quadratur des Kreises: Der Konstruktion eines Narrativs für eine Nation, die aus einer Gemeinschaft lose verkoppelter Nomaden in der Wüste wuchs.

Voll im postkolonialen Trend sieht Sheikha Al-Mayassa, die Schwester des regierenden Emirs Tamim bin Hamad Al Thani, die Kultur-Chefin des Landes, von ArtReview regelmäßig in den Top 100 der Kunstwelt gelistet, das Museum als Mittel „uns selbst zu definieren, anstatt auf ewig von anderen definiert zu werden“. Es „zelebriert unsere Identität“.

Schon vor dem Museum stehen die Besucher deshalb vor der Wandinstallation „Wisdom of a Nation“ des qatarischen Künstlers Ali Hassan: Das Bild der qatarischen Flagge mit einem Gedicht des Staatsgründers Sheikh Jassim bin Mohamed al-Thani. 

Im Baraha, dem zentralen Innenhof preist die Skulptur „Flag of Glory“ des irakischen Künstlers Ahmed Al Bahrani die Geschichte des Nationalfeiertags. Ein paar Schritte weiter gibt Sheik Hassan dem national-identitären Komplex mit seiner Skulptur „Motherland“ immerhin eine feministische Note.

Der anderthalb Kilometer lange Rundgang im Inneren des Baus führt von dem prähistorischen Ökotop vor 700 Millionen Jahren bis ins Doha von heute. Im Mittelpunkt stehen die historischen Umschlagpunkte 1913 und 1939.

Zuerst brach die Perlenfischerei ein, dann wurde das Öl entdeckt. Eine 360-Grad Filminstallation zum Thema Öl von Doug Aitken und Ai Weiweis Skulptur „Fountain of Pearls“ sind zwei weitere Exemplare der Auftragskunst, die mit den 1000 archäologischen Artefakten kommunizieren dürfen – Arabisches „Nation-Building“, powered by International Blockbuster Art.

Der immersive Sog der Inszenierung ist schon im ersten Raum zu spüren. In seinem Kunst-Film spielt der französische Filmemacher Christophe Cheysson („Goodbye Kansas“) das Werden der Flora und Fauna Qatars seit den Urzeiten nach, die ringsherum ausgestellt sind.

50 Meter große Projektionsleinwände bringen die Wände zum Verschwinden. In einem anderen, dem Leben in der Wüste gewidmeten Raum empfindet der mauretanische Filmemacher Abderrahmane Sissako („Timbuktu“) in einem im Silbernitrat-Stil geschossenen Film diesen Alltag nach.

Eine komplettes Nomadenzelt, die dazugehörige Küche, sanft flüsternde Gedichtrezitationen aus dem Off und der Geruch von Kaffee kitzeln das Gefühl des Authentischen hervor.

Der vorgezeichnete Circuit zieht noch stärker in das Geschehen hinein. Mal steigt der Parcours aufwärts, mal windet er sich hinab. „So einen Effekt können sie eben nur mit der Architektur erreichen“ begeistert sich Sheika Amna über ihr „Museum neuen Typs“.

Der Pferdefuß dieses aufwändigen Narrativs: Es wurde „von oben“ geschrieben. Auch wenn Sheika Amna die „bottom-up“-Perspektive und die vielen Workshops mit Qataris lobt. Einen Raum, der das Leben der weitgehend rechtlosen Gastarbeiter im Lande – immerhin 88 Prozent der 3 Millionen-Bevölkerung – problematisiert, sucht man freilich vergebens.

Eines der spektakulärsten Exponate wird der Baroda-Teppich sein. Das 1865 von einem indischen Maharadscha als fromme Gabe für das Grab Mohammeds in Auftrag gegebene Stück ist mit mehr als 1,5 Millionen Perlen vom Golf bestickt und mit Diamanten, Rubinen, Saphiren und Smaragden besetzt.

Ein Buch-Shop aus handgetriebenem Edelholz, in der zentralen Lobby vor dem Museums-Café erinnert die qatarische Künstlerin Bouthayna Al Muftah mit ihrer Arbeit „Kan Ya Ma Kaan“ an das arabische Goldmaß Thahab, das für 21 Karat-Gold steht.

Trotz verschwenderischer Prachtentfaltung auf allen Ebenen ist Nouvels, schon jetzt mit Nachhaltigkeitspreisen überhäuftes Gebäude mehr als das Blattgold der qatarischen Modernisierung oder ein Feigenblatt von dessen Autokratie.

Mit seinen massiven Investitionen in Kunst, Kulturelles Erbe, Bildung und Kreativität will sich der Wüstenstaat für das postfossile Zeitalter wappnen. Es muss dieser Monarchie aber klar sein, dass sie damit auf lange Sicht ihren politischen Absolutismus untergräbt. Qatar dürfte eines der wenigen Länder der Erde sein, das ein Parlament besitzt, das nie gewählt wurde. Dafür aber in einem herrlichen, nachts jadegrün illuminierten Palast residiert.

Wer einmal die Freiräume von Kunst und Wissenschaft genossen hat, wird sie nicht wieder preisgeben wollen. Immerhin das unterscheidet die Wissensgesellschaften der Zukunft von den „Großen Reichen“ der machtlüsternen Potentaten. Bislang sind sie noch alle wieder zu dem Sand verfallen, aus dem die Herrscher sie stampften.

Ingo Arend

All images © Iwan Baan. My Modern Met granted permission to use photos by Ateliers Jean Nouvel.

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Eberswalde zeigt Walter Womacka. Der Staatskünstler soll damit nicht rehabilitiert werden. Er dient als Gegenstück zu Agit-Pop-Künstler Hans Ticha.

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Das allzeit optimistische Personal

Arschlöcher, Jubelmaler, Staatskünstler“. In einem legendären Interview zog 1990 der Maler Georg Baselitz über Kollegen wie Bernhard Heisig oder Wolfgang Mattheuer her. Nur jene, die das Land verlassen hatten, so befand der 1958 aus der DDR emigrierte Künstler, seien als Künstler zu bezeichnen. Seither klebt an der Kunst aus der DDR das Etikett der Nichtkunst.

Natürlich ist das Verdikt, Kunst, die im Kontext einer Diktatur entstand, sei per se gar keine, schon historisch eine abwegige Vorstellung. Dann müssten auch Michelangelo und Raffael aus dem Kanon der Hochkultur verbannt werden. Schmückten sie den Vatikan doch im Auftrag des unbarmherzigen Autokraten Papst Julius aus, dem seine Zeitgenossen den Beinamen „Der Schreckliche“ gaben. So wurde nicht einmal der nicht weniger autokratische Erich Honecker tituliert.

Doch wenn das Etikett vom „Staatskünstler“ stimmt, dann vielleicht doch bei einem Mann wie Walter Womacka. Spätestens seit Walter Ulbricht 1958 auf der IV. Deutschen Kunstausstellung in Dresden dessen Bild „Rast bei der Ernte“ entdeckte, stieg der 1925 im böhmischen Georgenthal geborene Künstler zu diesem Rang auf.

Für das Werk erhielt Womacka den Nationalpreis III. Klasse des Staates. Später wurde es in einer Millionenauflage als Briefmarke gedruckt. Seinen Förderer Ulbricht porträtierte der Künstler 1969 in ebensolcher Manier mit übergroßen Arbeiterhänden. Damit nicht genug: Womacka wurde verantwortlich für die künstlerische Gestaltung des Berliner Zentrums. Er schuf den Brunnen der Völkerfreundschaft auf dem Berliner Alexanderplatz.

Der Chefgestalter von Eisenhüttenstadt

Als Chefgestalter der 1950 aus dem Boden gestampften sozialistischen Musterstadt, die erst den Namen Stalins trug, später dann Eisenhüttenstadt hieß, schuf er mehrere große Wandbilder, die bei einem Besuch in der Stadt nach dem Mauerfall sogar den US-Filmstar Tom Hanks begeisterten.

Auch wer noch nie von diesem Mann gehört hat, hat wahrscheinlich schon einmal den kolossalen Wandfries „Unser Leben“ gesehen, der sich rund um das „Haus des Lehrers“ am Alexanderplatz zieht. Auf ihm zelebrieren Arbeiter, Techniker und Künstler den Aufbruch in die klassenlose Gesellschaft. Im ehemaligen Staatsratsgebäude am Schloßplatz laufen Besucher seinem riesigen Glasfenster mit einer sozialistischen Kleinfamilie entgegen.

Als Dozent für Malerei an der Weißenseer Kunsthochschule, deren Rektor er 1968 wurde, traf Womacka Ende der 50er Jahre übrigens auf Georg Baselitz, der damals noch Georg Kern hieß.

Mit seinem stilisierten, allzeit optimistischen Personal und der populären Darstellung galt Womacka als eine Art dekorativer Kitschmaler des sozialistischen Realismus. Dennoch präsentierte sich seine Kunst oft genug als faszinierendes Hybrid. Wenn er in sein Bild von Erika Steinführer, einer verdienten Wicklerin aus dem VEB Narva aus den achtziger Jahren, Zeitungsausschnitte integrierte, bediente er sich bei Techniken, die westliche Pop-Artisten wie Robert Rauschenberg in die Malerei eingeführt hatten.

Inspiriert von Picasso, Léger und Riveras

Komplexbilder“ nannte Womacka selbst diese Adaption von Rauschenbergs „Combine Paintings“. Und wie bei Willi Sitte, noch einem der von Baselitz verfemten Künstler, waren bei Womacka immer Elemente der klassischen Moderne zu entdecken: Echos der Formensprache Pablo Picassos, Fernand Légers oder Diego Riveras. 2010 starb Womacka in Berlin.

Dass die Stadt Eberswalde diesen Künstler nun in einer Ausstellung zeigt, hat nichts damit zu tun, dass sie einen Staatskünstler rehabilitieren will. Vielmehr soll die Schau die konkurrierenden Strategien künstlerischer Produktion unter den Bedingungen der Unfreiheit erhellen.

Eckhart Gillen, der nimmermüde Hyperspezialist der Kunst aus der DDR und Kurator der Ausstellung, hat dafür die Technik des Kontrasts gewählt. Womackas durchaus offiziösem Œuvre stellt er nämlich ein paar Schlüsselwerke des Malers Hans Ticha gegenüber.

Der, wie Womacka im heutigen Tschechien, aber 1940, 15 Jahre später geborene Ticha gehörte zur Künstlerszene des Prenzlauer Bergs. Als Brotberuf wählte er die Buchgrafik. So war er nicht abhängig vom staatlichen Auftragswesen für Maler. Die Bilder, mit denen er die Diskrepanz zwischen Ideal und Realität im Arbeiter- und Bauernstaat auf den Punkt brachte, konnte er offiziell nicht zeigen. Er versteckte sie in seiner Wohnung in der Rykestraße.

Von Agitation und Propaganda zur Pop-Art

Das Gegenstück zu Womacks berühmtem Paar am Strand heißt bei ihm „Kartenspielendes Paar am Strand“ und stammt aus dem Jahr 1969. Statt der Idylle Womackas, das zukunftsfrohe Paar züchtig in Freizeitkleidung, sieht man ein weniger wohlproportioniertes Paar in Badehose und Bikini, welches gelangweilt Karten spielt.

Tichas Figuren orientierten sich an der Bildsprache der Neuen Sachlichkeit, an Oskar Schlemmer und der Pop-Art. Mit seinem Bild „Der Trommler“ von 1981 treibt Ticha seine Abstraktion auf die Spitze. So wie er menschliche Gliedmaßen mit Fahne und Trommel kombiniert, löst sich das hohle Pathos des Systems in unverbundene Bruchstücke auf – aus Agitprop (Agitation und Propaganda) wird eine Art desillusionierter Agit-Pop.

Im Jahr 30 der sogenannten Deutschen Einheit zeigt das Eberswalder Projekt wunderbar unspektakulär, wie sich mit dem kulturellen Erbe des untergegangenen Staates umgehen lässt, ohne es aus dem kollektiven Gedächtnis zu tilgen. Ein Schicksal, das auch Teile von Womackas Werk ereilte. 1995 wurde sein zweiteiliges Wandbild „Der Mensch gestaltet seine Welt“ im Festsaal des DDR-Außenministeriums unter den Schaufeln der Abrissbagger begraben.

Weil Gillen Womacka eben nicht der „damnatio memoriae“ preisgibt oder anprangert, kann er das Erkalten der sozialistischen Utopie illustrieren, der sich der Parteigänger des „sozialistischen Humanismus“ verpflichtet fühlte. Wiewohl auch in seiner apologetischen Ästhetik Momente der Autonomie zu finden sind.

Vor allem das Beispiel Hans Tichas zeigt aber, wie falsch das Baselitz’sche Donnerwort ist. Es gab im DDR-(Kunst-)Kosmos ein richtiges Leben im falschen.

Ingo Arend

taz | 24.11.20

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AUSSTELLUNG

Walter Womacka – Das Ende einer Illusion: Walter Womacka mit einer Intervention von Hans Ticha.

Bis 31. Januar.

Kleine Galerie der Stadt Eberswalde im Haus der Sparkasse Barnim,

eberswalde.de/start/kultur/walter-womacka

SparkassenFORUM
Michaelisstraße 1
16225 Eberswalde

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Bild: Mosaikfries: „Unser Leben“ am Haus des Lehrers in Berlin an der dem Alexanderplatz zugewandten Seite

Quelle: selbst fotografiert

Autor: OTFW , Berlin

CC BY-SA 3.0

Lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Unported, 2.5 Generic, 2.0 Generic und 1.0 Generic .




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Streit um neuen documenta – Aufsichtsrat in Kassel

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„Es muss geklärt werden, ob wir den Aufsichtsrat überhaupt noch brauchen.“ So ließ sich Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle noch im Frühjahr 2018 vernehmen. Nach dem angeblichen Finanzskandal nach Abschluss der documenta 14 mit Standorten in Kassel und Athen war nicht nur der SPD-Politiker unzufrieden mit der Arbeit des Aufsichtsgremiums der 1955 gegründeten Weltkunstausstellung.

Ganz abschaffen will Geselle das Gremium offenbar nicht mehr. Aber der Weg zu einer effektiven Umgestaltung erweist sich als schwierig. Sein vor kurzem, zusammen mit dem Land Hessen ausgehandelter Entwurf zur Verkleinerung des Gremiums stößt auf Widerstand in der Kasseler Kommunalpolitik. Der Entwurf sieht einen, von 13 auf neun Köpfe reduzierten Aufsichtsrat vor.

Bislang gehören ihm neben Vertretern der Stadt, des Landes und der Kulturstiftung des Bundes auch vier Stadtverordnete an. Nun sollte er nur noch aus drei Mitgliedern der Stadt (Oberbürgermeister plus zwei weitere) und drei Mitgliedern des Landes (Kunstministerin plus zwei weitere) sowie aus drei unabhängigen Sachverständigen bestehen.

Der Bund, der bislang durch zwei Vertreter der Bundeskulturstiftung repräsentiert war, die die documenta finanziell unterstützt, wäre dann nicht mehr repräsentiert gewesen. Hortensia Völckers, die Künstlerische Leiterin der Stiftung und ihr mittlerweile pensionierter Vorstands-Kollege Alexander Farenholtz hatten das Gremium 2018 wegen der Art und Weise, mit der OB Geselle den Streit um die Finanzlücke der documenta 14 eskaliert hatte, verlassen.

Oberbürgermeister Geselle beruft sich bei seinem Entwurf auf den „Public Corporate Governance Kodex“ (PCGK) des Landes Hessen, an dessen Regelungen sich der documenta-Gesellschaftsvertrag anlehne. Der Kodex stelle für das Land Regeln und Handlungsempfehlungen für die Steuerung, Leitung und Überwachung von Unternehmen dar, an denen es beteiligt sei. Konkrete Vorgaben für die Größe und personelle Zusammensetzung der Gremien gibt der Kodex freilich nicht her.

Unwillen hatte unter Beobachtern die Tatsache des stromlinienförmig auf den Ob zugeschnittenen Gremiums erregt. Die Kasseler Parlamentarierinnen hatte nicht nur die Tatsache erregt, dass ihre Anzahl in dem neuen Aufsichtsrat dezimiert worden wäre. Was auch die Verankerung der documenta im politischen Raum geschmälert hätte.

Sondern dass die unabhängigen Sachverständigen auf Vorschlag von Beiräten des documenta-Instituts sowie der documenta-Geschäftsführung „aus sachnahen Gebieten mit nationaler Reputation“ gewählt werden sollten. Internationale Reputation kam offenbar nicht in Betracht.

Der Streit um den Aufsichtsrat ist ein weiterer Beleg für die holprigen Versuche zur Neuaufstellung des Komplexes documenta in der nordhessischen Metropole.

Erst kürzlich kippte die Stadtverordnetenversammlung nach Bürgerprotesten den Plan für einen Neubau des künftigen documenta-Instituts am Kasseler Karlsplatz Ein neuer Bauplatz ist noch nicht in Sicht.

Derweil kämpft auch die von dem indonesischen Kuratorenteam Ruangrupa kuratierte 15. Ausgabe der documenta angesichts der Corona-Pandemie mit Problemen. Reisen und Atelierbesuche können kaum stattfinden.

Eine Verschiebung der für Juni 2022 geplanten Schau in das Jahr 2023 schloss documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann dieser Tage in einem Interview aus. Deutete aber eine partielle Verlegung des Kunstgeschehens ins Digitale an.

Ob sich damit die jetzige Finanzplanung für die documenta aufrecht erhalten lässt, die wesentlich auf Einnahmen durch Tickets von vor Ort präsenten Besucher:innen basiert, steht in den Sternen. Um neuerlichen Finanzturbulenzen rechtzeitig vorzubeugen, könnte hier ein neuer Aufsichtsrat seinem Namen einmal gerecht werden.

Ingo Arend

Bild oben: Ortsschild Kassel | 10. August 2007 | N-Lange.de in der Wikipedia auf Deutsch | CC BY-SA 3.0



Ortsschild Kassel | 10. August 2007 | N-Lange.de in der Wikipedia auf Deutsch | CC BY-SA 3.0



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Alltag mit Corona: Berlin

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Die Gesichter im Halbdunkel sind nur schemenhaft zu erahnen. Die Augen sind auf das fluoreszierende Display gerichtet. Wer zu Beginn des Coronozän, des neuen Zeitalters im Zeichen des Virus, zum Spaziergang aufbrach, traf meist auf Konstellationen wie diese.

Berlin war da keine Ausnahme in dem globalen Trend. Menschen, die sich in Hauseingänge, Parkecken oder Bushaltestellen drückten, immer auf der Hut vor allzu eng aufschließenden Passanten oder den zirkulierenden Ordnungskräften.

Trotzdem entbehrte es natürlich nicht einer gewissen Ironie, dass die Pandemie ausgerechnet in der Hauptstadt der deutschen Demokratie alle zurück in eine rudimentäre Öffentlichkeit zwang, die an schlechte Gangster-Filme erinnerte.

Vielleicht war auch der Reiz, dieses symbolische Terrain zurückzuerobern, die treibende Energie hinter dem Furor, mit dem die sogenannten Querdenker Ende August den Reichstag zu stürmen versuchten. Oder wenige Monate später ein selbsternannter Globalisierungsgegner sein Auto gegen das Metallgitter von Angela Merkels Kanzleramt steuerte.

Gehörte es doch zu den paradoxen Erfahrungen der Pandemie, dass die Macht in Berlin sich umso unsichtbarer machte, je vehementer sie zuschlug. Täglich sah man die Kanzlerin mit den Ministerpräsidentinnen auf der Mattscheibe Maßnahmen verhängen.

Im real existierenden Regierungsviertel im Spreebogen herrschte freilich gespenstische Leere. Hatte man Angela Merkel noch am Abend des ersten Lockdown-Beschlusses getroffen, wie sie den Einkaufswagen durch ihren Lieblings-Supermarkt an der Friedrichstraße schob, war sie von da an ins Digitale entrückt.

Jedenfalls war es ein ziemliches Aufatmen, als die Zeit, in der infektionsfördernde Zusammenrottungen als Straftat galten, endlich endete. Und jetzt geht das Ganze schon wieder los. Zum zweiten Mal geschlossene Grenzen, Ausgangssperren soweit das Auge reicht, wieder steigen überall die Todeszahlen.

Zu Beginn der Pandemie hatten die Berliner noch getan, als ob für die Hauptstadt des Cool Sonderregeln gälten. Vom Ku’damm bis zur Friedrichstraße drängelten sich die Massen als wären sie immun gegen das Virus. In der Berliner U-Bahn husteten sich alle demonstrativ an. Und von der Bergmannstraße bis zur Partymeile an der Oberbaumbrücke schien der paradierenden Szenemeute aus Friedrichshain-Kreuzberg das Wort Maske ein nie gehörtes Fremdwort.

Die heran schwappende zweite Welle schien der Stadt dann aber gehörig in die Glieder zu fahren. Anfang Oktober zierte die wenigen Litfaßsäulen, die der Stadt, in der dieses Klebemedium entstand, noch geblieben waren, eine ziemlich rüde Plakatserie.

Das Stadtmarketing hatte dort ein Bild aufhängen lassen, das eine ältere Frau mit großer Mund-Nasen-Bedeckung zeigt, die dem Betrachter den Mittelfinger entgegenstreckt. Dazu der Spruch: „Der erhobene Zeigefinger für alle ohne Maske. Wir halten die Corona-Regeln ein“.

Selbst Michael Müller, Berlins unfassbar blass regierender Bürgermeister, erwachte plötzlich aus der Narkose. „Das ist peinlich“ beendete der große Zauderer den missglückten Versuch, der permissiven Metropole die Zügel der Distanznahme anzulegen. Musste angesichts der steigenden Inzidenzzahlen dann aber doch in den sauren Apfel des neuerlichen Lockdowns beißen.   

Dass die notorischen Partygänger nicht mehr im Berghain, Berlins mythischem Nachtclub, in schweißtreibender Enge feiern konnten, leuchtete ihnen langsam aber sicher ein. Es war freilich nur eine Frage der Zeit, dass sie Ersatz für die untersagte Vergemeinschaftung suchen würden. Irgendwann würde sich der Druck im Dampfkochtopf Pandemie sein Ventil suchen.

Solidarische Single wie ich können die vermaledeite Kontaktsperre noch mit dem Gang zum Supermarkt kompensieren. Zwischen Tiefkühlpizza, Äpfeln und Klopapier gaukele ich mir vor, in Gesellschaft und unterwegs gewesen zu sein. Und die Jungs in den türkischen Nachtbars wechseln jetzt halt mitternachts von den Outdoor-Lounges auf den Boden ihrer abgedunkelten Spielhöllen.

Die im ewigen Loop zwischen Barcelona, Berlin und Istanbul kreisende, Easy-Jet-Fraktion dagegen tut sich schwer damit, nur noch das Tempelhofer Feld umkreisen oder Radtouren in den Spreewald unternehmen zu dürfen.

Inzwischen trifft man beim nächtlichen Kontrollgang auf immer demonstrativere Corona-Parties. Zu Füßen des Wasserfalls in Kreuzbergs winterlich entblätterndem Viktoriapark formieren sich die Nachtschwärmer kurz vor Mitternacht zur kritischen Masse. Am Black Friday kam dann die pandemische Kernschmelze.

Der November ist der Monat der Eigenverantwortung“ hatte der Regierende den Hauptstädterinnen noch kurz zuvor in einem in alle Haushalte verteilten Brief eingebläut. In den Shopping Malls am Potsdamer Platz drängelten sich die Konsumjunkies wie in einer Nerzfarm.

Wie sehr vor allem der Kulturszene der Geduldsfaden zu reißen beginnt, demonstrierte die Columbiahalle direkt hinter meiner Wohnung am Südende von Kreuzberg.

Hatte das ehemalige Casino der US-Truppen am Flughafen Tempelhof, heute ein beliebtes Konzerthaus, auf seiner Leuchtwand noch das trotzige „Bis bald. Bleibt gesund!“ prangen, flackert dort heute die neonfarbene Drohung „Hier eröffnet in Kürze ein Getränkemarkt“.

Mich wundert das alles nicht“, gestand ich einem Freund, mit dem ich Mitte November die heilsgewisse Truppe von Anti-Coronisten mit Friedenstauben und Luftballons aus roten Herzen beobachtete, die die Polizei mit Wasserwerfern vom Reichstag weg in Richtung Brandenburger Tor spritzte.

Von den nervtötenden Maskenverweigerern waren mir dann aber doch die Woodstock-Jünger lieber, die im Sommer in der Neuköllner Hasenheide ihre strahlenden Knicklichter geschwungen hatten. Jetzt sitzen sie mitternachts im dicken Parka auf der Parkbank, lassen die Dealer an sich vorüber flanieren, starren auf ihre blinkenden Smartfons und warten auf Angela Merkels Entwarnung – die nicht kommt.

Ingo Arend

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Foto: Regierungsviertel bei Nacht, Berlin-Mitte

Blick von der Marschallbrücke nach Westen auf das Regierungsviertel in Berlin-Mitte bei Nacht. Gebäude von links nach rechts: Jakob-Kaiser-Haus, Reichstagspräsidentenpalais, Reichstag, Paul-Löbe-Haus, Marie-Elisabeth-Lüders-Haus.

By Ansgar Koreng / CC BY-SA 3.0 (DE)

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