Quantcast
Channel: Ingo Arend – getidan
Viewing all 84 articles
Browse latest View live

11. Contemporary Istanbul 2016

$
0
0

Die Istanbuler Kunstmesse ist eine Mischung aus ästhetischem Mittelmaß und Szene-Attraktion. In diesem Jahr wurde sie auch noch zum Symbol der Kunstfreiheit.

„So einen Sultan Süleyman kennen wir nicht. Der echte Süleyman hat 30 Jahre auf einem Pferd verbracht. Sein Leben verlief nicht im Serail. Ich kritisiere die Serienregisseure und die Fernsehbosse vor dem Volk. Eine solche Einstellung ist inakzeptabel. Es ist unmöglich, dass mit nationalen Werten gespielt wird“.

Ende 2012 war Recep Tayyip Erdoğan in seinem Element. Weil Sultan Süleyman in der beliebten Fernsehserie Muhteşem Yüzyıl (Das prächtige Jahrhundert) nicht heldenhaft genug dargestellt worden war, schäumte der damalige Premierminister. Prompt wurde die Historiensoap aus dem türkischen Fernsehen verbannt. Das Beispiel des unduldsamen Kunstrichters wirkt bis heute nach.

Denn die Drohungen, die am Donnerstag religiöse Fanatiker auf der Istanbuler Kunstmesse „Contemporary Istanbul“  (CI) gegen eine Statue des türkischen Künstlers Ali Elmacı am Stand der chilenischen Galerie Croxatto ausstießen, lagen ganz auf Erdoğans Linie.

Sultan Abdulhamid II. auf dem Bauch einer Frau im Bikini abzubilden, so ereiferte sich kurz vor Messeschluss ein Trupp der nach einem ehemaligen, islamistischen Premierminister benannten „Erbakan Vakfi – Erbakan Stiftung“ sei respektlos. „Allahu akbar“ skandierten sie in den Messehallen. Kaum hatte die Messe das Werk vor den Aufgebrachten in Sicherheit gebracht, brüstete sich die Gruppe bärtiger Männer mit triumphierend gerecktem Daumen und Fahnen schwenkend auf Twitter.

Unter normalen Umständen wäre der Schauplatz des versuchten Ikonoklasmus kaum der Rede wert. Mit fast 80.000 Besuchern im vergangenen Jahr hat der kunstvernarrte, Istanbuler Touristik-Unternehmer Ali Güreli seine 2005 gegründete Messe in zehn Jahren doch tatsächlich in eine Spitzenposition unter den internationalen Kunstmessen gehievt. Diesen Rekord verdankt sie freilich weniger ihrer Qualität.

Perlen im Heuhaufen

Wer lange genug sucht, findet zwar auch auf dieser Messe im Lütfi-Kirdar-Kongress-Zentrum, einen Steinwurf vom Gezi-Park entfernt, immer wieder ein paar Perlen. Die Istanbuler Galerie Daire bot für umgerechnet kaum 2000 Euro eine Plexiglas-Box des türkischen „Propaganda-Artisten“ Nesren Jake mit dem schönen Titel „Ottoman-Slap“ an.

Die fünf ausgestreckten Finger aus Neonröhren darin ironisieren im Stil der Pop-Art die Ohrfeigen, mit denen der kunstkritische Sultan-Präsident sein ungezogenes Volk in ein anderes Zeitalter zurück watschen will.

SAMSUNG CAMERA PICTURES
Nesren Jake, Firestarter. 2016 Neon in Plexiglas-Box. Foto: Galerie Daire.

Und als Şükran Moral, die Altmeisterin der politischen Provokation, in ihrer Überraschungs-Performance „Hit-and-run-my-heart“ mit schmerzverzerrtem Gesicht vier frische Tierherzen vor den ungläubig geweiteten Augen der gut verhipsterten Messebesucher auf eine weiße Standwand nagelte, um gegen Zensur, Repression und Verhaftung und für die Liebe als Allheilmittel zu werben, schien plötzlich etwas davon auf, wie blutig ernst der Alltag nicht nur in der Türkei geworden ist.

Ansonsten regieren die CI verlässlich farbenfrohe Großformate und allerlei schillernde Kostbarkeiten. In diesem Jahr schossen verschleierte und unverschleierte Besucherinnen ihre Selfies am liebsten vor Mike Dargas‘ 30.000 Dollar teurem, hyperrealistischem Ölschinken „Peace of Mind“, auf der eine Frau ihre Zunge wie auf dem Cover von Grace Jones‘ legendären Album „Portfolio“ lüstlich aus dem Mund schießen lässt.

Die glitterbedampften Porzellanhörner namens „Journey to Immortality“ die die New Yorker Galerie Marlborough in ihrer pompösen One-Man-Show des türkischen Künstlers Ahmet Güneştekin für sage und schreibe 600.000 Dollar feilbot, erinnerten weniger an die mythische Dhul-Qarnayn-Figur des Koran als an Horrorkitsch für Halloween, der inzwischen auch in der Türkei gefeiert wird.

Und selbst ernsthafte Galerien wie Johann König aus Berlin, von Ali Güreli auf Händen an den Bosporus getragenes Aushängeschild des Kunsthubs an der Spree, glaubte, den angeblich so populären Geschmack der sehnlich erhofften türkischen Kundschaft bedienen zu müssen.

König bot süßliche Interieurbilder von Matthias Weischer, einem der Stars der längst vergessenen, meist neofigurativen „Leipziger Schule“ an. Kostenpunkt: Zwischen 4.500 und 45.000 Euro.

Dabei sind die türkischen Sammler gar nicht so engstirnig, wie allgemein kolportiert wird. „Collectors‘ Stories“, der von Messekurator Marc-Olivier Wahler und Programmdirektor Marcus Graf neu eingerichteten, überaus erfolgreichen Schau, gelang es, den Schleier von dem Ominosum der türkischen Kunstszene zu ziehen.

60 einheimische Sammler präsentierten ihre Lieblings-Werke. Dazu zählten zwar Werke typisch „türkischer“ Künstlerinnen wie Gülay Semercioğlu, deren Bilder von weitem wie abstrakte Ölgemälde wirken, sich aus der Nähe aber als filigrane Silberdrahtverspannungen erweisen, die ihre Umgebung reflektieren und das Licht brechen. Wer auf Künstler wie Elmgreen&Dragset, Julian Opie oder Frank Stella fliegt, dürfte anderen Perspektiven zugänglich sein als der brutalen Top-down-Variante, die Präsident Erdoğan vorschwebt.

Kaum austrahlungsfähig

Das ändert nichts am labilen Gesamtbild der Messe. Blue-Chip-Galerien aus Europa, Fernost oder Übersee meiden die CI-Messe beständig. Sieht man von einem „major player“ wie der Galerie Lelong aus Paris ab, die immerhin eine Skulptur von Jaume Pensa an den Mann brachte. Die lokalen Galerien sind unzufrieden, weil es Messechef Güreli nicht gelingt, ein international ausstrahlungsfähiges Event zu lancieren.

Dennoch hat es die mittelmäßige Messe geschafft, die auf das Hochpreis-Segment angesetzte Konkurrenz „ArtInternational“ aus dem Feld zu schlagen, die der Londoner Messe-Unternehmer Sandy Angus 2013 am Bosporus gegründet hatte. Mit Hinweis auf die explosive politische Lage hatte die Messe nach der dritten Ausgabe aufgegeben. Unter der Hand war aber zu hören, dass die ArtInternational zwar so glamourös war, wie Galeristen sich Messen wünschen, aber kaum gekauft wurde.

Dass sie aus diesem, teils vor Gericht ausgetragenem Verdrängungswettbewerb als Sieger hervorging, verdankt die CI freilich der Tatsache, dass sie einer Gesellschaft unter akutem Formierungszwang als sozialpsychologisches Ventil und Plattform unreglementierter Kommunikation dient.

Nach einem Sommer politischer Hochspannung suchten auch nicht so kunstaffine Istanbuler nach Alternativen zum überall aufquellendem, ottomanischen Firlefanz, den Bildern ihres grimmigen Präsidenten und den ubiquitären Atatürk-Porträts. Deswegen standen am Mittwoch die Entspannungssüchtigen wieder bis hinauf ins elegante Nişantaşı-Quartier. Nun avanciert dieser immer etwas provinzielle Jahrmarkt auch noch zum Symbol der Kunstfreiheit.

Schon im Vorfeld der Messe hatte Güreli mit dem Motto „Dies ist das Jahr der Solidarität“ für sein „Baby“ getrommelt und Kunst als Mittel von „Dialog, gegenseitigem Verständnis und Aussöhnung“ beschworen. Und der größte Erfolg der Messe, war, dass sie nach den abgesagten Biennalen in Çanakkale und Sinop (SZ vom 16.9.) überhaupt stattfand. Das Signal nach außen war klar und überfällig: Die Kunstszene gibt nicht auf.

Zusammen sind wir stärker

„Zu keiner Zeit stand für uns die Frage im Raum, dass wir absagen“, beteuert der sonst stets hemdsärmelige und eher unpolitische Unternehmer Güreli. „Zusammen sind wir stärker.“ Richtig erhört wurde sein Aufruf, in politisch bedrängten Zeiten auf (s)einer Messe zusammenzustehen, dennoch nicht.

Nicht nur, dass sie angesichts der explosiven Lage im Land auf 70, weit überwiegend türkische Galerien geschrumpft war. Gut zehn wichtige Lokalmatadore fehlten: Rampa etwa, der mondänen Exzellenz-Galerie des Architekten-Ehepaars Arif und Leyla Suyabatmaz sind gewinnträchtigere Messen wie die Londoner Frieze wichtiger als politische Solidarität mit ihren Konkurrenten und einer Lokalmesse vor Ort.

Und der umtriebige Kerimcan Güleryüz, Chef der Galerie „The Empire Project“ hatte schon vier Wochen zuvor mit der neu gegründeten „Contemporary Art Galleries Cooperation (CGDS) sein eigenes „Solidarity-Weekend“ aus dem Boden gestampft.

Auch bei der Regierung verfehlte Gürelis Appell sein Ziel. Noch sitzt zwar kein Bildender Künstler im Gefängnis. Die Verhaftung der 13 „Cumhuriyet“-Journalisten, passgenau zum Messe-Auftakt, sandte freilich Schockwellen in die Szene. Jeder weiß: Kunst und Journalismus sind die zwei Seiten derselben Medaille namens „Freedom of Expression“. Die Einschläge kommen näher.

„Ich glaube nicht“ antwortete Messechef Güreli nur kurz auf die Frage, ob demnächst Kunstinstitutionen direkt betroffen sein könnten. Andere sehen das kritischer. „Das ist der Tropfen, der für mich das Fass zum Überlaufen bringt“, seufzte dagegen ein junger Kurator, der vor zwei Jahren aus den USA an den Bosporus gekommen war, zu der spektakulären Verhaftung. „Ich muss mir langsam meinen Plan B zurecht legen“.

Biennale und Messe zusammen

Angesichts dieser bedrohlicher werdenden Lage ist es vielleicht doch nicht so falsch, wenn im nächsten Jahr zusammenwachsen soll, was eigentlich nicht zusammen gehören soll: Kunst und Kommerz. 2015 hatte sich die Istanbuler Stiftung Kunst und Kultur (IKSV) noch mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, dass ihrer Istanbul-Biennale eine Kunstmesse allzu sehr auf den Pelz rückt.

Für 2017 hat sie eingewilligt, dass das prestigereiche Event und die CI zeitversetzt beide Anfang September eröffnen. Hinter den Kulissen war zu hören, dass Bülent Eczacıbaşı, Vorstandsvorsitzender der auf Pharmazie spezialisierten Eczacıbaşı Holding A.Ş, ehemaliger Chef des Unternehmerverbandes TÜSIAD und Chef der von seinem Großvater Nejat gegründeten und später von seinem Vater Şakir geführten IKSV sein Plazet für die Kooperation gab.

„Langfristig wollen wir mit dieser Liaison einen Istanbuler Kunstherbst nach Berliner Muster entwickeln“, freut sich der geschäftstüchtige Güreli, der sich vor kurzem in weiser Voraussicht schon mal ein Haus an der Spree gekauft hat.

Ob dieser Schulterschluss den Durchmarsch der islamischen Diktatur am Bosporus aufhalten, ihm widerstehen, ihn gar überleben kann, wird sich zeigen. Er muss auch nicht zwingend das Ende der Kunst bedeuten. Das Beispiel der Emirate zeigt, dass sie sich mit der Diktatur recht gut verträgt. „Im Zweiten Weltkrieg gab es doch auch Soap Operas“ zuckte Bedri Baykam sarkastisch die Achseln.

Die türkische Malerlegende, Jahrgang 1957, Pionier des Neuen Expressionismus in den achtziger Jahren, einer der erbittertsten Gegner des AKP-Regimes, steht wie jedes Jahr mit einem Stand seines privaten Piramid-Kunstcenters auf der CI. Die Künstlermähne mit der weißen Strähne nach hinten und einen Schal um den Hals geworfen, wirbt der Ultrakemalist mit Händen und Füßen für seine Künstler, trommelt unermüdlich für die Freiheit der Kunst.

Für den Fall, dass es anders und die Diktatur trotzdem kommt, hat sich der türkische Zeichner bulgarischer Herkunft Ibrahim Resnelli seinen Kolleginnen schon mal als Berufsberater präsentiert:

Auf seinem neuesten Werk hat er in dicken schwarzen Lettern ein altes Zauberwort auf einen Radiergummi geschrieben: „Underground Artist“. Bleibt abzuwarten, ob es soweit kommt. Aber wenn, dann wird der große Kunstrichter im Weißen Palast in Ankara sicher auch daran etwas auszusetzen haben.

bild3-900
Ibrahim Resnelli, Confessions of Underground Artist. 2016. Grafit auf Papier. Foto: Galerie Daire.

Ingo Arend in Süddeutsche Zeitung vom 5.11.2016

Bild ganz oben: Ali Elmacıs heftig umstrittene Arbeit auf der CI | Foto: Galerie Croxxato

Share

Najem Wali: Im Kopf des Terrors

$
0
0

Ist die Französische Revolution schuld? In seinem Buch „Im Kopf des Terrors“ analysiert der Deutschiraker Nahem Wali die heutigen Gesichter der Gewalt – und landet bei der „terroristischen Logik eines Robespierre“. 

Ist die Französische Revolution schuld am Terror unserer Tage? Die Frage klingt absurd. Auf nichts anderes jedoch läuft die Argumentation Najem Walis hinaus. In seinem neuen Buch erinnert der deutsch-irakische Schriftsteller an die „terroristische Logik eines Robespierre“. Sie werde „immer die Schule bleiben, die ihre Nachfolger, die sich mit diesem vergifteten Samen infizieren, durchlaufen werden … in Frankreich, Europa und dem Rest der Welt“. Die Brüder El-Bakraoui, die Selbstmordattentäter von Brüssel, Salah Abdesalam, der Drahtzieher der Pariser Anschläge 2015 und Maximilien de Robespierre, der „Blutrichter“ des Pariser „Terreur“, wären demnach Verbrecher aus demselben Geiste.

Wali, 1956 im irakischen Basra geboren und 1980 nach Deutschland geflüchtet, ist einer der Autoren in Deutschland, dessen literarisches Werk dermaßen von den Erfahrungen von Gewalt, Krieg und Terror durchdrungen ist, dass man aufhorcht, wenn dieser außergewöhnliche Schriftsteller, lange Kulturkorrespondent der arabischen Tageszeitung „Al-Hayat“, politisch-philosophisch zu abstrahieren versucht, was er in seinen Romanen am Beispiel der Schreckensherrschaft Saddam Husseins, der Vertreibung der Juden aus Bagdad oder des Iran-Irak-Krieges ästhetisch-konkret verarbeitet.

Wali will, wie er in der Einleitung schreibt, „den Terror selbst und seine mannigfaltigen Gesichter erforschen“ und eine „Reise in den Kopf des Terrors unternehmen“. Vor allem will er die Perspektive durchbrechen, die den Terror nur als Problem der muslimischen Welt sieht. Er sei vielmehr, ruft er in der Einleitung in Erinnerung, „so alt wie die Menschheit, so vielfältig wie der Mensch und die Orte an denen er lebt.“ Tut sich aber selbst schwer mit der wünschenswert differenzierten Betrachtung, zu der er mahnt.

Wali ist ein Essay im besten Sinne des Wortes: Ein Versuch jenseits jeder akademischen Scholastik, leergelaufener Diskursformeln, kurzum: Er ist eine Übung im freien Denken auf unsicherem Terrain, eher assoziativ als strukturiert. Der Autor stützt sich dabei nämlich nicht auf sozialwissenschaftliche Analysen. Sondern versucht sich an einer Art Kulturgeschichte des Terrors. Als Autor felsenfest überzeugt von der prophetisch-diagnostischen Kraft der Literatur meint er das Wesen des Terrors aus den Klassikern ableiten zu können.

Als Kronzeugen ruft er Autoren wie Ernest Hemingway und andere, vor allem aber Georg Büchner auf. Er zitiert Robespierres Satz im 1. Akt von „Dantons Tod“ vom „Schrecken als Ausfluss der Tugend“ und der „unbeugsamen Gerechtigkeit“. Und in der revolutionären Geheimorganisation, die Fjodor Dostojewski in seinen „Dämonen“ entwirft, sieht er „das Bild enthüllt, nach dem alle künftigen Terrororganisationen handeln sollten“.

Das klingt überzeitlich, unhistorisch und resistent gegen Empirie. Als Beleg für die Evidenz dieser literarischen Fiktionen führt Wali aber zwei aktuelle Beispiele an. Menschen, denen es der Terror ermöglicht habe, „dem Bösen in ihrem Inneren freien Lauf zu lassen“: Der deutsche Automechaniker Stefan D. als Mitglied der islamistischen „Lohberger Brigade“ in Syrien und der deutsche Fremdenlegionär Nils M. in seinen fünf Jahren als Soldat der Fremdenlegion bei Einsätzen in Afrika. „Der Krieg“, so fasst er ihre Bekenntnisse zusammen, „dient … als Gelegenheit, andere zu töten … ohne eine Strafe zu erwarten“.

Mit dieser „Beweisführung“ verwandelt Wali das Phänomen Terror schleichend in eine Art anthropologische Konstante und den Terroristen in einen modernen Wiedergänger des Herostrat, der im Jahr 365 v.u.Z. eines der sieben Weltwunder, die Bibliothek von Ephesos in Brand steckte, um seinen Namen unsterblich zu machen. Jean-Paul Sartre hat den Protagonisten seiner Erzählung „Herostratos“ dieser antiken Gestalt nachempfunden. Für Wali fühlt sich dieser kleine Angestellte Paul Hilbert nur wohl, wenn er „dieses Ding“ bei sich trägt, „das explodiert und knallt“.

Dann jedoch ruft Wali das „Gefühl des Scheiterns“ der „gesellschaftlichen Verlierer“, den „Kindern des Ghettos“ der französischen Banlieues auf. Oder er beklagt das „aristokratische Gefühl von Langeweile“, das junge Europäer zu Kämpfern des Islamischen Staates werden lässt. Und deutet damit soziale Ursachen des Terrors an – soziale Ächtung und Zivilisationsmüdigkeit.

Spätestens hier wird seine These porös, dass Terror nur einer nihilistischen Logik folgt, es seinen Vollstreckern einzig und allein um das Prinzip „Zerstörung um der Zerstörung willen“ geht. Ein Prinzip, das schon das Geschichtsbild seines letzten Romans „Bagdad Marlboro“ (2014) grundierte. Gerade hat eine Studie der Weltbank zum gewaltsamen Extremismus bei über 8000 IS-Rekruten festgestellt: „Es gibt eine starke Beziehung zwischen der Arbeitslosenrate bei Männern in einem Land und der Tendenz dieses Landes, Rekruten für den Terror bereitzustellen“. Gemessen daran klingt Walis Fazit: „Das Töten ist ein Instinkt, genauso wie das Böse. Das Gute ist eine Idee, eine Haltung, genauso wie der Frieden“ biologistisch verkürzt. Was nicht heißen soll, dass man den ethischen Imperativ darin negierte.

Walis Kernanliegen ist absolut nachvollziehbar: Er will „dem Terror“ den Schein der politischen und religiösen Legitimität nehmen, mit dem der seine Bluttaten bemäntelt. Und ähnlich wie bei dem heftig umstrittenen Vergleich zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus in der Totalitarismus-Theorie ist Walis These zumindest versuchsweise statthaft, dass der saudische Wahhabismus und die Französische Revolution vergleichbar sind, weil beide auf denselben Selbstlauf des Terrors gegen „Ketzer“ beziehungsweise Gegner des „Gemeinwillens“ setzen.

Die Circulus-vitiosus-Formel Robespierres, dass Terror ohne Tugend verhängnisvoll, Tugend ohne Terror aber machtlos sein, könnten die „Hüter der Heiligen Stätten“ in Mekka und Medina – Wali nimmt sie so schonungslos aufs Korn wie die Taliban oder die Salafisten – vermutlich auch unterschreiben. Dennoch erwartet man bei einer so heiklen Versuchsanordnung für ein so komplexes Phänomen wie den Terrorismus im Zeitalter der Globalisierung doch ein etwas komplexeres Fazit als die Wiederholung von Dostojewskis dämonisierendem Mantra von dem „Teuflischen, das sich nicht beherrschen lässt“.

Ingo Arend

taz – die tageszeitung vom 21.11.2016

cover_imkopf_des_terrors_350

Najem Wali: Im Kopf des Terrors. Vom Töten mit und ohne Gott

Aus dem Arabischen übersetzt von Markus Lemke

Residenz-Verlag, Salzburg 2016

160 S., 19,90 Euro

Share

Mit „The Red Gaze“ eröffnet die Istanbuler Galerie Silbermann ihre Berliner Dependance

$
0
0

Töte nicht die Nachtigall

Ein hageres Gesicht, die Augen vor Entsetzen aufgerissen, die Lippen schmal zusammengekniffen. Ungefähr so könnte Arnold Schoenberg ausgesehen haben, als er sich 1933 entschloss, aus seinem damaligen Exil in Frankreich in die USA zu emigrieren. Europa fiel an den Faschismus, Juden, Linke, Akademiker, Künstler machten sich auf die Flucht. Das Entsetzen über die dramatische politische Lage ist dem Komponisten wie ins Gesicht geschrieben.

Der Künstler als Zeuge. Kaum ein Werk könnte die Idee der Ausstellung „Red Gaze“ deutlicher visualisieren als das ungelenke Selbstporträt, das der 1951 in Los Angeles gestorbene Künstler 1944 selbst schuf. Sie zieht sich wie ein Roter Faden durch die Themenausstellung der Galerie Zilberman. Zur Eröffnung ihrer Dependance an der Spree wollte das Istanbuler Haus ein programmatisches Zeichen setzen. „In Zeiten wie diesen“, erklärt Besitzer Motz Zilberman, „wollen wir mehr machen als das normale Galerie-Programm“. Zur Ausstellung gibt es auch ein umfangreiches Rahmenprogramm.

Ihren Titel bezieht die Schau von einem früheren, expressionistischen Selbstporträt Schoenbergs aus dem Jahr 1910, dessen rot glühende Schatten über den Augen schon den Gedanken einer überzeitlichen Ausdruckskraft und der Bedeutung von Blickregimen ventilierten. Kuratorin A.S. Bruckstein Çoruh ist es gelungen, einen mit 14 Arbeiten zwar kleinen, aber hochrangig bestückten Parcours aus Bild, Schrift, Skulptur, Video und Audio zu inszenieren, der die Warburgsche Idee von der „Pathosformel“ variiert: Einer universell gültigen, diachron wiederkehrenden Formensprache.

Die Mimik des leidenden Zeugen lässt sich von dem schmerzensreich gekrümmten „Torso eines Cristo Vivo“ aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts aus Flandern über Schönbergs Porträt bis zu dem „Standing Man“ von Erdem Gündüz verfolgen. Im Juni 2013 stand der, während des Aufstands am Gezi-Park, acht Stunden auf dem Istanbuler Taksim-Platz – den Blick starr auf das Atatürk-Kulturzentrum gerichtet. In einer Audio-Datei ist die Stimme des Künstlers zu vernehmen.

Es dürfte kein Zufall sein, dass eine Istanbuler Galerie das Thema von Kunst und Zeugenschaft, Kunst und Widerstand zur Debatte stellt. In der Randlage des saturierten Berliner Westens entfaltet sie ihre besondere Kontrastwirkung. Und angesichts der zugespitzten Weltlage kann sich der Betrachter dem moralischen Druck der Idee, der Exponate und der Künstlerhaltungen auch nur schwer entziehen.

bild_2-900
Şükran Moral: Don’t Kill the Nightingale, Mischtechnik auf Papier, 2015. Courtesy: Şükran Moral and Zilberman Gallery Istanbul/Berlin.

As long as wars are still being waged in the name of religion, artists cannot keep quiet about it“ hat die türkische Künstlerin Şükran Moral auf die Wand geschrieben. Sich selbst hat die Altmeisterin der politischen Provokation auf der Wand gegenüber als Vogel im Käfig dargestellt, der das Blut vom Kopf strömt: „Don’t kill the nightingale“ hat sie die Zeichnung genannt. Überall waltet ein heiliger Ernst. Zudem ist die Ausstellung der im letzten Jahr einer AKP-Kampagne zum Opfer gefallenen Kunstbiennale im türkischen Çanakkale an den Dardanellen gewidmet.

Die Rollenzuweisung, auf die die Schau hinauswill, hat freilich ihre Tücken. Der Zeuge ist nämlich zur Wahrheit verpflichtet. Welch‘ grausige Züge das annehmen kann, zeigt Erkan Özgens Video „Wonderland“. Darauf erzählt der dreizehnjährige Muhammad, ein taubstummes Kind aus einem kleinen syrischen Dorf an der türkischen Grenze, pantomimisch nach, wie er Zeuge wurde, als seine Familie ermordet wurde – das Abschlagen der Köpfe seiner Cousins und das Aushöhlen ihrer Augen inklusive.

Künstler jedoch sind zur Fiktion verpflichtet. Nur wenigen gelingt es, das Reale des Entsetzens so zu verschlüsseln wie dem pakistanischen Künstler Imran Qureishi. In seinen Gouachen „Blessings Upon the Land of my Love“ deuten Flecken auf roter Wasserfarbe in einem Haus ohne Dach die Tragödie nur an, die sich hier abgespielt haben könnte.

bild_3-900
Memed Erdener (a.k.a. Extramücadele): The Truth and the Public, Brille, Blechtrichter, Eisenbügel, 2015. Courtesy: Memed Erdener and Zilberman Gallery Istanbul/Berlin.

Die schmerzhafte Ambivalenz der Zeugenrolle hat der türkische Künstler Mehmet Erdener alias Extramücadele in ein Kunstwerk gegossen, das beim bloßen Anschauen Schmerzen bereitet. Auf einem weißen Sockel hat er eine schwarze Brille gelegt, dessen Gläser aus zwei kleinen, spitz auf den Betrachter zulaufenden Blechtrichtern bestehen. „The Truth and the public“ hat Erdener die Arbeit nicht umsonst genannt.

Ingo Arend
taz- die tageszeitung vom 07.12.2016

Bild ganz oben: Erkan Özgen: Wonderland, Video, 2016. Courtesy: Erkan Özgen

AUSSTELLUNG

The Red Gaze

Gruppenausstellung in der Zilberman Gallery, Goethestrasse 82, 10623 Berlin

Kuratiert von: A.S. Bruckstein Çoruh

Noch bis zum 23. Dezember 2016.

Katalog 10 Euro

Share

Berliner Szene: Die Kreuzberger „Espressolounge“ muss schließen

$
0
0

Schmuddelarkadien

Die können Schutzgeld nehmen, die Mieten hochtreiben und alles“. Die beiden Gäste an dem runden Tisch vor der grünen Wandbank reden sich in Rage. Der Hagere mit dem straffen Weißhaarschopf steht im grauen Anzug davor, sein pummeliger Nachbar schaut zu ihm auf. Seit am Tresen ein Zettel hängt, dass die espressolounge wegen der „überzogenen Forderungen“ des Vermieters schließen muss, quillt der Zorn über den Niedergang des Kiezes aus allen Gesprächen.

espresso-lounge-berlin_450
Foto: Ingo Arend

Richtig schön ist das kleine Kreuzberger Café mit den großen Fenstern zur Bergmannstraße nicht. Abgesessene Sofas, verschrammte Stühle, wacklige Holztische. Seine Insassen spielen dort Stickluft-Bohème, wirken aber wie Protoprekäre, die ihr Zeitungsabo sparen. Jetzt dämmert allen, dass das Schmuddelarkadien tatsächlich das ist, was die Cafè-Besitzerin händeringend sucht: ein Ort, „wo sich Menschen treffen können“.

Weißt Du irgendwas?“, fragt der Zopfträger, der immer demonstrativ ein Buch von Handke oder Hessel vor sich legt, dann aber doch lieber Gäste agitiert, den introvertierten Bouquinisten neben sich. Der schüttelt ratlos den Kopf. „Was liest Du heute?“, fragt er zurück. „Klassiker. 18/19. War ‘ne spannende Zeit“. Am Nebentisch summt „Assange“, ein altersloser Typ mit weißem Bürstenhaarschnitt und Nerdbrille mit geschlossenen Augen unter seinem Kopfhörer. Der Bürstenhändler aus der Heimstraße brütet über einem Kreuzworträtsel.

Ich wünsch Euch was“, flötet die gesträhnte Dame dem Mann an der Kasse, als sie die kleine Reinigung neben der espressolounge verlässt, „wir bleiben uns treu“. Das frisch gechlorte Jackett in Plastikfolie flattert im eisigen Dezemberwind. Ihr Wort in des Hausbesitzers Weichspülgang. Der letzte Laden, der auf dem Boulevard der Touristen noch Alltagsdienstleistungen statt Batikschals, Olivenöl und Ampelmännchen anbietet, ist sicher als nächster dran.

Ingo Arend

taz | 27-12-2016

Share

Wozu ein Schleier alles gut sein kann

$
0
0

Nach der Absage der repräsentativen Groß-Ausstellung des Teheraner Museums für Moderne Kunst in Berlin öffnet die Schau „A Heritage Transposed“ den Blick auf die unabhängige Kunstszene des Landes.

Ein gesichtsloser Herrscher im Schneidersitz auf einem Thron aus Lotusblüten: Auf den ersten Blick wirkt „Lotus“, das Bild aus dem Jahr 2013 wie ein Remake der traditionellen Kunst aus Fernost. So filigran und friedfertig wirken die pastellfarbenen Figuren auf der in Zeitlupe voranschreitenden Videoanimation.

Der Rückgriff auf die persische Miniaturmalerei ist tatsächlich ein Kennzeichen der Kunst von Shiva Ahamdi. Doch wer genau hinschaut, bemerkt, dass die hybriden Fabelwesen der 1975 in Teheran geborenen Künstlerin, die vor dem Tyrannen in Demutsstellung kauern, nicht irgendwelche Kugeln in der Hand balancieren, sondern Bomben und Handgranaten.

Zu welch ununterscheidbarer Melange sich Kunst und Politik, Krieg und Ästhetik, Gewalt und Schönheit im Iran von heute vermischt haben, ist die nachdrücklichste Botschaft der Ausstellung „A Heritage Transposed“. Kaum eine der zwölf Arbeiten in dem unabhängigen Art-Space „Box-Freiraum“, die Kuratorin Anahita von Plotho zusammen getragen hat, die nicht von diesem neuralgischen Komplex imprägniert wäre.

3-900
Setareh Shahbazi, Spectral Days, 2013, C-Prints oder Pigmentprints, verschiedene Maße, Courtesy die Künstlerin und Gypsum Gallery, Kairo

Ob es nun Setareh Shabazis Collagen „Spectral Days“ sind. Auf ihnen hat die in Teheran und Berlin lebende Künstlerin, Jahrgang 1978, fotografische Erinnerungsfetzen ihrer Kindheit so mit Bildern aus der Geschichte ihrer Heimat überblendet, dass sie wie Palimpseste aus individuellem und kollektivem Schicksal wirken.

Oder ob es die bunten Collagen Ramin Haerizadehs sind, auf denen Mullah-Figuren neben dem Tennis spielenden Ex-Schah stehen. Der 1975 in Teheran geborene Künstler, der heute in Dubai lebt, befragt die iranische Geschichte, in dem er historische Motive der persischen Kunst am Bildschirm verfremdet und als großformatige Fotos wieder ausdruckt.

2-900
Ramin Haerizadeh, Still Life, King and Queen Tomato, 2011, Papierkollage, Acryl und Tinte auf Leinwand, 170 cm x 140 cm, Courtesy Privatsammlung, München

Die kleine, hochpolitische, aber immer ästhetisch anspruchsvolle Ausstellung sollte eigentlich die Großausstellung legendärer Schlüsselwerke aus der Sammlung des Teheraner Museums für Moderne Kunst in der Berliner Gemäldegalerie ergänzen, das einst Kaiserin Farah Diba errichten ließ.

Im letzten Moment versagte Staatspräsident Rohani der Schau seine Unterschrift. Daraufhin sagte die Stiftung Preußischer Kulturbesitz den jahrelang geplanten Coup endgültig ab. Es ist nicht das schlechteste Ergebnis dieses Debakels, dass nun „A Heritage Transposed“ zum Nukleus des intendierten Kulturdialogs Deutschland-Iran avanciert ist.

Denn die sehenswerte Schau öffnet den Blick nicht auf Jackson Pollock und Roy Lichtenstein, sondern auf die junge, kritische Szene im Iran, die die Grenzen des Erlaubten millimeterweise ausdehnt. Dass in dem Land keineswegs alle in Angst vor den Mullahs erstarrt sind und nur noch Koranständer schnitzen, zeigt beispielsweise Anahita Razmis Arbeit „How to use a scarf in case of an earthquake“.

Das knapp fünfminütige Schwarz-Weiß-Video von 2004 entstand als Reaktion auf das große Erdbeben im iranischen Bam ein Jahr zuvor. Wie eine Stewardess die Sicherheitshinweise im Flugzeug, performt darin eine junge Frau mit sarkastischem Unterton, wie man einen Schleier verwenden kann: Als Schutz vor herabfallenden Gesteinsbrocken, als Taschentuch oder als Einkaufstasche.

Wie sehr die westliche Perspektive auf den Iran noch immer von Farah Dibas Figur gebannt ist, zeigt etwa Robert Wilsons Videoporträt „Empress“ (2006). Minutenlang bewegt sich deren Hand vor ihrer regungslosen Silhouette von links nach rechts wie bei einer Gliederpuppe.

Vereinzelt hört man Schüsse in dem, von den deutschen Krautrockern Popol Vuh musikalisch unterlegten Werk. Eine minimalistisch-ästhetizistische Hommage an den Schmerz und eine Ikone des Mondänen. Die Ex-Monarchin, die heute in Paris im Exil lebt, wird ihre angekündigte Berlin-Reise nun wieder absagen müssen.

Nur scheinbar arbeiten die in der Ausstellung gezeigten Künstler allein die Widersprüche im eigenen Land auf. „Engelab“ heißt die Arbeit des 1982 in Teheran geborenen, heute in Berlin lebenden Azin Feizabadi. Der Künstler und Filmemacher hat einen Stuhl aus dem ehemaligen Baharestan-Parlamentsgebäude im Süden Teherans nachbilden lassen, dass seit der Konstitutionellen Revolution von 1905 bis 1907 als Sitz des iranischen Parlaments diente und heute ein Museum ist.

Die Einzelteile des Stuhls bilden ein Wort mit brisanter Doppelbedeutung. Engelab heißt im Persischen so viel wie „Revolution“, im Arabischen bezeichnet es dagegen den „Coup d’etat“. Und das ewige Wechselbad politischer Gefühle zwischen Revolution und Staatsstreich hat ja inzwischen auch den Westen erreicht.

Bild ganz oben:

Ingo Arend: Shiva Ahmadi, Lotus, 2014, Videoinstallation, Dimensionen variabel, Courtesy die Künstlerin und Leila Heller Gallery, New York / Dubai

AUSSTELLUNG

A Heritage Transposed. Box-Freiraum.

Boxhagener Str. 93-96, 10245 Berlin

Noch bis zum 25.02.2017

Share

Oriented (Regie: Jake Witzenfeld)

$
0
0

Keiner weiß, wo er hingehört

Mit Jake Witzenfelds bewegendem Dokumentarfilm „Oriented“ setzt die Akademie der Künste ihre Vermessung der „Uncertain States“ fort. 

„Ich war eine Frau, mich interessierte westliche Musik und ich war lesbisch“. Enana Al Asser hat keine große Mühe, zu erklären, warum sie sich in ihrer Heimat Syrien fremd fühlte. Nun lebt die junge Frau, die in Damaskus Englische Literatur studierte, in Berlin. Und ist begeistert.

Sie konnte es nicht glauben, wie viele Gleichgesinnte sie bei ihrem ersten Besuch einer Lesbenbar versammelt sah. Trotzdem bleibe das Gefühl, als Flüchtling nicht wirklich gewollt zu sein, eines Tages vielleicht wieder „nach Hause“ geschickt zu werden. „Jetzt bin ich eine doppelte Außenseiterin“, bilanziert die 21jährige Musikerin ihren seltsamen Zwischenzustand.

Die Aufklärung „neu erfunden“ hat die Diskussion, in der Enana in der Akademie der Künste ihre Situation erklärte, vielleicht nicht unbedingt. Darauf wollte Johannes Odenthal hinaus, Programmdirektor der Akademie, als er das „Embodiment“, die Verleiblichung des kopflastigen Zeitalters anmahnte.

Aber sie hat klar gemacht, dass die „Uncertain States“, die die gleichnamige Ausstellung am Hanseatenweg aufruft, nicht nur kollektive Krisenmomente anvisiert, sondern auch ein grundlegendes Gefühl persönlicher Orientierungsprobleme und Identitätssuche.

Insofern ist „Oriented“, der Titel des letzten Films des britischen Filmemachers Jake Witzenfeld, eigentlich leicht irreführend, der am selben Abend zu sehen war. Denn der Streifen von 2015 beschreibt genau das Gegenteil. Was seine jungen Protagonisten Naeem Jiryes, Khader Abu-Seif und Fadi Daem, verbindet, ist, dass sie schwul und palästinensischstämmig in Israel leben. Das macht sie zu irritierten Wanderern zwischen emotionalen, sexuellen und politischen Welten.

adk_oriented_c_witzenfeld-900
Filmstill: © Jake Witzenfeld

Über weite Strecken ist der Film, der den drei coolen Twentysomethings über einen Zeitraum von 15 Monaten durch Tel Aviv folgt, ein klassischer Dokumentarfilm. Witzenfeld, selbst heterosexueller Jude, fängt wunderbar spielerisch und klischeefrei Momente im Leben dreier junger Menschen ein, die der Welt und sich selbst offen und frei gegenüber zu treten versuchen.

Wenn der ungeoutete Pfleger Naeem („Ich bin Palästinenser, Vegetarier, Atheist und Feminist“) seinen Eltern zu erklären sucht, warum er nicht mehr in ihrem arabischen Dorf wohnen will. Wenn der redselige, stets flirtbereite LGTB-Blogger und Werbefuzzi Khader beim Frühstück mit seinem jüdischen Lebensgefährten David zu erklären versucht, wie sie ihre „Andersheit“ verbindet.

Wenn die drei beim ausgelassenen Konzertbesuch in Ammann das Gefühl haben, „arabisch leben“ zu können. Während in ihrem geliebten Szene- und Freiheitsparadies Tel Aviv eben doch eine Trennlinie zwischen Arabern und Juden verläuft.

Interessant wird Oriented“ deshalb, weil er zeigt, wie sie die mäandernde Suche der drei nach einem Gefühl für Zuhause und den ständigen Slalom zwischen den Identitäten produktiv zu wenden. Sie gründen das Film-Kollektiv „Qambuta“, stellen ihre phantasievollen Low-Budget-Videos auf YouTube und beobachten die Reaktionen.

In einem sitzen sie mit Freunden auf einem roten Sofa, hinter ihnen raucht eine Frau lasziv durch ihren Schleier. In einem anderen treten sie in mondänen Frauenkleidern auf. In solchen Bildern scheint eine neue Generation israelischer Palästinenser auf, sich eine Identität jenseits aller Rollenzuschreibungen zurechtzuschneidern: „Es ist Zeit, dass wir aus unserer Nationalität heraustreten“, sagt Kader.

„Wir sind nicht bloß Rebellen, wir wollen etwas ändern“, doziert er einmal vor der Gruppe. Im realen Leben bleiben sie freilich immer wieder in ihren Widersprüchen stecken. „Es ist eine Scheißwelt. Keiner weiß, wo er hingehört“, versucht Nagham, die robuste Seelenfreundin des Trios, dem politischen Fadi die Zweifel vor dem Dating mit Benjamin zu nehmen – einem israelischen Juden. „Ich habe mich in einen Zionisten verknallt. Ich liebe den Feind“, erklärt der ihr mit Tränen in den Augen.

Es sind diese anrührenden Momente wenn sie sich ihre Fremdheit, Angst und Verwirrung eingestehen, in denen diese sensiblen Helden der „Uncertainty“ eine Vorform der Einheit gegen die neue Normierung von rechts leben, die sich Podiumsgast Rosa von Praunheim an dem Abend wünschte.

Welche Visionen der Filmemacher habe, um den „Uncertain State“ zu überwinden, wollte Programmchef Odenthal wissen. Praunheim hat mit „Survival in Neukölln“ seinen neuen Film beendet, in dem es um die homosexuelle Community von Arabern und Türken in einem Berliner Bezirk geht, der oft genug als Synonym für den Ausnahmezustand durchgeht. „Schreien“ antwortete der Ausnahmefilmer sofort.

Ingo Arend

Bild ganz oben: Poster Oriented (Ausschnitt) Orientedfilm

website orientedfilm.com

Share

Die Leidenschaft der Erkenntnis

$
0
0

Artistic Research ist ein vages Diskurs-Zauberwort. Judith Siegmund versammelt Beiträge zur Frage: „Wie verändert sich Kunst, wenn sie als Wissenschaft verstanden wird?“

Ein Kontinent als Farbenstrudel

Drei Jahre nach dem Militärputsch in Chile 1970 reiste der Künstler Juan Downey von New York zur Südspitze Südamerikas. Er filmte die verschiedenen Kulturen. Am Ende seiner Reise kartierte er den Kontinent aber nicht mit nationalen Grenzen, sondern als buntes Streifenbündel auf einer Landkarte. Ist „Map of America“, sein Werk von 1975, nun Forschung, oder doch eher Kunst?

„Artistic Research“, das Zauberwort, das seit gut zehn Jahren seinen Siegeszug durch Museen, Biennalen und Art-Spaces angetreten hat, passt zu Downeys Arbeit, so wie er wissenschaftliche und sinnliche Methoden mischt. Denn genau auf dieses Amalgam läuft sein Inhalt hinaus.

Ganz neu ist die Debatte darum nicht. Schon 2010 gründeten Wissenschaftler und Künstler aus der ganzen Welt in Bern eine „Society for Artistic Research“, die eine Zeitschrift gleichen Namens herausgibt. Die Legion seither publizierter Aufsätze steht in umgekehrtem Verhältnis zur Vagheit des Begriffs.

Wenig verwunderlich daher, dass ein Symposium der Berliner Universität der Künste (UdK) im vergangenen Jahr kaum über den Minimalkonsens von „Artistic Research“ hinauskam, den die Kunstwissenschaftlerin Kathrin Busch bereits 2011 in einer Themenausgabe der Zeitschrift „Texte zur Kunst“ formulierte: „recherchebasierte und auf Erkenntnis zielende künstlerische Praktiken“.

Die Positionen bewegten sich in dem bekannten Paradox: Einerseits wird Kunst als der Wissenschaft ebenbürtige Reflexion verteidigt. Auch sie entstehe schließlich, so Herausgeberin Judith Siegmund, Juniorprofessorin an der UdK, aus einer „Absicht des Forschens“.

Doch wenn Kunst sowieso eine „Form des „Experimentierens“ und „Versuchsanordnung“ (Reinhold Schmücker) wäre, deren Ergebnisse sich im Werk „verkörpern“, wie Bernadette Collenberg-Plotnikov mit Rückgriff auf einen Begriff des Kunsthistoriker Edgar Wind argumentiert, würde sich Kunst gar nicht, wie der Buchtitel fragt, „verändern, wenn man sie als Forschung versteht“. „Künstlerische Forschung“ wäre dann ein Pleonasmus, die ganze Diskussion im Grunde überflüssig.

Auf der anderen Seite soll „Künstlerische Forschung“ auf keinen Fall ein „analogon scientiae“ sein. Leider diskutieren die Referierenden keine konkreten Alternativen zu dem artistischen Szientismus, der sich durch viele, heute so beliebte Gentrifizierungskartierungen und postkoloniale Recherchen zieht. Die „Spurkunst“, die der Kulturhistoriker Lutz Hengst in Christian Boltanskis Erinnerungsarbeiten sehen will, ist kein wirklich überzeugendes Beispiel dafür.

Dieses Dilemma auflösen will Kathrin Busch. Dass Kunst in die Philosophie einwandert (wie bei Francois Lyotard) und Theorien in die Kunst (wie bei Andrea Fraser) ist für die UdK-Professorin ein Indiz für die „generelle Bedeutungszunahme von Wissen innerhalb der Gesellschaft“. Sie sieht den Begriff „Forschung“ aber kritisch, weil er Gefahr laufe, Kunst wissenschaftlich einzuhegen.

Wenn sie die „Konzepte eines anderen Wissens“ beschwört, die ihre Kraft aus dem Unbewussten, Dunklen und Wilden des Denkens bezögen, will sie eine bestimmte Form von Hegemonie überwinden: „Kunst“, argumentiert sie, „ist nicht das andere des Denkens, dessen ästhetischer Überschuss die Offenheit von Kunst bedingt, sondern in ihr artikuliert sich ein anderes Denken, das über die Beschränkungen eines rationalistischen Wissensbegriffs hinausgeht“.

Als ideales Medium des „ästhetisches Denken, das nicht von der Kunst theoretisch, sondern von konkreten Phänomenen künstlerisch handelt“ macht Busch den Essay aus. Folgt man ihr, müssten die Kulturverwaltungen und Universitäten nicht hektisch Projektförderungen für „Künstlerische Forschung“ aus dem Boden stampfen, wollten sie einer „Kunstform der Theorie“ zum Vorschein verhelfen, „die quer zu den Gattungen und Medien verläuft und die Unterscheidung zwischen Kunst und Theorie verschwimmen lässt“. Sie müssten dann auch Essays fördern.

Damit wäre „Künstlerische Forschung“ aber bei einer Form, die genau die „rationalistische Transparenz“ und die „Hierarchisierung zwischen Kunst und Wissenschaft“ festschreibt, die es aufzulösen gilt. So bilanziert die Konzeptkünstlerin Cornelia Sollfranck ihre Erfahrungen mit der Förderung in Schottland – einem der wenigen Länder, das solche Ansätze zulässt.

Es sei denn, man schriebe wie Friedrich Nietzsche. In seiner „Fröhlichen Wissenschaft“, einer Art Vorläuferin von Buschs Vision, legte der die Grundlage für den heute etwas verkniffen daherkommenden Hype. Es gehe, schrieb er schon am Ende des 19. Jahrhunderts, um die „Leidenschaft der Erkenntnis“.

Ingo Arend

taz, die tageszeitung, 09.01.2017

x9783837632163_216x1000-1-jpg-pagespeed-ic-tkgeyisemp
Cover transcript

Judith Siegmund (Hg.):

Wie verändert sich Kunst, wenn man sie als Forschung versteht?

217 Seiten, transcript

Bielefeld 2016

29,99 Euro

Share

Byung-Chul Han: Die Austreibung des Anderen. Gesellschaft, Wahrnehmung und Kommunikation heute.

$
0
0

Düsterer Kulturpessimismus und Verzicht auf Empirie. In seinem neuen Buch beklagt der Berliner Philosoph Byung-Chul Han „die Austreibung des Anderen“ und Gleichheitswahn.

Angst und Entsetzen? Was werden sich die beiden Polizistinnen im belgischen Charleroi Anfang August vergangenen Jahres wohl gedacht haben, als ein junger Algerier in ihrer Polizeiwache plötzlich eine Machete aus dem Rucksack zog und auf sie einstach? Verspürten sie Furcht? Oder freuten sie sich, dass ihnen endlich ein Antipode gegenübertrat?

Das Beispiel ist natürlich manipulativ gewählt. Es zeigt aber, auf welch schiefe Ebene Byung-Chul Han gerät, wenn er „Die Austreibung des Anderen“ aus unserer Gesellschaft beklagt. Denn den Tatbestand der „Negativität des Risses und des Schmerzes“, den er in unserer Gesellschaft vermisst, erfüllt der Algerier mit seiner schrecklichen Tat ja durchaus.

Neben Slavoi Žižek oder Markus Gabriel ist der 1959 geborene Han einer der Philosophen der Stunde. Setzen die beiden auf philosophische Globalentwürfe, gefällt sich der gelernte Metallurg, der später auf Philosophie umsattelte und nach Stationen in Basel und Karlsruhe seit 2012 an der Berliner Universität der Künste lehrt, auf kulturkritische Miniaturen.

Sein Stern ging auf, als er vor sechs Jahren in einem schmalen Bändchen die „Müdigkeitsgesellschaft“ diagnostizierte. Nach der Kritik der „Transparenzgesellschaft“ (2012) und der „Psychopolitik des Neoliberalismus“ (2015) plädierte er vergangenes Jahr für die „Errettung des Schönen“.

In seinem neuen Buch will er auf eine besonders perfide Form der kulturellen Nivellierung hinaus. Für Han gleicht unsere zeitgenössische Gesellschaft nämlich der „Hölle der Positivität“. Der ist der „Bezug zum Konflikt“ verloren gegangen. Statt Widerspruch und Auseinandersetzung herrsche in ihr nur noch die „Positivität des Gleichen“.

Kennzeichnend für Hans „Beweisführung“ ist das Fehlen jeder Empirie. Stattdessen gefällt er sich in einer Rhetorik des Elementaren: „Die lärmende Müdigkeitsgesellschaft ist taub“ stellt er einmal lapidar fest. Oder: „Die Austreibung des Anderen bringt eine adipöse Leere der Fülle hervor“. Je länger man liest, desto mehr entpuppt sich diese Sozialphilosophie als prätentiöse Ontologie. Aber für Han ist Erkenntnis ja auch „Erlösung“.

Gegenbeispiele für die eigenen Thesen zieht der Philosoph grundsätzlich nicht heran. Komaglotzen, Like-Button, Social Media – alles ist für ihn die gleiche „Hölle des Gleichen“, die „Verletzung und Erschütterung“ ablehnt. Von Streiks, Terminen im Jobcenter oder Beziehungskrächen scheint der Philosoph noch nichts gehört zu haben.

Kein Wunder, dass diese Gesellschaftsanalyse in düsterem Kulturpessimismus endet: „Der Terror des Gleichen“, lässt er die Lesenden bereits auf Seite neun wissen, „erfasst heute alle Lebensbereiche“.

Nicht, dass Hans Diagnose von der „entpersonalisierten Kommunikation“ ganz falsch wäre. „Der Mörder ist der letzte Mensch, der noch Kontakt sucht, während der Rest der Menschheit an Rolltreppen aneinander vorbeifährt“ kommentierte Heiner Müller schon 1991 sarkastisch die „Entwirklichung der Wirklichkeit“ im technologischen Zeitalter. Doch man muss seiner Argumentation schon sehr unsicher sein, wenn man sie mit einer kafkaesken Horrorvision glaubt belegen zu müssen, von der auch ein Nichtphilosoph erkennen kann, dass sie mit der Wirklichkeit wenig zu tun hat.

Han „Erfolgsrezept“ ist eine seltsame Mixtur aus Antikapitalismus und Idealismus. Den Neoliberalismus, der diese „neue Entfremdung“ verursacht, will er mit kulturellen Tugenden überwinden: Der „Kunst des Zuhörens“, der „Zeit des Anderen“, mit „Geduld und Ausgesetztheit“.

Doch wenn Han auf eine Philosophie der Intersubjektivität, eine somatische Ethik oder eine neue Form sozialer Gegenseitigkeit hinaus will, warum mystifiziert er dann das „Andere“ zu einem diffusen Zwitter?

Ein ums andere Mal beschwört Han den Anderen als „Rätsel“ und ganz großes „Geheimnis“. Mal ist er das „Unheimliche“ schlechthin, mal „personales Gegenüber“. Mal realisiert er sich in „Blick und Stimme“, mal ist er „Resonanzraum“. Mit seiner Dialektik von „Du und Ich“ war der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber da schon mal weiter.

Vor allem: Würde ein „Gegenkörper der Negativität“ wirklich empfänglich machen „für die Wahrheit, für das Ereignis“, kurz: für reale Realität und dialektisches Sein? Als der französische Philosoph Jacques Derrida, so erzählte es einmal Slavoj Žižek, morgens ins Bad geht und im Blick der Katze, die seinen nackten Körper betrachtet, den Anderen „in seiner ganzen abgrundhaften Undurchdringlichkeit“ zu erkennen meint, jagt er das Tier hinaus und geht duschen.

Ingo Arend

taz vom 13.1.2017

Bild ganz oben: Disputierende Mönche (Ausschnitt) etwa 1858 / 1860 |  von Carl Spitzweg

64px-PD-icon.svgEs wurde festgestellt, dass diese Datei frei von bekannten Beschränkungen durch das Urheberrecht ist, alle verbundenen und verwandten Rechte eingeschlossen.

han_350
Cover S. Fischer

Byung-Chul Han:

Die Austreibung des Anderen. Gesellschaft, Wahrnehmung und Kommunikation heute.

S. Fischer, Frankfurt am Main 2016

110 Seiten

20,00 Euro

Share

Kunstmesse Brafa: Wir sehen die anderen

$
0
0

Der Eklektizismus der Kunstmesse Brafa in Brüssel ist beeindruckend. Kunstwerke aus aller Welt und beinahe jeder Zeit sind dort vertreten.

Schmerz, Freude, Entsetzen? Was könnte das schmale Gesicht auf einem Holzstiel ausdrücken? Das aufgerissene Augenpaar ist mit roter Farbe untermalt, über der strengen Frisur liegt ein Blauschleier. Was wissen wir schon über die Rituale des Volkes der Umbu in Gabun, dem die gut 30 Zentimeter hohe Skulptur entstammt? Und je länger der Betrachter sie betrachtet, desto mehr fragt er sich: Wer schaut hier eigentlich wen an?

Zu erwerben war die kleine Statue vergangene Woche am Stand der Galerie Bernard Dulon auf der Brüsseler Brafa, einer kleinen, aber feinen Kunst- und Antiquitätenmesse, die jedes Jahr Ende Januar den weltweiten Kunstmarkt-Zirkus einläutet. Die 30.000 Euro Kaufpreis sind ein Indiz für den sozialen Radius des noblen Events. Der irritierte Blick signalisiert ein kulturelles Gefälle.

Ein Ausflug in diese, nur scheinbar verstaubten Jagdgründe einer geschmacksbewussten Bourgeoisie lohnt, weil man nirgends besser noch einmal so in einem klassischen Schönheitsbegriff baden kann, wie in den gut 130 hochkarätig bestückten Kojen auf dem alten Postgelände derer zu Thurn &Taxis in Brüssels Norden: Der marmorne Torso des Herakles aus dem ersten christlichen Jahrhundert der Pariser Galerie Chenel wäre so ein Beispiel.

Die Messe huldigt einem herrlichen Eklektizismus. Wie hier mondänes Glas-Design aus dem 20. neben ägyptischen Totenmasken aus dem 11. Jahrhundert v.u.Z. oder dem rot schimmernden Kitsch-„Carnaval des Mords“ eines Jan Fabre steht, nähert sich das Materiallager für ein Publikum, das sich gern historisch rückversichert, dem Pop an. Und nirgendwo findet man so skurrile Kleinodien wie den korallenbesetzten Aschenbecher aus dem Sizilien des 18. Jahrhundert neben Gabriella Crespis Ying-Yang-Schreibtisch von 1979 und einem Modell des Porsche 356 A aus dem Jahr 1956.

Das Markenzeichen der Brafa ist der hohe Anteil außereuropäischer Kunst. Das macht diese Wunderkammer entlegener Kostbarkeiten zu einem Vorschein des alten Traums vom Universalmuseum, das Berlin gerade unter dem Namen Humboldt-Forum wieder errichten will. Sie macht sie aber auch zu einem Display dessen, wie sich der europäische Blick die Kulturen der Welt genießend einverleibt: Wir sehen die anderen, sie sind die Objekte unseres Blicks.

Denn die Wagenladungen ozeanischer Totems, indischer Jade-Buddhas und afrikanischer Masken, die hier im schützenden Dämmerlicht bei vegetarischer Fingerfood präsentiert werden, sollen das bourgeoise Milieu ausstaffieren, nicht umgekehrt. Nicht jede Galerie schafft es wie Axel Vervoordt aus Antwerpen die Reste einer ägyptischen Monumentalstatue aus dem 14. Jahrhundert v.u.Z. mit Arbeiten von Vasarely oder Girke so zu kombinieren, dass eine Ahnung von Differenz und Austausch aufsteigt.

Natürlich verstehen sich Messen nicht als Labor des interkulturellen Dialogs, den derzeit alle händeringend suchen. Doch wenn die „kleine Tefaf“ überlegt, wie sie aus dem Windschatten der großen Schwester, der weltgrößten Kunst- und Antiquitätenmesse im niederländischen Maastricht Anfang März heraustreten könnte, sollte sie über solch einen Regimewechsel nachdenken: den dieser hegemonialen Perspektive.

Anders gesagt: Erst wenn auf der Brafa eine Galerie aus Papua Neu-Guinea Jesus-Statuen und Schweißtücher für ein anderes als bloß belgisches Publikum verkauft; erst wenn wir das Gefühl hätten, dass nicht wir die venetianischen „Mohren“ aus dem 19. Jahrhundert anschauen, die die Brüsseler Galerie Desmet für 120.000 Euro anbot, sondern sie uns, rückte die berüchtigte Formel von dem Gespräch „auf Augenhöhe“ näher.

brafa_1
Zwei Marmorbüsten aus Venedig, gesehen auf der Brüsseler Brafa. Foto: Ingo Arend

Ingo Arend

Bild ganz oben: Bild 1: Afrikanische Ritualmaske aus Gabun, gesehen auf der Brüsseler Brafa. Foto: Ingo Arend

MEHR INFORMATIONEN

Share

Gertrud Koch: Die Wiederkehr der Illusion – Der Film und die Kunst der Gegenwart

$
0
0

Die Unausweichlichkeit der Illusion

In ihrem neuen Buch „Die Wiederkehr der Illusion“ bricht die Berliner Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch eine Lanze für das „illusionsästhetische Potenzial“ des Films

„Illusionen, Illusionen, sind das Schönste auf der Welt. Illusionen, Illusionen, sie sind das, was uns am Leben hält“. Hildegard Knefs populärer Chanson von 1954 steht für das populäre Verständnis von Illusionen: Rührende (Selbst-) Täuschungen, die das Leben erleichtern helfen. Die Wissenschaft nennt dieses süße Gift nüchtern die „falsche Wahrnehmung von Wirklichkeit“.

Nicht, dass Gertrud Koch diese zwiespältige Substanz wiederbeleben möchte. Doch in ihrem jüngsten Buch versucht die Professorin für Filmwissenschaften an der FU Berlin, eine Lanze für eine ästhetische Kategorie zu brechen, die die Künste fast aufgegeben haben.

Für die Feministin, Jahrgang 1949, die sich vor ihrer akademischen Laufbahn bereits einen Namen als Filmkritikerin gemacht hatte, ist Illusion kein negativer Begriff. Sie sieht ihn gerade nicht als Modus der Täuschung, sondern als „Bewusstseinszustand ästhetischer Erfahrung“.

In ihrem materialstrotzenden Band, Ergebnis des Forschungsprojektes „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“, zieht Gertrud Koch alle Register der Kulturwissenschaften. Sie referiert die Theorie von Aristoteles bis Derrida, unterscheidet die Illusion von Hypnose, Trance oder Halluzination und arbeitet heraus, wie sie auf dem „Glauben“ fußt.

Als ideales Medium des „illusionsästhetischen Potenzials“ identifiziert sie den Film. Er verzerre die Sicht auf die Welt aber nicht einfach gegenüber der Wirklichkeit. Vielmehr baue er sie imaginär um. So ermögliche er dem Zuschauer den „affektiven Nachvollzug fiktiver Welten“.

Die „Wiederkehr der Illusion“, die der Titel des Bandes behauptet, sieht Gertrud Koch darin, dass der Film „illusionsästhetische Verfahren wieder zurückträgt in die älteren Künste“. Als Belege zieht sie die Bildende Kunst, vor allem aber das Theater heran.

Gregor Schneiders Biennale-Installation „Haus Ur“ in Venedig 2001 erzeuge für den Betrachter, der durch dessen Gänge kriecht, „einen Horrorfilm, den es nicht gibt“. In René Polleschs Theaterstücken oder den Bühnenshows der australischen Rockband „1927“ verzahnen sich „Illusions- und theatrale Präsenzeffekte“, die Raum und Zeit dynamischer erfahren lassen.

„Diese surreale Belebung der Maschine, die künstlich Leben erzeugt, ist vielleicht der Momente des Films, das ihm die Kraft verleiht, die Illusion einer Unsterblichkeit zu erzeugen, in der die Maschine nicht zum feindlichen Antagonisten mutiert, sondern zauberhafte Transformationen in einer Symbiose aus Technik, Fiktion und Zuschauer hervorruft.“

Kochs Resümee zum Film als Königsdisziplin der Illusion ist gewiss nicht neu. In Zeiten des „Neuen Realismus“ ist er dennoch ein überfälliges Plädoyer für die „Unausweichlichkeit der Illusion in der Kunst“. Beispielsreich belegt Gertrud Koch deren – der Politik verloren gegangene – Fähigkeit zur „Welterzeugung“; die Kraft „den ganzen Apparat der Vorstellungskraft in Ganz zu setzen“. So gesehen sind Illusionen das Wichtigste auf der Welt.

Ingo Arend

Deutschlandradio Kultur / Lesart, Sendung vom 19.01.2017

koch_350
Cover © Suhrkamp

Gertrud Koch:

Die Wiederkehr der Illusion – Der Film und die Kunst der Gegenwart

Suhrkamp, Berlin November 2016

297 Seiten, 18,- Euro

Share

Mit der Ausstellung „In the carpet. Über den Teppich“ erinnert die ifa-Galerie an einen unterschätzten Dialog über die Moderne.

$
0
0

Der Geist von Casablanca

Ein rotes und ein gelbes Rechteck auf schwarzem Grund, flankiert von zwei weißen Quadraten, das Ganze durchkreuzt von weißen und blauen Diagonalen. Auf den ersten Blick hält man die titellose Arbeit an der Wand für ein klassisches Bauhaus-Bild, so wie sie mit Horizontale und Vertikale spielt. Wer näher herantritt, bemerkt: Es handelt es sich um einen Teppich.

Das Werk stammt von Yto Barrada. Dazu inspirieren lassen hat sich die französisch-marokkanische Künstlerin, Jahrgang 1971, von der Bauhaus-Künstlerin Sophie Taeuber-Arp, Jahrgang 1889. Entstanden ist das Stück vor zwei Jahren in der Zusammenarbeit mit dem Weberei-Atelier des Frauen- und Jugendzentrums Darna in Tanger.

Barrada, 2011 „Artist of the Year“ der Deutschen Bank Kunstsammlung, nimmt damit ein weiteres Vorbild auf: Das der amerikanischen Künstlerin Sheila Hicks. Die 1943 in Nebraska geborene Pionierin der Textilkunst, Schülerin des Bauhäuslers Josef Albers, folgte Anfang der 70er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts einer Einladung der Regierung nach Marokko.

Sheila Hicks  Gebetsteppich, 1972, Wolle, 250 x 125 cm  © mit Genehmigung der Künstlerin und Demisch Danant
Sheila Hicks | Gebetsteppich, 1972, Wolle, 250 x 125 cm | © mit Genehmigung der Künstlerin und Demisch Danant

Um die Traditionen des Landes revitalisieren zu helfen, arbeitete Hicks in dem nordafrikanischen Land mit Weberinnen zusammen. Auf sie geht die „School of Casablanca“ zurück, die sich ab 1973 an der dortigen Kunsthochschule formierte – eine künstlerische und intellektuelle Aufbruchsbewegung.

Hicks hatte begonnen, sich während ihres Studiums in Yale für Textilkunst zu interessieren. Wie kongenial sie ihr Ziel erreichte, dieser, lange als dekoratives Handwerk abgetanen, Technik mehr Anerkennung zu verschaffen, lässt sich an einer Arbeit aus dem Jahr 1972 in Marokko erkennen. Die bunt abgebundenen Wollbündel, die aus dem ockerfarbenen „Gebetsteppich“ herausragen, entgrenzen dessen Oberfläche, geben ihm Bewegung und Volumen.

Das späte Echo ihrer Kunst kann man dann in einem Werk wie „Feuer im Ozean“ sehen. Mit einem Teppich im klassischen Sinne hat die Arbeit des marokkanischen Künstlers Mostafa Maftah von 1979 nicht mehr viel zu tun. Das wilde rote Wollknäuel, das da aus einem rhythmisch bewegten, blauen Linienbündel emporsteigt, erinnert mehr an das Bild eines Lavastroms, der zum Ausbruch drängt.

Kein Wunder, studierte Maftah doch zu der Zeit an der Kunstakademie in Casablanca: „1979 durchlebten wir eine hitzige Zeit, das heißt, sie war revolutionär, explosiv. Wir wollten Rahmen sprengen, eine Freiheit des Denkens erlangen und zu einem gewissen kindheitsnahen Naturzustand zurückkommen“ erinnert sich der Absolvent an eine Zeit, die kulturgeschichtliche Weichen stellte.

Politische und ästhetische Befreiung gingen damals Hand in Hand: Ein „Objekt von Farbe“ nennt Maftah seinen „Teppich“ deshalb konsequent. Und hat ihn an die Wand gehängt.

Der interessanten Ausstellung geht es nicht um eine systematische Kulturgeschichte des Teppichs. Auch wenn sie Arbeiten weiterer Bauhaus-Künstler präsentiert. Die Entwürfe abstrakter Teppiche von Gunta Stözl oder Anni Albers etwa vom Beginn der Zwanziger Jahre.

An klug ausgewählten Einzelbeispielen erinnert die Kuratorinnen Salma Lahlou, Mouna Mekour und Alya Sebti vielmehr an den – aus dem Osten stammenden – Teppich als Medium der europäischen Kunst. Eine Faszination, die in Europa spätestens mit Hugo von Tschudis Ausstellung „Meisterwerke Muhammdeanischer Kunst“ 1910 in München begann.

Vor allem arbeiten sie die Ähnlichkeiten zwischen der modernistischen Formensprache und den indigenen Traditionen heraus. Es frappiert schon, wie die „verrückten Teppiche“ der Azilai oder der Beni Quarain, zweier Bauernstämme aus dem Atlasgebirge: halbabstrakte Zufallsmuster oder unendlich sich wiederholende, schwarze Rautenmuster auf weißem Grund, einerseits abstrakten Bauhaus-Mustern ähneln.

Von hier führt aber auch ein Weg zu den Teppichen des französischen Künstlers Saâdane Afif. Während der Marrakesch-Biennale gab der Berliner Künstler auf dem Marktplatz eine öffentliche Geometriestunde. Die dabei entstandenen Zeichnungen übertrug er, zusammen mit lokalen Webern, auf einen von Berberteppichen inspiriertes Stück – noch ein Echo auf die Öffnungspolitik der „Schule von Casablanca“ vierzig Jahre früher.

Mosta Maftah: Feu en Océan, 1979; wool, silk threads, cotton, 85 x 160 cm © courtesy of the artist and Thinkart
Mosta Maftah: Feu en Océan, 1979; wool, silk threads, cotton, 85 x 160 cm © courtesy of the artist and Thinkart

Mit solchen Zwiesprachen entsteht das faszinierende Bild eines ästhetischen Dialogs. Scheinbare Essentials der West-Moderne: Gegenstandslosigkeit, die Entgrenzung des Bildraumes, das Streben ins Dreidimensionale verdanken sich auch der Auseinandersetzung westlicher Künstler mit dem „Handwerk“ des Vorderen Orients.

So gesehen wird der Teppich zur Metapher – der einer untrennbaren Verflechtung der Codes, Techniken und Akteure. Wer jetzt einen Kulturkampf zwischen Muslimen und Abendland herbeireden will, zieht sich gleichsam selbst den Teppich unter den Füßen weg.

Ingo Arend

taz vom 11.2.2017

AUSSTELLUNG

In the carpet. Über den Teppich

ifa-Galerie Berlin, Linienstr. 139/140

Noch bis zum 12. März 2017

Katalog, 15 Euro

Bild ganz oben: Yto Barrada: untitled (realised in cooperation with the Darnas weaving workshop for women), 2014; hand-woven wool, 172 x 195 cm; © courtesy of the artist and the Sfeir-Semler Gallery Hamburg / Beirut

Share

Die Kolonisierung der Welt

$
0
0

Mit „colony“ zeigt das Berliner Schwule Museum eine anspruchsvolle Schau aus der Türkei, der es um die Dekonstruktion von Normativität geht.

Leichenteile? Neugeborene? Fleischreste? Schwer zu sagen, was die rosa Masse darstellen soll, über die man auf dem scheußlichen Terrazzo-Boden des Schwulen Museums fast stolpert: seltsam formlose Klumpen, überspannt mit rosa Latex, aus denen Fell sprießt – morbide und lustvoll zugleich.

Man sollte sich von der Signalfarbe in Iris Ergüls Arbeit „Vertebrae“ nicht täuschen lassen. Die skulpturale Installation ruft keineswegs nur ein klassisches LGTB-Motiv auf. Das amorph Zerfließende des Werks der Istanbuler Künstlerin ließe sich auch als Metapher für den generellen Versuch interpretieren, Dichotomien zu hinterfragen: Die Grenzen zwischen Natur und Kultur, zwischen organisch und synthetisch. Mit festen Begriffen ist das nicht recht zu fassen.

Mit „colony“, seiner jüngsten Schau, ist dem Schwulen Museum ein beachtenswerter Doppelschlag geglückt. Zum einen ist die Ausstellung ein Akt der Solidarität. Denn sie gibt einer Schau eine zusätzliche Öffentlichkeit, die es in der Türkei schwer hatte.

Eigentlich sollte das Projekt der Kuratorinnen Derya Bayraktaroğlu and Aylime Aslı Demir in den Räumen des LSBTIQ*-Vereins Kaos GL in Ankara gezeigt werden.

Nachdem die Regierung im November vergangenen Jahres dort alle Aktivitäten von LGTB-Gruppen untersagt hatte, wichen die Kuratorinnen nach Istanbul aus. Und zeigten die Schau im Dezember in einem unverdächtigen historischen Gebäude im Touristen-Bezirk Sultanahmet.

Die Schau jetzt nach Berlin zu holen, soll natürlich ein Schlaglicht auf die bedrohte Freiheit, nicht nur der Kunst, in der Türkei werfen. Wieder einmal zeigt sich, dass kleine, kritische, gut vernetzte Institutionen schneller auf solche Konfliktlagen reagieren können, als die großen Kunsttanker.

Das Interessante an ihr ist, dass sie die Dekonstruktion von Normativität, die inzwischen zu einem, schon etwas sterilen Gemeinplatz des zeitgenössischen Kunstdiskurses geworden ist, durchaus (selbst-)ironisch vornimmt.

Die gewundenen Figuren, die die türkische Künstlerin Nilbar Güreş auf ihren Collagen „Lifting my Hair, Balance, Weak Power“ um Trainingsgeräte gruppiert hat, karikieren das Fitness-Ideal – auch der LGTB-Szene- mit betont fragiler Körperlichkeit.

Die Schau greift vor allem über das Geschlechtliche hinaus, das den Subtext queerer Ästhetik gemeinhin grundiert. Wenn die amerikanische Künstlerin Jibz Cameron alias Dynasty Handbag in ihrem Video „Oh. Hummingbird“ als Dragqueen nackt auf einem Baumstumpf sitzt und seltsame Laute von sich gibt, scheint das noch am ehesten an die schrille Ironie zu erinnern, mit der diese die starre Geschlechterordnung auf die Schippe nimmt.

Bild 3-900
Dynasty Handbag: Oh, Hummingbird, 2017, Video. Foto: Coşkun Aşar/Schwules Museum

Wer genau hinhört, bemerkt, dass es bei dem (türkischen) Text, den sie in der rasanten Collage spricht, um die Schönheit der Natur und ihre drohende Zerstörung geht. Ähnlich Katja Novitskovas Tierbilder aus dem Netz „Approximation (Octopus)“.

So wie sie diese zu reliefartigen Skulpturen abstrahiert, will sie damit aufzeigen, wie die Medien Welt, Kultur und Natur neu definieren, wie ihre Repräsentationen ihren eigentlichen Platz einnehmen.

Noch einen Schritt weiter geht Kerem Ozan Bayraktar. In seinem Video „Mimicry“ verfolgt der Istanbuler Künstler den Zusammenhang zwischen Natur und Kultur. Die eineinhalbminütige Arbeit zeigt die Produktion von Orchideen-Pflanzen in einer Blumenfabrik.

Die Maschine steuert zunehmend Aussehen und Erscheinung der Pflanze, übernimmt die Rolle des Reproduktionsmediums Natur. Spätestens hier wird klar, dass es der Schau um die Kritik an deren Zurichtung geht, daran, wie das Lebendige in den industriellen Kreislauf inkorporiert wird – die Kolonisierung der (Lebens-)welten.

Eine klar umrissene, „queere Utopie“, wie sie die Ausstellung postuliert, sieht man in der anspruchsvollen, formal avancierten Schau eher nicht. Wenn man von der allgemeinen Absage an binäre Codes einmal absieht. Doch in der Geschichte wird man fündig.

In ihrer Arbeit „Tö“ hat die Istanbuler Künstlerin İz Öztat die historische Figur einer osmanischen Frau namens Zişan erfunden, die von 1894 bis 1970 gelebt haben soll. In dem „Utopie Folder“, einer Sammlung von Texten und Fotografien, lässt sich deren Desillusionierung nach dem 1. Weltkrieg nachvollziehen, ebenso ihr Wirken in den revolutionären Bewegungen damals.

Enthalten ist in dem Konvolut auch die „Çete-i Nisvan – Declaration of Women’s Gang“, ein tatsächliches, übersehenes Pamphlet von 1925, zwei Jahre nach Gründung der türkischen Republik. Das anarcho-feministische Manifest erschien in der, von der türkischen Frauenrechtlerin Nezihe Muhiddin mitbegründeten Zeitschrift „Womans Path“.

“Why be their slaves when you could be one of us? Don’t sign up!” steht über einem Foto einer Gruppe von Frauen, die sich gegen Krieg und Armee wenden. Ihre Absage an Nationalismus, Militarismus und konservative Moral ist fast hundert Jahre alt. In Zeiten, in denen der türkische Staatspräsident ein weinendes Mädchen zur Märtyrerin eines heiligen Krieges erklärt, könnte sie kaum aktueller sein.

Ingo Arend

AUSSTELLUNG

colony. Schwules Museum

Berlin | Lützowstraße 73

bis zum 15. April 2018

http://kaosgl.org/

Bild 1-900
Videoinstallation Raskol’s Axe (2013) des Künstler_innenkollektivs İyi Saatte Olsunlar aus Istanbul.____

Bild ganz oben: İris Ergül | Vertebrae, 2017. Mixed Media. Foto: Coşkun Aşar/Schwules Museum

Share

Ein unendliches Gespräch

$
0
0


In seinem Projekt „Mutterzunge“ hat der Kurator Misal Adnan Yıldız erstmals die vielen Fäden der türkischen Kunst-Community in Berlin zusammengeführt.

„Irgendwann habe ich gemerkt, dass meine Fehler meine Identität sind. Und dass daraus eine neue Sprache entstanden ist.“ Emine Sevgi Özdamars Satz stammt aus dem Jahr 1991. Dem Fernsehen versuchte die deutsch-türkische Schriftstellerin damals, ihr Verhältnis zur Literatur zu erklären. Wenig später gewann sie als erste Nicht-Muttersprachlerin den Ingeborg-Bachmann-Literaturwettbewerb im österreichischen Klagenfurt.

Ein Kunst-Projekt nach Özdamars erstem, 1990 erschienenen Roman „Mutterzunge“ zu nennen, ist keine so abwegige Idee. Das Verständigungsproblem migrantischer Kultur, das der Titel ausdrückt, hat bis heute etwas Paradigmatisches. Und es schlägt den Bogen von damals zu heute. War Özdamar, als sie 1976 nach Deutschland kam, noch eine der wenigen migrantischen Künstler*innen, leben heute Tausende von ihnen in Deutschland.

Genau um diese Probleme von Orientierung und Übersetzung kreist das Projekt, das der Istanbul-Berliner Kurator Misal Adnan Yıldız zusammengestellt hat. 1966 in Istanbul geboren, begann der studierte Psychologe und Kunst- und Kommunikationsdesigner als Kurator. Von 2011-2014 leitete er das Künstlerhaus Stuttgart, von 2014-2017 den Artspace NZ im neuseeländischen Auckland.

Kuratieren ist für Yıldız kein Modewort. „Es geht nicht darum, Künstler auszusuchen, sich einen poetischen Titel auszudenken und das Ganze dann Show zu nennen. Beim Ausstellungsmachen bin ich daran interessiert, kritisches Denken und soziale Verbindungen zu entwickeln“, erklärt der 41-jährige seinen Ansatz. Für sein Konzept war er 2014 mit einem der drei „Curate Awards“ ausgezeichnet worden.

Entsprechend hat er „Mutterzunge“ als lange, multidisziplinäre Serie unterschiedlichster Formate angelegt: Schon vergangenen Winter leitete er einen Workshop in Wedding, wo die kurdischen Künstler Cengiz Tekin und Erkan Özgen ihre Videoarbeiten mit Interessierten diskutierten.

Anfang Dezember vergangenen Jahres hatten die Künstler Savaş Boyraz und Rojda Tuğrul Gäste, darunter auch Emine Özdamar, ins Café Warschau auf der Berliner Sonnenallee zu einem Marathon-Workshop, einer eintägigen Ausstellung und einem Performance-Event eingeladen. Bei all diesen Gesprächen ging es um Begriffe wie Autonomie, Anonymität und Authentizität.

Großer Höhepunkt war der „Mutterzunge“-Abend vergangenen Samstag im Kino Babylon. Als die heute 71-jährige Özdamar zur Eröffnung aus ihrem Erstling von 1991 las, hatte das etwas vom Genius Loci. Hatte sie doch 1976 einen Steinwurf entfernt als junge Regieassistentin gearbeitet: an der Berliner Volksbühne, damals noch in der DDR gelegen, geleitet vom legendären Benno Besson.

Mutterzunge-Bild C
Kommunismus heißt gemeinsam. Performance „Co, 1. Akt 2018“ zur Eröffnung des großen „Mutterzunge“-Abends vor dem Kino Babylon. Foto: Ingo Arend

Dass es sich nicht nur um ein normales Art-Event handelte, demonstrierte die „performative Intervention“ zum Auftakt des Abends. Vor dem Kino entrollten zwei Darsteller ein Transparent, auf dem das japanische Schriftzeichen für „Kommunismus“ und „zusammen“ zu sehen war.

Dass es der Veranstaltungsreihe um den Zusammenhang von Wort und Bild ging, hatte tags zuvor die Ausstellungseröffnung „Seeing and Hearing“ im Kunstraum Apartment Project in Neukölln gezeigt. Cengiz Tekins neues Video „Silence“ etwa thematisiert die Normalisierung von Gewalterfahrungen heute.

In Schriftform flimmern über den Bildschirm die Beschreibungen von Waffensystemen wie dem Leopard, der Uzi oder der Cluster-Bombe, gefolgt von ihrem charakteristischen Geräusch. In Kurdistan können die Menschen die todbringenden Waffen an ihrem Ton unterscheiden.

Und die Istanbuler Künstlerin Ceren Oykut erwies Özdamar auf ihre Weise Referenz. Sie hat die Tagebucheintragungen aus der Zeit, als sie in Berlin Deutschkurse nahm, zu Wandzeichnungen verarbeitet.

„Zirkulierende Gespräche, Recherche, Feldforschung, methodisches Denken“, so beschreibt Yıldız „Mutterzunge“: Kein singuläres Event sondern ein unendliches Gespräch über künstlerische Arbeitsweisen und Produktionsbedingungen in Krisen-Zeiten.

Damit ist ihm erstmals gelungen, die – nicht zuletzt wegen der politischen Entwicklung in der Türkei – vielen versprengten Fäden von Künstler*innen zwischen beiden Ländern in einem gemeinsamen Auftritt zu bündeln.

„Mutterzunge“ mag ihre Arbeit weiter untersuchen. Dass sie die Kunstszene in Deutschland mit einer ganz eigenen Sprache bereichert haben, steht schon jetzt fest.

Ingo Arend

Ausstellung „Seeing and Hearing“

im Apartment Project, Berlin, Hertzbergstraße 13

noch bis zum 05. 05. 2018

Von April bis Oktober weitere Soloprojekte im Babylon.

14.04.2018, 19 Uhr „Ode To“. Performance von Jeremiah Day & Discoteca Flaming Star, Park am Nordbahnhof

Regelmäßige Updates auf: www.mutterzunge.org

Bild ganz oben: Auftritt des Canı Gönülden Şarkılar Korosu, dem Chor des Huzur-Nachbarschaftstreffs in Berlin beim großen „Mutterzunge“-Abend im Kino Babylon. Im Hintergrund: Ein Filmstill der Autorin Emine Sevgi Özdamar. Foto: Mutterzunge/Walch

Share

Lasst tausend Drachen steigen

$
0
0

Die Kunstbiennale in Pakistans Kulturstadt Lahore ist ein Zeichen für die Explosion kultureller Bedürfnisse in einem traumatisierten Land.

Allahu Akbar! Die Szene hatte etwas Symbolisches. „Lahore steht am Scheideweg“, hatte Mohsin Hamid gerade ausgerufen. Das alte Fort in seinem Rücken war festlich illuminiert. Hunderte Gäste saßen erwartungsvoll im Park der historischen Residenz der indischen Moghul-Kaiser an gedeckten Tischen.

Da unterbrach der abendliche Gebetsruf die Festansprache des pakistanischen Schriftstellers zur Eröffnung von Lahores erster Biennale vor der Kulisse des gewaltigen Eingangstors. Wer ist stärker, so ließe sich diese unerwartete Schrecksekunde interpretieren. Die Religion? Oder die Kunst?

Dass nun auch Pakistans uralte Kulturstadt Lahore eine Biennale hat, mag man mit Kopfschütteln quittieren. Gibt es nicht längst zu viele davon? Hatte sich nicht schon vergangenen November in Karachi eine erfolgreiche Version des Formats etabliert (taz vom 31.10.2017) Warum nun noch eine in Lahore?

Doch schon die Tatsache, dass es überhaupt Biennalen in Pakistan gibt, ist ein kleiner Erfolg in dem muslimischen Land mit einem der schärfsten Blasphemie-Gesetze der Welt. Vergangenen November musste Justizminister Zahid Hamid wegen einer „unreligiösen“ Gesetzesformulierung zurücktreten.

Ein blasphemischer Sturmlauf ist die erste Lahore-Biennale erwartungsgemäß nicht geworden. „Faith, Unity, Discipline“ – das Motto der 1947 gegründeten Islamischen Republik hängt an allen öffentlichen Wänden und Gebäuden der Stadt.

Der riesige goldene Kubus, den Komail Aijazuddin vor die Alhamra, Lahores, im Stil des alten Forts erbauten Kulturzentrums gestellt hat, übt sich eher in Ambivalenz, so wie er die Form der Kaaba aufnimmt.

bild1-900

Wichtiger als die direkte Konfrontation mit der religiösen Ikonographie freilich ist die Tatsache, dass sich mit der Lahore-Biennale eine weitere Instanz etabliert hat, die eine Bevölkerung visuell herausfordert, die kaum mit zeitgenössischer Kunst umgeht. Millimeterweise bauen solche Initiativen ihr Terrain gegen den religiös definierten Raum in einer eingeschränkten Gesellschaft aus.

Dort lässt sich thematisieren, was sonst nicht ohne weiteres sagbar wäre. In Lahores Lawrence Gardens-Park hat Ali Kazim eine künstliche Ruinenlandschaft aus winzigen kleinen Ton-Herzen installiert. Sie spielen auf die Restriktionen an, die den Ausdruck gegenseitiger Liebe in aller Öffentlichkeit unterbinden sollen.

In dem 1635 erbauten Shahi Hammam hat als eine der wenigen indischen Künstlerinnen Manisha Gera Baswani ihre „Postcards from Home“ drapiert. Darauf erinnern sich 47 Künstlerinnen, die noch die Teilung Indiens und Pakistans 1947 erlebten, an diese Zäsur.

Unter dem Schirm der Biennale wagen sich auch kleine Initiativen in die Öffentlichkeit. Die Kuratoren Abdullah Qureishi und Natasha Malik organisierten in einer abgewrackten Fabrik eine Schau queerer Kunst. „River in the Ocean“ nannten sie sie nach dem Werk der feministischen Künstlerin Lala Rukh – Berlin Feeling in Lahore.

Vor allem aber ist die zweite pakistanische Biennale ein Indiz für den kulturellen Aufbruch im Land. „Das ist der Moment“, beschwört die siebzigjährige Keramikkünstlerin Sherezade Alam beim gemeinsamen Mittagessen den kulturellen Aufbruch in ihrem Land.

„Multiplizieren Sie die Formulierung ruhig mit einhundert“, lacht Sabah Hussain über die These von der Biennale als einem Indiz für die gewachsenen kulturellen Energien in ihrem Land.

Die 1959 geborene Künstlerin ist selbst das beste Beispiel dafür. Sie arbeitet als Künstlerin, Journalistin, studierte in Boston und Kyoto. Jetzt unterrichtet die progressive Intellektuelle noch in der privaten „University of Culture & Arts“, die sie mit Gleichgesinnten gegründet hat.

„Inzwischen bewerben sich jedes Jahr 9000 Studenten zur Aufnahmeprüfung am National College of the Arts“, der traditionsreichen Kunsthochschule des Landes. Jeder zweite, ob Rechtsanwalt oder Chemiestudent, gibt als Nebenberuf Schauspieler oder Sänger an.

Auf der Biennale präsentiert Hussain ihr Werk „Nur Jahan“ – auf 16 transparenten Glastafeln ruft sie das architektonische Erbe der gleichnamigen, einzigen Moghul-Kaiserin auf.

Die Pakistaner wurmt, dass ihr Land nur als „failed state“ wahrgenommen wird. „Sehen Sie hier irgendwo Terroristen, die mit Maschinenpistolen herumfuchteln?“, frotzelt Ustad Bashir Ahmad über das Pakistan-Bild des Westens.

Den kleine graue Mann mit der viereckigen Nickelbrille, Jahrgang 1954, Professor am National College of Arts und Vater der Renaissance der Miniaturmalerei, treffen wir mit seinen Studentinnen im Hof eines Design-Geschäfts. „Das ist doch alles Propaganda.“

Sein Einwand ist zweckdienlicher Optimismus. Kaum zwei Jahre ist der Terroranschlag her, bei dem die Taliban 27 Angehörige der christlichen Minderheit in der Hauptstadt der Punjab-Provinz in die Luft bombten. Und zwei Tage bevor die Biennale eröffnete, starben neun Menschen bei einem Selbstmordattentat.

Doch Pakistan ist eben mehr als das. Bei Ahmad lernten alle, die heute das pakistanische Kunstwunder ausmachen. Zu seinen berühmtesten Schülern zählt Imran Qureishi, den die Deutsche Bank 2013 zum Künstler des Jahres kürte.

Im Sommerpalast des Lahore-Forts, einem unterirdischen Schloss, das den Moghul-Kaiser in der heißen Jahreszeit diente, demonstriert der 1972 geborene Künstler, der mit seiner Kombination von Moghul-Malerei und abstrakter Formensprache bekannt wurde, seine Freude an der ästhetischen Innovation.

bild2-900
Auf dem Weg zum Posthumanen: Imran Qureishi: Idea of Landscape. Installation im alten Sommerpalast der Moghul-Kaiser in Lahores Fort. Foto: Ingo Arend

Mit Hunderten, grün leuchtenden Fiberglass-Lampen in einem verspiegelten Raum ruft er das Bild einer sanft bewegten, vollkommen künstlichen Landschaft hervor – ein digitaler Non-Space, der alles Menschliche hinter sich gelassen hat.

Neben Stars wie Quresihi stehen dann wieder Arbeiten des Awami-Kollektivs, das sich 2015 als Reaktion auf die zunehmende Einschränkung des öffentlichen Raums für Kultur gegründete hatte.

„Wenn die Künstlerinnen 1000 Drachen hätten steigen lassen, das wäre doch mal was gewesen“, erinnert Salima Hashmi an die Idee des Kollektivs, das staatliche Verbot des Basant – des traditionellen Drachenfestivals im Frühjahr – mit einer kollektiven Drachensteig-Aktion auf den illuminierten Dächern von Lahores Altstadt zu konterkarieren.

Die Grande Dame der feministischen Kunst Pakistans zählt zu den Mitunterzeichnern des „Women Manifesto of Art“ von 1983. Und sitzt – dafür muss man offenbar nach Pakistan fahren – auf einem, ausschließlich mit fünf Frauen besetzten Podium zu „Art and Activism“. „Ich stelle mir vor, dass die Biennale eine wird, die die vielen Fäden der unabhängigen Szene zusammenführt“ verteidigt Qudsia Rahim, die energiegeladene Chefin der Lahore Biennale beim Gespräch in dem abgetretenen kleinen Büro im Stadtteil Model Town ihre Entscheidung für ein scheinbar ausgelutschtes Format.

Nachdem Pakistans Vorzeigekünstler Rashid Rana kurz vor der Eröffnung im letzten Jahr als Kurator abgesprungen war, musste die Kunsthistorikerin verschieben und die Fäden selbst in die Hand nehmen, kuratorisch wie praktisch. Noch einen Tag vor der Eröffnung eiste sie höchstpersönlich ein paar Beamer, die ihr die Biennale im arabischen Sharjah ausgeliehen hatte, aus dem Zoll.

Die jahrelange Anstrengung, ohne viel Erfahrung ein im Land bislang unbekanntes Kunstfestival zu organisieren, ist der Frau, die lange in New York lebte, anzumerken, als sie während ihrer Ansprache auf der Eröffnungszeremonie stockte und zu weinen begann.

Es sind Momente wie diese, die den Unterschied zu den etablierten internationalen Biennalen markieren: Enthusiasmus, Improvisationsvermögen, persönlicher Einsatz, der unbedingte Glaube, dass es sich lohnt, Menschen Kunst nahe zu bringen.

Vergesst die Prestige-Maschine Venedig! Schaut auf die Biennalen des Südens! Hier kann der (Kunst-)Glaube noch Berge versetzen. Und die Religion sanft unterminieren.

Hamra Abbas‘ Lichtbox „The Black Square“ etwa am Eingang des Sommerpalastes entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Fehldruck, auf dem das scheinbar undurchdringliche Schwarz nur durch die überblendeten Farben Cyan, Gelb und Magenta entsteht. Gott mag groß sein. Aber er ist auch nur einer aus vielen.

Ingo Arend

taz | 07-04-2018

Bild ganz oben: Suche nach der Zukunft. Firoz Mahmuds „Soaked Dream“. Fotografie in Lichtbox im alten Sommerpalast der Moghul-Kaiser in Lahores Fort. Foto: Ingo Arend

https://www.lahorebiennale.org/

Share

Wenn heute rechte Politik wieder von „entstellter“ Kunst spricht, braucht man die documenta eigentlich mehr denn je.

$
0
0

Ein Gespräch mit der documenta-Professorin Nora Sternfeld über Kunst-Großausstellungen als umkämpftes Feld, den Spielraum der Documenta und das Paramuseum.

„Kunstwissenschaften/documenta“ – das ist die genaue Bezeichnung der Professur, mit der Nora Sternfeld die weltweit bedeutendste Schau für zeitgenössische Kunst an der Universität Kassel wissenschaftlich begleiten soll. 2013 hatte die Universität Kassel eine zunächst zweijährige Gastprofessur eingerichtet, die 2017 neu besetzt wurde. Sternfeld ist neben Forschung und Lehre eingebunden in die Konzeption eines documenta-Instituts, das auch das bestehende documenta-Archiv umfassen soll. Angesiedelt ist die Stelle an der Kunsthochschule Kassel, die ein teilautonomer Bereich der Universität ist. Die gebürtige Wienerin kennt Stadt und Universität bereits von einem Lehrauftrag, den sie 2009 an der Kunsthochschule hatte.  

Ingo Arend: Frau Sternfeld, waren Sie vergangenes Jahr auf der documenta?  

Nora Sternfeld: Selbstverständlich. Sie hat viel in mir ausgelöst.  

Was hat Ihnen am besten gefallen?  

Ich beschäftige mich seit langem mit der Frage nach dem Postrepräsentativen: Welche Möglichkeiten gibt es für eine künstlerische Form, mit der Realität zu verhandeln? Da haben mich zwei Arbeiten besonders beeindruckt. Einmal der Raum, der der Society of the Friends of Halit gewidmet war und der Kooperation mit der Londoner Gruppe Forensic Architecture. Darin ging es um die antirassistische Forschung und Auseinandersetzung mit den NSU-Morden. Und zum anderen Maria Eichhorns Rose-Valland-Institut, das die Enteignung der jüdischen Bevölkerung Europas erforscht. Zwei große Projekte: Sie wollten nicht nur repräsentieren oder den Diskurs verschieben, sondern in reale Bedingungen eingreifen.  

Die beiden Arbeiten kamen einigen Kritikern sehr dokumentarisch vor …  

Ich sehe sie nicht dokumentarisch. Gerade, dass sie in reale Bedingungen eingreifen wollten, macht den interessanten Unterschied zum Dokumentarischen. Sie schaffen gleichzeitig eine reale Intervention und öffnen auch den Raum für mögliche Imaginationen: Sie verschieben das, was gesagt und gesehen werden kann und fragen über ihren eigenen realen Eingriff hinaus: Wie würde eine andere Welt aussehen, in der ein anderes Recht gelten würde?  

Ist es die Aufgabe von Kunst, in Realitäten einzugreifen?  

Ich glaube, dass Kunst auch immer darin besteht, das zu verlassen, was sie gerade als solche ausmacht. Dieser Moment, wo der Rahmen nicht mehr den Rahmen bildet, dies kann mit performativen Mitteln geschehen, oder eben auch mit rechtlichen, kommt mir im Moment sehr spannend vor. Eine Herausforderung der Repräsentation von der Realität her.  

Ich glaube, dass Kunst auch immer darin besteht, das zu verlassen, was sie gerade als solche ausmacht.

Sie sind zwar seit einiger Zeit in Kassel. Arbeiten aber auch in Wien und Helsinki. Wie stellt sich für Sie aus dieser Außenperspektive der letzte Streit um die documenta vor?  

Die documenta ist, wie jede Großausstellung, ein umkämpftes Feld, an der Schnittstelle verschiedener Zielkonflikte: Ökonomische Interessen, Standortfragen, Lokalpatriotismen, Ressentiments, kulturtheoretische Diskurshoheiten, aber auch künstlerisch-kuratorische Rigorosität und intellektuell-politische Ansprüche. Einerseits wurde die documenta von einem globalen Kunstfeld mit seinen Einsätzen, Diskursen und Märkten beansprucht. Andererseits wurde sie in Medien und Politiken als deutsche Marke – vielleicht so wie VW, Nivea oder die deutsche Fußballmannschaft – promotet und verteidigt. Diese komplexe Gemengelage ist die Matrix dieses Streits.  

Haben Biennalen wie die documenta eigentlich noch kritischen Manövrierraum zwischen Standortinteressen und autoritär-populistischer Formierung im politischen Umfeld?  

Ja, es gibt ihn noch, aber vielleicht bald nicht mehr. Schauen Sie sich das Beispiel Istanbul an. Und wie groß ist der kuratorische Spielraum in Venedig? Die documenta hat ihn immerhin genützt. Da gab es den Spielraum noch. Und es wäre schade, wenn es ihn nicht mehr gäbe. Es ist offen, wie groß er bei der nächsten documenta sein wird. Ich hoffe, so groß wie möglich.  

Sehen Sie die documenta in Gefahr?  

Was in Gefahr ist, ist der Spielraum. Die documenta als documenta ist genauso wenig in Gefahr wie die Venedig-Biennale als Venedig-Biennale. Aber was ist uns an der documenta wichtig? Eben dieser Spielraum.  

Ist die documenta nicht ein anachronistisches Ritual? Die Versöhnung mit der von den Nazis verfemten Moderne, die Arnold Bode wollte, ist doch längst abgehakt.  

Gute Frage. Aber müssen wir diese Idee von der Versöhnung heute nicht neu definieren? Diesen Auftrag muss jede documenta neu auslegen für ihre eigene Zeit. Und selbst Bodes Idee ist nicht abgehakt. Wir leben in einer Zeit, die sich vielerorts wieder faschisiert. Wenn heute rechte Politik wieder von entstellter Kunst spricht, braucht man die documenta eigentlich mehr denn je.  

Sehen Sie auch einen neoliberalen Angriff auf das Kunstsystem wie die Unterzeichner eines Protestbriefs aus dem Kunstbetrieb kürzlich gegen die ursprünglichen Pläne der Stadt Kassel?  

Mit der Ökonomisierung haben wir es in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zu tun. Das Kunstfeld war aber nie frei von Ökonomie. Zum immer schon präsenten Kunstmarkt ist aber heute die Standortökonomie hinzugekommen, Immobilien, Tourismus. Dazu kommen die Interessen der Künstler selbst, der Kunstwissenschaft, selbst solche des Aktivismus. Alle diese Akteure kämpfen mit um die Deutungshoheit über den State of the art. So schnell kann man das nicht zurückdrehen.  

Zum immer schon präsenten Kunstmarkt ist aber heute die Standortökonomie hinzugekommen, Immobilien, Tourismus.

Ein großer Streitpunkt seit Jahr und Tag ist die Frage nach dem Standort. Darf die documenta auch weiterhin außerhalb von Kassel stattfinden? Wie wichtig ist ihr Geburtsort für die Schau?  

Wir leben heute in einer Welt, in der es nicht mehr nur ein Archiv gibt. Es gibt nicht mehr nur eine Grenze für das, was gedacht und gesagt werden kann, sondern mehrere und widersprüchliche. Und es gibt auch nicht mehr nur einen Kunstmarkt, sondern mehrere und widersprüchliche, genauso bei den Kunstgeschichten.Es gibt auch nicht mehr ein Zentrum. Dezentrierung ist ein kuratorisches Mittel, darauf zu reagieren. Und die findet ja schon auf unterschiedliche Weise seit der documenta 11 statt. Wir können natürlich den Anspruch aufgeben, Welt, Kunst und Ausstellung aufeinander wirken zu lassen. Dann können wir uns auf ein System beschränken. Oder wir beziehen diese Widersprüche aufeinander.  

Selbstbeschränkung geht doch eigentlich nicht mehr …  

Es geht. Aber um den Preis der Provinzialität. Um es in der Fußballsprache auszudrücken: Wenn Deutschland nur in Deutschland Fußball spielen will, kann es sich nicht mehr an der Weltmeisterschaft beteiligen.  

In Kürze wird eine Findungskommission eine/n neue/n künstlerische/n Leiter/in für die 15. documenta 2022 berufen. Haben Sie eine/n Wunschnachfolger/in für Adam Szymczyk?  

Die nächste documenta braucht jemanden, der oder die auf der künstlerischen Freiheit besteht und auf Basis dieser Freiheit eine Position entwickeln kann, die sich traut, etwas in die Welt zu rufen und nicht nur etwas abzubilden.  

Sie vertreten in Bezug auf die Frage nach der Zukunft des Ausstellungswesens die Idee eines Para-Museums. Was ist damit gemeint?  

In der kritischen Museologie ging es lange Zeit um Museumskritik. Der Neoliberalismus will das Museum verändern, privatisieren. Mit dem Para-Ansatz geht es mir darum, ernst zu nehmen, was ein Museum kann. Und zugleich die Kritik an der Gewaltgeschichte ernst zu nehmen, die das Museum auch ist. Es geht darum, im Inneren von etwas, was problematisch ist, eine Veränderung zu denken. Aber nicht, indem ich mich mit diesem Innen total identifiziere. Eine Mischung aus Kritik und Aneignung, wenn Sie so wollen.  

Was könnte diese Konzeption für die nächste documenta bedeuten? Schließlich versteht sich die documenta als „Museum der einhundert Tage“.  

Das Interessante an der documenta ist ja diese Dialektik aus Dauer und Veränderung. Ihre lange Kontinuität besteht aus einer Aneinanderreihung von temporären Momenten. Ihr müsste etwas zur Seite gestellt werden, das beide Möglichkeiten ernst nimmt. Ich glaube, dass das documenta-Institut, das jetzt in Kassel eingerichtet wird, eine Institution sein könnte, das die Kraft der jeweils aktuellen documenta, die sich immer selbst neu erfindet, genauso ernst nimmt wie die Tatsache, dass documenta mittlerweile eine Kontinuität hat und diese auch braucht.  

Seit Beginn dieses Jahres sind Sie die neue documenta-Professorin. Was machen Sie selbst konkret an der Kasseler Universität?  

Ich unterrichte natürlich. In diesem Semester haben wir in einem kollaborativen Seminar neue Forschungsfragen für das Archiv entwickelt. Im nächsten Semester gebe ich eine Vorlesung zur Ausstellungsgeschichte. Wir arbeiten auch an einer Web-Plattform, die documenta-Studien öffentlich machen wird. Teil der Arbeit ist ein öffentliches Programm der internationalen und lokalen Debatte darüber, wie wir uns eine Institution wie dieses neue documenta-Institut imaginieren könnten, die nicht so auf der Hand liegend ist. Wir wollen das nicht vorwegnehmen, wir wollen uns überraschen lassen. Auf der Webplattform wird jedes Jahr auch ein post-digitales künstlerisches Rechercheprojekt lanciert, um zu zeigen, dass künstlerische Forschung ein wesentlicher Teil der documenta-Forschung sein muss.  

Welche Rolle kommt dem documenta- Archiv zu?  

Das Archiv hat eine Geschichte, die fast so lang ist wie die documenta selbst. Es ist eines der interessantesten Archive der Gegenwartskunst, eine vorzügliche Basis, um ein documenta-Institut zu denken. Das ist eine unglaubliche Chance: Die Gleichzeitigkeit von Sich-selbst-ständig-neu-erfinden und Kontinuität, die sich im Archiv materialisiert, ist eine Möglichkeit, um Institutionen anders zu denken.  

Viele documenta-Chefs beklagen ja oft die mangelnde Nachhaltigkeit der documenta auch in der institutionellen Praxis …  

Absolut. Und gleichzeitig sind dieselben Leute froh, dass sie alles selbst erfinden können. Wenn sie kommen, wollen sie eigentlich nicht auf dieses alte Wissen aufbauen. Wenn sie gehen, wollen sie ihr Wissen auf ewig konservieren. Ich wünsche mir, dass das künftige documenta-Institut ein Ort ist, an dem dieser Widerspruch zu einer Chance wird: Sowohl auf der Freiheit als auch auf der Notwendigkeit von Kontinuität zu bestehen.  

Schluss mit der documenta, und zwar für immer! schrieb eine Zeitung im letzten Jahr. Dem Satz würden Sie wahrscheinlich nicht zustimmen, oder?  

Die documenta wird weitergehen. Die Frage ist nur wie.  

Ingo Arend | BAND 253, 2018, KUNSTFORUM GESPRÄCHE, S. 318

____

Nora Sternfeld, geboren 1976 in Wien. Studium der Philosophie an der Universität Wien, Promotion als Kunst- und Kulturwissenschaftlerin an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Lehraufträge in Wien, Berlin, Kassel und Zürich. Derzeit Professorin für Curating and Mediating Art an der Aalto University in Helsinki und ist seit Anfang diesen Jahres documenta-Professorin an der Kunsthochschule Kassel.

Sternfeld ist Teil des Wiener Büro trafo.K, das an Forschungs- und Vermittlungsprojekten an der Schnittstelle von Bildung, Kunst und kritischer Wissensproduktion arbeitet. Sie ist im Leitungsteam des /ecm – educating, curating, managing – Masterlehrgang für Ausstellungstheorie und -praxis an der Universität für angewandte Kunst Wien, Teil von Freethought, Plattform für Forschung, Bildung und Produktion und war in diesem Zusammenhang eine der künstlerischen Leiter*innen der Bergen Assembly 2016.

Zuletzt erschienen „Das Pädagogische Unverhältnis. Lehren und Lernen bei Rancière, Gramsci und Foucault“. (Wien 2009) und „Kontaktzonen der Geschichtsvermittlung. Transnationales Lernen über den Holocaust in der postnazistischen Migrationsgesellschaft“. (Wien 2013).

Share


Schaukampf zwischen Kultur und Religion

$
0
0

Überraschend genehmigt Präsident Erdoğan die Rekonstruktion des legendären AKM-Kulturzentrums am Istanbuler Taksim-Platz. Islamische Symbolpolitik wird dort aber dennoch gemacht. 

Eine große rote Kugel, die durch ein Aluminium-Gitter leuchtet. Ist das die Kuppel einer Moschee? Eine Zauberkugel aus Tausendundeine Nacht? Oder eine osmanische Bonbonniere? Schwer zu sagen, welche Assoziation Architekt Murat Tabanlıoğlu mit seinem Entwurf aufrufen will. Eines aber belegt er nicht: Dass es mit seinem Neubau des Atatürk Kultür Merkezi an Istanbuls zentralem Taksim-Platz zu dem symbolischen Ikonoklasmus kommt, den viele am Bosporus seit langem befürchtet hatten.

Der graue Kastenbau am Ostende des Platzes, von den Istanbulern lakonisch AKM abgekürzt, gehört zu den Symbolbauten der modernen Türkei. 1967 von dem Architekten Hayati Tabanlıoğlu erbaut, brannte das Gebäude schon 1970 aus und wurde 1977 neu eröffnet. Im Stil des Stockholmer Kulturhuset oder des Pariser Centre Pompidou fungierte das Haus mit der charakteristischen Lochfassade aus dunklem Aluminium gleichsam als „Palast der Republik“ des Landes.

Der AK-Regierungspartei war das Gebäude immer ein Dorn im Auge. Mehrere Versuche, es abzureißen oder zu sanieren, scheiterten aber am Widerstand der Öffentlichkeit. In den letzten Jahren stand es leer. Mit der jüngsten Entscheidung Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğans, es in ein Opernhaus umbauen zu lassen, nahm der jahrzehntelange Kulturkampf um das Gebäude nun eine überraschende Wende. Indem Erdoğan kürzlich Murat Tabanlıoğlu, den Sohn des ersten, republikanisch gesinnten Architekten mit dem Projekt betraute, nahm er Gegnern der Renovierung geschickt den Wind aus den Segeln.

Tabanlıoğlu junior hatte schon 2004 das Kunstmuseum Istanbul Modern errichtet hatte und plant Bauten in Dubai und New York. Als er während des Berliner Gallery Weekend bei einem Talk in der Architektur Galerie Berlin gefragt wurde, ob es eine Ausschreibung für den Bau gegeben habe, wiegte er den Kopf und gestand: „Ich bin von Erdoğan persönlich eingeladen worden“.

Zwei Stunden lang habe er dem Herrscher, dessen Tiraden gegen moderne Kunst Legende sind, seine Rekonstruktions-Idee erläutert. Dann habe der oberste Bauherr plötzlich sein Einverständnis gegeben. „Als Architekt möchte ich natürlich bauen. Da habe ich nicht Nein gesagt“, rechtfertigte Tabanlıoğlu die Auftragsannahme.

Kritiker der AKP-Herrschaft dürften das als Verrat ansehen. Die Istanbuler Architektenkammer, eine Hochburg der Säkularen, die schon Anfang der 2000er Jahre einen „Angriff auf ein symbolisches Gebäude der republikanischen Ära“ gewittert hatte, wandte sich auch gegen die jetzt bekannt gewordenen Pläne. Zwar bleibt es ein Skandal, dass die Stadt es so lange verfallen ließ, Teile des historischen Mobiliars verschwanden auf ominöse Weise. Doch als Inkarnation von Erdoğans „Neuer Türkei“ wird man die Tabanlıoğlus Pläne nicht bezeichnen können.

Im Gegenteil: Das neue Gebäude, das 2019 eröffnen soll, behält den Namen des Staatsgründers, auch Form und Volumen bleiben gleich. Tabanlıoğlu verweist demonstrativ auf die modernistische Tradition der türkischen Architektur der 60er und 70er Jahre. Nur die bislang im alten AKM untergebrachten Bibliotheken, Galerien, Theater, Restaurants und Cafès werden in Neubauten auf einem alten Parkplatz neben dem Gebäude verlagert.

Auch die Aluminium Fassade wird im gleichen Maßstab rekonstruiert. Als transparente Membran soll sie Innen- und Stadtraum verbinden und als digitaler Screen funktionieren. Die große rote Kugel in der Mitte des Gebäudes, die den riesigen Konzertsaal aufnimmt, werden die Passanten auf dem Taksim-Platz von außen sehen können.

Höchstens das aufkragende Vordach über der Fassade ließe sich als „Hidschab“ deuten. Zwar schützt es die Besucher vor Regen. Riesige Protest-Plakate oder Banner, wie sie die Gezi-Demonstranten im Sommer 2013 vor die Fassade des besetzten AKM gehängt hatten, wird man dort aber nicht mehr aufhängen können.

Islamische Symbolpolitik wird am Taksim dennoch gemacht. Und zwar direkt gegenüber dem neuen Kultur-Zentrum. Schon seit dem Frühjahr letzten Jahres wächst dort jeden Tag eine neue, dreißig Meter hohe Moschee mit einer riesigen Kuppel in den Himmel. 2500 Gläubige sollen in ihr Platz finden – genauso viele wie in die rote Kugel im neuen AKM – ein inszenierter Schaukampf von Religion und Kultur.

Der Architekt des Baus heißt Şefik Birkiye. Der Mann hat auch den umstrittenen Aksaray gebaut – Erdoğans pompösen 1000-Zimmer-Palast im neoseldschukischen Stil – illegal errichtet in einem ehemaligen Naturschutzgebiet von Staatsgründer Atatürk in Ankara.

Ingo Arend

http://architekturgalerieberlin.de/

http://www.tabanlioglu.com/

Share

Auf dem Weg zum maschinellen Realismus. Gut oder schlecht?

$
0
0

Eine Tagung des Neuen Berliner Kunstvereins zu dem Dauerbrenner „Kunst / Politik“ kaute alte Kamellen – bis Hito Steyerl und Trevor Paglen kamen.

„Freedom cannot be simulated.“ Wer würde diese Weisheit nicht sofort unterschreiben. Unübersehbar zieht sich der Slogan über eine Wand der Frankfurter Kunsthalle Schirn. Rirkrit Tiranavija hat das Zitat des Dichters Stanisław Lec in großen Lettern über die Seiten der Tageszeitung „South China Morning Post“ aus dem September 2014 geschrieben. Damals hatten die Wahlrechtspläne der Hongkonger Stadtregierung eine Protestwelle ausgelöst, die als „Regenschirmrevolution“ in die globale Protestgeschichte eingegangen ist.

Tiravanijas Arbeit, derzeit in der Frankfurter Schau „Power to the people“ zu sehen, ist eines der Beispiele für die weltweite Renaissance einer Kunstrichtung. Was sie eint, ist meist ein mehr oder weniger deutlicher Bezug auf die Konfliktherde der Welt, ein identifizierbares politisches Stichwort, abgerundet mit einer Prise Aktivismus. Das oft Illustrative solcher Kunst erinnerte Catherine David vergangenes Wochenende bei einer Diskussion im Neuen Berliner Kunstverein (nbk) an Gilles Deleuzes Stichwort von der „publicity“.

David, 1997 Chefin der legendären Documenta X und heute stellvertretende Direktorin des Pariser Centre Pompidou, muss es wissen. Mehr als 20 Jahre liegt „ihre“ Documenta zurück, gilt aber bis heute als paradigmatische Schau: Nicht nur, weil sie mit Film und Diskurs unwiderruflich den Kanon erweiterte, sondern wegen ihres explizit politischen Anspruchs.

„Politics – poetics“ – der Untertitel ihres Documenta-Buches, will sie aber nie als Aufruf zur Politisierung der Kunst verstanden haben. Auf der nbk-Tagung „Kunst / Politik“ erinnerte sie an das Motto Jean-Luc Godards: „Ich mache keine politischen Filme, aber ich filme politisch“. Gute Kunst, so die Kuratorin, sei das Gegenteil des politischen Werts Transparenz. Nichts gegen Agitprop – aber sie schätze Kunst, die komplex, rätselhaft und vielschichtig sei.

Genau an dieser Stelle der Tagung „Kunst / Politik“ hätte man sich ein Streitgespräch gewünscht. Hatte doch kurz zuvor Alfredo Jaar gleichsam das Kontrastprogramm geliefert. Auf der einen Seite zitierte der chilenische Künstler das Credo eines chinesischen Kollegen, der die Frage, wie das Elend der Welt zu lösen sei, mit den Worten beantwortet hatte: „Ich weiß es nicht, deswegen bin ich Künstler“. Oft genug streifen Jaars Werke oder auch die von Polit-Altmeister Hans Haacke, die ihre Arbeiten präsentierten, dann aber doch die Grenze zum Appell.

Zu sehr reihte freilich eine unglückliche Konferenz-Dramaturgie neun halbstündige Frontalvorträge beziehungslos aneinander. Klaus Theweleit sah zum Auftakt den Körper als Schauplatz des Kampfes zwischen Politik und Kunst nach dem 2. Weltkrieg. Adam Szymcyzk, immer noch Chef der Documenta 14, erinnerte an das Gedicht seiner poetischen Landsfrau Wisława Szymborska „We are all children of our age, it’s a political age“. Auseinandersetzung darüber? Fehlanzeige. Niemand unternahm auch nur den Versuch einer vorläufigen Bilanz des Balanceaktes zwischen Politik und Kunst.

So trieb die sauerstoffarme Konferenz im Autopilot-Modus dahin. Wenn nicht Hito Steyerl und Trevor Paglen gewesen wären. Beiläufig, souverän, ironisch demonstrierten die Berliner Video-Künstlerin und der amerikanische Fotokünstler, dass sich der Kontext der Kunst im Zeitalter der digitalen Revolution so dramatisch verändert, dass die Ritualstreits der Politästhetik plötzlich wie die Kamellen einer untergehenden Epoche wirken.

Für Steyerl wird die Bildproduktion selbst problematisch. Das digitale Bild mache diese Vokabel bedeutungsgleich mit Energie. Wenn im Jahr 2021, so rechnete sie vor, 82 Prozent des globalen digitalen „traffic“ auf das Konto von Video-Kommunikation geht, werde die dabei verbrauchte Energie zum ökologischen Problem.

Die Mehrheit heute erzeugter Fotos wird von Maschinen für Maschinen gemacht, so Paglen. Hinter der Überwachungs-, Erkennungs- und Kategorisierungsarbeit der überall „im Hintergrund“ unsichtbar arbeitenden „Autonomous Vision Systems“ dämmert für den Linksaktivisten nicht nur das neue kunsthistorische Zeitalter eines „maschinellen Realismus“ sondern auch eine „totalitäre Ästhetik“.

Der amerikanische Künstler Mark Flood hat das passende (Sinn-)Bild dafür gefunden. Das Wort „Like“, das er auf 4344 kleinformatige Tafeln gedruckt und als Installation in eine Ecke der Frankfurter Schirn getürmt hat, ironisiert die Bewertungskultur der sozialen Medien. Sie erinnert aber auch an die Ohnmacht des Users. Schließlich kann er nur das liken, was irgendwer „ins System gestellt“ hat. Ein Fall von simulierter Freiheit sozusagen.

Ingo Arend

Bild oben: Ständiger Balanceakt: Politische Kunst. Fotostill aus Halil Altınderes Video „Ballerinas and Police“ (2017), derzeit zu sehen in der Ausstellung: „Power to the people“ in der Frankfurter Kunsthalle Schirn. Foto: Ingo Arend

AUSSTELLUNG

Power to the people, Schirn Kunsthalle Frankfurt.

bis 25. Mai 2018

www.nbk.de

Share

Die Lang’sche Methode

$
0
0

Der 2014 gestorbene Kurator Peter Lang war das Gegenbild zum mondänen Starkurator. Ein schöner Band erinnert an den DDR-Bohèmian.

Viktorianische Kostüme, mechanisch anmutende Konstruktionen, wahnwitzige Skizzen. Die Besucher staunten nicht schlecht, als sie das Sammelsurium sichteten, das vor drei Jahren im Berliner Künstlerhaus Bethanien ausgebreitet war. War das schon Kunst oder handelte es sich doch bloß um abgedrehte Bastlerarbeiten?

„Das mechanische Corps. Auf den Spuren von Jules Verne“ war die letzte und zugleich eine der erfolgreichsten Ausstellungen von Peter Lang. Was wie historische Objekte aus der Zeit von Jules Verne wirkte, war tatsächlich eine Kompendium zeitgenössischer Kunstobjekte.

Manche sahen wie Uhren aus, Pendel oder Fluggeräte. Was sie einte, war der ästhetische Rückgriff auf das utopische Potential von Technologien des frühen Industriezeitalters – in einem Zeitalter, dessen technologisches Potential ans Magische grenzt.

Die Schau vereinte alles, was den 1958 in Leipzig geborenen Kurator ausmachte: Das Interesse an Kulturgeschichte, die Lust an der Grenzüberschreitung zwischen High und Low, die Liebe zu außergewöhnlichen Objekten, unbekannten Kunstformen.

Verwundern konnte die ungewöhnliche Kombination nicht. Hatte Lang doch beides studiert: Physik an der Karl-Marx-Universität Leipzig von 1979 bis 1981, Kunst, Ästhetik und Theaterwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität 1982 bis 1990.

Die Begegnung von Kultur und Technik zog sich als Subtext durch sein Kuratieren. In ganz große Form goss er dieses Interesse, als er 2007 im Historisch-Technischen Informationszentrum Peenemünde eine Ausstellung über den „Weltraumphantasten“ Wernher von Braun zeigte.Und ihn dem (ost-)deutschen Art-Brut-Künstler Karl Hans Janke gegenüberstellte. Der 1988 verstorbene Maler und Erfinder hatte in 40 Jahren in der Psychiatrie Tausende Zeichnungen und Modelle von Flugmobilen, futuristischen entwickelt. Nischenexistenzen, schräge Vögel, skurrile Sammlungen zogen Lang immer magisch an.

„Die Ungarische Methode“ nannte er eine Ausstellung 2012 im Kunstverein Aschersleben. Darin reflektierte er den, zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelten Algorithmus, der in Verkehr und Telekommunikation eine Rolle spielt, im Spiegel der Kunst.

Wie ein spleeniger Daniel Düsentrieb der Kunstwelt oder ein verhinderter Physikprofessor kam Lang freilich nicht daher. Als der Berliner Künstler Markus Wirthmann ihn während einer Recherchereise durch Brandenburg zu Beginn der 2000er-Jahre zum ersten Mal kennenlernte, traf er einen schlecht gelaunten, kleinen Mann in Uniform.

Der punkige DDR-Bohemian pflegte ein Faible für die Zeit zwischen sächsischem Spätbarock und Romantik. Deswegen hatte er sich eine lederne Dragonerjacke aus dieser Zeit schneidern lassen. Aufmerksamkeit auf Vernissagen konnte er sich darin sicher sein.

In dem betressten Rock sah er, wie sich Wirtmann erinnerte, „ wie ein Napoleondarsteller auf einer Kleinkunstbühne“ aus. Aristokratisches Gebaren lag ihm jedoch fern. Wenn ihn etwas auszeichnete, dann grenzenlose Neugier, Begeisterungsfähigkeit und schier unendliche Energie.

„Ungewöhnliche Themenausstellungen“ – das war das einhellige Stichwort, wenn von Peter Lang die Rede war. Schwer zu sagen, woher diese Fähigkeit rührte. Die assoziative Art, zu denken, der Zwang zur blitzschnellen Improvisation, mit dem er im nonkonformistischen DDR-Kunstbetrieb großgeworden war.

Von 1989 bis 1993 betrieb er in Berlin die Galerie Kraftwerk. In Leipzig bemühte er sich im berühmten, nach der Wende leerstehenden „Specks Hof“ gegen die „Leipziger Kuhwärme“ anzukämpfen. „Wer von den Malern hier spricht schon englisch?“, regte er sich damals auf.

Doch „finanztechnisch“, erinnert sich der Künstler Moritz Götze, „war er meistens ein Chaot“. Geld zu verdienen lag ihm nicht, Lang brannte für Inhalte. Auch wenn die Projekte, die er daraus schmiedete, sein Konto beständig in gefährliche Grenzwerte trieb.

Dass dieser Mann nach der Wende nicht unterging, verdankte er seinen Netzwerken aus der versunkenen Zeit davor. Die meisten Künstler aus der DDR, die später berühmt wurden, kannte er noch aus Studientagen. Übertriebene Ehrerbietung ihnen gegenüber war ihm vollkommen fremd. Wer mit ihm arbeitete, musste Kritik aushalten können. „Diplomatisches Verhalten war Peters Sache nicht“ erinnert sich Moritz Götze.

Nur ein Herold der DDR-Kunst war Lang aber nie. Obwohl er mit zahlreichen Ausstellungen den ostdeutschen Pop-Artisten Götze bekannt machte. Diesen und Neo Rauch in die Sammlung der Deutschen Bank hievte. Und dafür sorgte, dass das Oeuvre Hannes Hegens, des legendären DDR-Comiczeichner und Erfinders des „Digedag“-Trios, nicht in Vergessenheit geriet.

Mehr als um Einzelschauen ging es Lang aber um kulturelle Tiefenbohrungen und Querschnittsanalysen. Wie bei der Schau „Der Harz“ 2005 in Aschersleben. Neben vergessenen Büchern und Bildern aus dem Heimatmuseum präsentierte Lang dort Roland Bodens fiktive Dokumentation über das „Alberich-Gerät“, ein Wehrmachts-Instrument zur Unsichtbarmachung. Oder die Idee des Berliner Künstlers Joachim Grommek für einen Aussichtsturm für die Stadt.

„Verbindungen schaffen, verschiedene Welten miteinander zu vereinen“ – unter den Definitionen, mit denen Hans-Ulrich Obrist, der Schweizer Übervater des Kuratierens, vor ein paar Jahren versuchte, seinen seltsamen Beruf auf den Begriff zu bringen, trifft diese Beschreibung die ungewöhnliche Arbeit des „Polyhistors“ (Andreas Höll) Lang noch am ehesten.

Heute ist der „Kurator“ zur Chiffre einer selbstbezüglichen Kaste des Kunstbetriebs geworden. Der Prekarier Lang war gleichsam das Gegenbild des mondänen Starkurators. Klein, unscheinbar, nachlässig gekleidet, zu große Kastenbrille.

Wichtiger war, dass er es noch mit der ursprünglichen Wortbedeutung des Kurators hielt – „Pflegen“. Jedes Projekt transportierte seine Vision, trotzdem blieb er immer respektierter „Künstlerpartner“ (Anke Reutter).

Wenn heute Kuratoren ihre schwer definierbare Arbeit zur „Wissensproduktion“ aufplustern, dann war Lang ihr Exponent avant la lettre. Ohne allerdings in das (post-)strukturalistische Kauderwelsch zu verfallen, mit dem sie heute präsentiert wird. „Das soll sich ja sinnlich erschließen“ hatte er einmal in einem Interview lakonisch seine Arbeitsweise charakterisiert.

Wenn man rastlosen Meister der Verknüpfung etwas gewünscht hätte, dann ein paar größere Projekte als die zahllosen Galerie-Ausstellungen oder die Themenschauen, die Christoph Tannert, Freund und Kollege aus DDR-Tagen und Direktor des Künstlerhauses Bethanien ihm dort ermöglichte.

Womöglich gar die „Mission impossible“ in Venedig. Wie hätte wohl, so einer meiner liebsten Tagträume, der deutsche Pavillon in den Giardini ausgesehen, hätte der deutsche Außenminister eines Tages diesem hochtalentierten Outsider zu dessen Kurator ernannt?

Dazu ist es nicht gekommen. 2014, mit gerade mal 56 Jahren, starb er in einem Taxi an einem Herzschlag, als er in München eine Ausstellung vorbereitete. So schnell und überraschend, wie er bei Projekten oder Parties auf- und abzutreten pflegte. Wahrscheinlich hat sich der heimatlose Kunstnomade einfach auf den Weg zurück in die Zukunft gemacht.

Ingo Arend

der freitag, 20/2018

http://www.barbabette.com/other/peter-lang-katalog/

http://www.bethanien.de/publications/peter-lang/

Zur Erinnerung an „Peter Lang. Kurator“ ist im Verlag des Künstlerhauses Bethanien ein schönes Bändchen erschienen.

164 Seiten

30 Euro

Share

Wir haben keine Zeit zu verlieren.

$
0
0

Mit ihrer Tagung zu neuen Formen des transkulturellen Austauschs setzte die Globale Akademie der Salzburger Sommerschule auch ein Zeichen gegen die Xenophobie.

„Austro-Türken“ müssen zittern. Ein österreichisches Nachrichtenportal triumphierte vor ein paar Tagen. Seit der rechten FPÖ eine Liste mit mutmaßlich illegalen Doppelstaatsbürgern zugespielt wurde, bangen Tausende Türkischstämmige in der Alpenrepublik um ihren Pass. Die neue Bundesregierung will ihnen den schleunigst abnehmen.

Angesichts der Xenophobie, der schon zwanghaften Fremdenfeindlichkeit in dem Land, dessen Kanzler sich brüstet, die Balkan-Route „geschlossen“ zu haben, ist es schon fast ein politisches Statement, wenn eine Kunstinstitution öffentlich nach Wegen des „transkulturellen Austauschs“ sucht. Genau darum ging es in diesem Jahr der Globalen Akademie der Internationalen Sommerakademie für Bildende Kunst in Salzburg Anfang August.

1953 von dem Maler Oskar Kokoschka als „Schule des Sehens“ auf der Festung Hohensalzburg am Fuße der Ostalpen gegründet, ist die Sommerakademie nicht nur die älteste ihrer Art in Europa, sondern selbst schon eine Schule der Interkulturalität. Zu Zeiten des legendären Expressionisten Kokoschka war sie noch eher Provinzevent, inzwischen besuchen jedes Jahr fast 300 Teilnehmende aus über 50 Staaten die 20 Kurse. Es hat seinen Reiz, dass sie sich mit der vor zwei Jahren gegründeten, „Globalen Akademie“ gerade in der heimatseligen Provinz nun auch diskursmäßig zum internationalen Kunsthotspot mausert.

Unterricht bei namhaften Künstlern

Die Sommerschule ist beliebt, weil es keine Altersbeschränkung für die Teilnehmenden gibt. Jede Menge Stipendien helfen, um die Kurskosten zu stemmen. Namhafte Künstler unterrichten sechs Wochen lang intensiv. „Heimat“ hieß zum Beispiel das Thema der Fotoklasse der palästinensischen Künstlerin Ahlam Shibli, die im letzten Jahr auf der Documenta ausgestellt hatte. Eine ihrer Schülerinnen hatte MigrantInnen in Salzburg fotografiert. Die Bilder demonstrierten zwar einerseits, wie die Mozartpuppenstube und die durch sie führende Salzach, Inbegriff des gefährdet gewähnten „Österreichischen“, zur neuen Heimat von Österreichern mit Migrationshintergrund geworden ist. Kritischer betrachtet ließen sich die Arbeiten aber andererseits auch als die Form „sentimentaler Solidarität“ interpretieren, von der der indische Schriftsteller und Künstler Shuddabrata Sengupta, Mitbegründer des Raqs Media Collective, in seiner Keynote zum Auftakt der Tagung „enough“ hatte: moralisch einwandfreie Standardware bei interkulturellen Workshops oder Biennalen.

Insofern war es das größte Verdienst der von Akademiedirektorin Hildegund Amanshauser und der Wiener Kritikerin Kimberly Bradley konzipierten Konferenz, dass sie eine ganze Phalanx unkonventioneller „Methoden transkulturellen Austauschs“ präsentierten. Das reichte von Zeitschriften wie dem Kunstmagazin C&, das einen neuen Kulturdialog mit und über Afrika führt, über die Versuche von Diana Campbell Betancourts „Dhaka Art Summit“, neue, ästhetische Dialogkanäle zwischen Bangladesch und seinen verfeindeten Nachbarn zu öffnen, bis zu dem „Refugee-Phrase Book“. In dem – auch von Künstlern verbreiteten – Open-Source-Projekt hat ein Netzwerk von Freiwilligen hilfreiche Vokabeln und Links für Geflüchtete und Helfer zusammengestellt, die Ankommenden nach der Einreise helfen sollen, sich zu orientieren.

Am radikalsten jedoch reformulierten die Kuratorin Clémentine Deliss und der niederländische Künstler Renzo Martens die transkulturelle Idee. Statt weiter über Provenienz, Rückgabe oder Konservierung zu streiten, will Deliss, 2015 spektakulär als Direktorin des Frankfurter Museums der Weltkulturen entlassen und später rehabilitiert, die 15 ehemaligen „Völkerkunde“museen in Deutschland mit ihren fünf Millionen Objekten zu post­ethno­grafischen „Museums-Universitäten“ umfunktionieren.

Zu ihnen sollen Künstler, Autoren oder Rechtsanwälte genauso Zugang haben wie Anthropologen oder Vertreter indigener Kulturen. Gleich zu Beginn energetisierte die brillante Wissenschaftlerin die Tagung mit ihrer Forderung nach einem neuen postkolonialen Diskurs: „Wir haben keine Zeit zu verlieren“, rief sie unter großem Beifall.

Schokoladenwirtschaft

Mit einem aufsehenerregenden Projekt hat Martens den White Cube in der Umgebung „rekontextualisiert“, der er seine Entstehung verdankt: dem Land der kunstliebenden Mäzene der Tate in London oder des Van-Abbe-Museums in Eindhoven, die fernab von Europa Plantagenbesitzer in Afrika waren. Bei der Eröffnung des White Cube, den er „Institute for Human Activities“ nennt, auf einer ehemaligen Palmöl-Plantage der Firma Unilever in Zentralkongo zeigte Martens Werke von Marlene Dumas oder Luc Tuymans über die Ausbeutung afrikanischer Arbeiter. In Lehmhütten nebenan zeigten diese ihre eigenen Skulpturen. Deren Arbeiten scannt Martens, lässt sie mit 3-D-Drucker in Schokolade, einem Treibstoff der kongolesischen Wirtschaft, ausdrucken und verschafft mit ihrem Verkauf den Kongolesen das Geld, mit dem sie selbst Boden erwerben können – ein politästhetischer Geniestreich.

Schwer zu sagen, ob so ungewöhnliche Methoden am Ende zu dem „planetaren Bewusstsein“ führen, das Shuddabrata Sengupta in Salzburg beschwor. Nur gemeinsam die Hände auf einen Meteoriten zu legen, der älter als die Erde ist, wie er es vorschlug, dürfte kaum reichen, um den kolonialkapitalistischen Komplex zu überwinden, der verantwortlich für die Trennung in „Wir“ und „Die Anderen“ ist.

Sein Ende ist längst nicht in Sicht. Um mit der brasilianischen Kuratorin Cristiana Tejo zu sprechen, die im brasilianischen Pernambuco eine neue Art von Künstler-Residenz ins Leben gerufen hat: „Es ist ein langer, harter Weg.“ Immerhin hatte sie nach Österreich kommen dürfen.

Ingo Arend

http://www.summeracademy.at/

Bild ganz oben: In alle Richtungen offenbleiben: Arbeit von Rudi Rapf für Tony Chakars Kurs „On seeking incuriously“ bei der Sommerakademie 2018 in Salzburg. Foto: Ingo Arend

Share

Article 1

$
0
0

Eine andere Welt ist notwendig

Im brasilianischen Porto Alegre diskutiert das Goethe-Institut mit der Ausstellung an „Die Macht der Vervielfältigung“ die Zukunft der Reproduktion im digitalen Zeitalter

„Was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verkümmert, das ist seine Aura.“ Walter Benjamins zu Tode zitierter Satz aus seinem berühmten Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit“ hat sich nicht bewahrheitet. Sonst würden die Kunstfreunde nicht Schlange vor der echten Mona Lisa im Pariser Louvre stehen, die alle Jutebeutel und Seidenschals dieser Welt ziert.

Die neue „Macht der Vervielfältigung“, die Benjamin fürchtete, ist offenbar also nicht nur kein Grund zu Kulturpessimismus. Dass sie auch keineswegs dem Zeitalter des Postfaktischen den Weg bereiten muss zeigt jetzt eine aufschlussreiche Ausstellung im brasilianischen Porto Alegre.

Keine unwichtige Nachricht in einem Land, dessen rechtsextremer Präsidentschaftskandidat Jair Bolsonaro gerade ins Zwielicht geraten ist, weil er im Wahlkampf millionenfach fake news über WhatsApp an alle Wähler verschicken ließ.

Neun brasilianischen und fünf deutschen Künstler hat Gregor Jansen, Direktor der Kunsthalle Düsseldorf, unter dem Titel „O Poder da Multiplicação – Die Macht der Vervielfältigung“ im Museu de Arte do Rio Grande do Sul, Kunstmuseum des gleichnamigen Bundesstaates im Süden Brasiliens versammelt. Sie zeigen, dass sich künstlerische Reproduktion längst nicht mehr auf die klassischen Techniken beschränkt.

Für die steht Thomas Kilppers Arbeit „Another world is necessary“. In roten Großbuchstaben auf einem wehenden Banner zieht sich das Motto über eine grün-rote Bildfläche. Dazwischen sind Porträts von Personen der Zeitgeschichte zu erkennen: Dem ehemaligen US-Präsidenten Lyndon B. Johnson oder dem brasilianischen Umweltaktivisten José Lutzenberger.

Blick in die zentrale Ausstellungshalle des Museu de Arte do Rio Grande do Sul. Im Vordergrund: Thomas Kilppers Arbeit „another world is necessary – or: don’t think about the crisis – fight!“, Holzschnitt, Druck auf Roh-Leinwand, Porto Alegre, 2016. Rückwand: Tim Berresheim: „The Early Bird (Sigh) (edit.)“, Rafael Pagatinis „Manipulações – Manipulations“, 2016, Holzschnitt auf Papier und „Welcome, President!“, 2015-2016, Tintenstahldruck auf Chinapapier. | Foto: Goethe-Institut Porto Alegre.

Der Berliner Künstler schnitzte die Szenerie 2016 in den Parkettfußboden der Künstlerresidenz Vila Flores und „druckte“ das Bild mit den eigenen Füßen auf eine darüber gelegte Leinwand.

Der Berliner Künstler Ottjörg A.C., der seit einiger Zeit in Porto Alegre lebt, nimmt Bezug auf das Fundament aus Gewalt und Blut, auf dem jeder Staat gründet. Seine Drucke sind Matrizen der originalen Holzpfähle, auf denen das Berliner Schloss einst ruhte und die 2012 entfernt werden mussten, als dessen Rekonstruktion begann.

Die Farbe Preußisch-Blau, die er für den Druckvorgang benutzte, ruft den Farbton auf, den der Chemiker Diesbach 1704 zufällig erfand, als er mit der Oxidation von Eisen einen roten Farbton synthetisieren wollte. Das Rot in Ottjörgs Drucken spielt auf das Blut der Kriege an. „Blut und Eisen“ ist bis heute die Metapher des Bismarck’schen Staatsprojektes geblieben.

Avancierter wird es bei der deutschen Künstlerin Hanna Hennenkemper. Sie beregnet ihre mit alten Werkzeugen belegten Druckplatten mit Harzstaub, um den Eindruck eines archäologischen Artefakts zu erwecken.

Regina Silveira, die Grande Dame der brasilianischen Kunst, kreuzt traditionelle Grafik-Techniken mit industriellen Druckverfahren wie Offset, Heliografie oder Mikrofilm, um Fragen von Macht und Herrschaft zu thematisieren.

Wie man eine scheinbar altertümliche Technik zur politischen Aufklärung verwenden kann, zeigen die beeindruckenden Arbeiten von Rafael Pagatini. Das Bild des brennenden VW-Käfers, das der brasilianische Künstler in seiner Arbeit „Manipulations – Manipulações“ (2016) auf hauchdünnes, japanisches Seidenpapier gedruckt hat, nimmt ein populäres Motiv aus der Zeit der Proteste gegen die brasilianische Militärdiktatur auf.

Ikone der Lüge: Rafael Pagatinis „Manipulações – Manipulations“, 2016, Holzschnitt auf Papier. Foto: Pagatini/Goethe-Institut Porto Alegre.

Die Regierung lancierte es damals in den Medien, um die Linke terroristischer Gewalttaten zu beschuldigen, die sie selbst instruiert hatte. Eine Ikone der Lüge und Manipulation, präsentiert mit der Aura der Authentizität der klassischen Druckästhetik auf einem Material, das sich im Laufe der Ausstellung zersetzt – so schärft Pagatini den Blick dafür, wie Politik, Geschichte und Erinnerung zusammen hängen.

Die vom Goethe-Institut in Porto Alegre initiierte Ausstellung ist ein Musterbeispiel sinnvoller Kulturkooperation: Sie nimmt eine lokale Tradition auf, legt seine interkulturellen Querverbindungen offen und weitet das Thema ins ästhetisch Grundsätzliche.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts gründeten nämlich in Rio Grande do Sul deutsche Einwanderer unzählige Druckclubs, die zum Vorbild ähnlicher Initiativen für kollektives künstlerisches Arbeiten in ganz Südamerika wurden.

Zeigte das Goethe-Institut vor zwei Jahren mit Hilfe des Berliner Kupferstichkabinetts historische Positionen der brasilianischen Druckkunst schließt der Diskurs nun in die Gegenwart auf. „Wir wollten die Zukunft der Reproduktion im digitalen Zeitalter diskutieren“, erklärt Institutsleiterin Marina Ludemann die Motive hinter ihrem ambitionierten Langzeitprojekt.

Dass Reproduktion inzwischen sogar etwas wie eine eigene Aura entwickeln kann, zeigt der Künstler Tim Berresheim. Er hat seine Serie von Zeichnungen „The Early Birds“ von 2012 in einen dreidimensionalen Bildraum überführt, den man mit einer App ansteuern kann.

Wenn man vor der großen Wand der zentralen Ausstellungshalle hinter der 3-D-Brille den Schnabel eines der riesigen Vögel direkt vor Augen hat, meint man, das „sonderbare Gespinst aus Raum und Zeit“ zu sehen, das schon Walter Benjamin faszinierte.

Ingo Arend

Bild ganz oben: Das Museu de Arte do Rio Grande do Sul in Porto Alegre (Margs), Landesmuseum des Bundesstaats Rio Grande do Sul, Ort der Ausstellung „O Poder da Multiplicação – Die Macht der Vervielfältigung“. | Foto: Goethe-Institut, Porto Alegre.

AUSSTELLUNG

Die Macht der Vervielfältigung – O Poder da Multiplicação.

Museu de Arte do Rio Grande do Sul.

Die Ausstellung wird vom 28. Februar bis zum 24. März 2019 in der Leipziger Baumwollspinnerei zu sehen sein.

Share

Viewing all 84 articles
Browse latest View live