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Der Code der vielarmigen Göttin Kali

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Backofenhitze, Beschleunigung, Zeichentransfer: Beobachtungen zum Alltag des internationalen Kulturaustauschs während der Künstler-Residency des Goethe-Instituts in Bangalore

 

Der Schlüssel passt nicht. Schrecksekunde kurz vor Mitternacht. Einen Moment schaut Saskia Groneberg verzweifelt: „Sind wir etwa im falschen Haus?“ Wir stehen in einer schummrig beleuchteten Sackgasse im Bangalorer Stadtteil Richmond Town: Dschungelhafte Vegetation ringsherum, gefühlte Temperatur: 40 Grad. Die Wohnungstür klemmt. Saskias „Host“ ist nicht da. Die Aussicht, ihr Stipendium auf der Straße antreten zu müssen, begeistert die Münchener Künstlerin nicht wirklich. Schließlich, der Taxi-Fahrer zieht kräftig, klappt es.

Türöffner – der erleichternde Moment beschreibt ganz gut, was das Residency-Programm des Goethe-Instituts in Indiens drittgrößter Stadt ausmacht. Denn das Apartment, in dem die 31-jährige die nächsten zwei Monate wohnen wird, gehört Naresh Narasimhan.

Der bekannte Architekt ist einer der wichtigsten Stadtplaner in Bangalore. Und wenn jemand etwas über Lalbagh, den Botanischen Garten der Stadt weiß, der Groneberg hierher gelockt hat, dann der leidenschaftliche Cineast und Kunstfreund, der das VW-Werk in Pune geplant hat und eine riesige Sammlung von Stadtplänen besitzt.

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Letzte Oase im Verkehrschaos: Der 7161 angelegte Lalbagh-Park in Bangalore. Foto: Ingo Arend

Zwei Mal zwölf Künstler lädt das Goethe-Institut jedes Jahr in die Hauptstadt des südindischen Bundestaats Karnataka ein. Und das „Host-Prinzip“ garantiert, dass sie nicht, wie bei so vielen Residencies, im Elfenbeinturm bleiben, sondern unter die Leute, in die Szene kommen.

Wir machen hier keine Schlüsselresidenzen, wo die Leute einen Apartmentschlüssel in die Hand gedrückt bekommen und ein paar Monate später hauen sie ab, ohne dass jemand etwas von ihnen mitbekommen hat“, sagt Instituts-Chef Christoph Bertrams, der das Programm 2011 entwickelt hat.

Ein Netz von 25 „Hosts“ hat der agile 60-Jährige, der in Kuba das Goethe-Institut und in Berlin das Goethe-Forum leitete, in Bangalore gewoben. Vom Stadtforscher bis zur Tänzerin hat er für jeden „Resident“ einen Ansprechpartner parat. Saskia wird also keine Zeit mit Networking verschwenden müssen.

Mit Nareshs Hilfe und dem seines großen Architektenbüros Venkataramanan Associates kann sie direkt damit loslegen, den Mythos von Bangalore als „Gartenstadt“ kritisch zu durchleuchten. „Auffällig viele Musliminnen hier“ bemerkt sie beim ersten Spaziergang in dem leicht verwahrlosten Lalbagh-Park auf, den Sultan Haider Ali 1760 in der Stadt anlegen ließ.

Am Abend erklärt ihr Suresk Jayaram, dass sich die Frauen der Religionsgemeinschaft, zu der sich gerade mal 14 Prozent der Bangalorer zählen, dort „sicher fühlen“. Der Künstler und Kurator hat das Visual Art Collectiv der Stadt mitbegründet.

Zur Begrüßung der neuen Stipendiaten hat er im verwinkelten Atelierhaus an der Shanti-Road ein kleines Buffet aufgebaut. Stolz verweist er darauf, dass in dieser „cosmopolitain community“ Künstler aus Indien gemeinsam mit solchen aus dem tödlich verfeindeten Pakistan ausstellen.

Bangalore, gut 1700 Kilometer südlich von Delhi auf dem Dekkan-Plateau gelegen, ist vielleicht nicht der Hotspot der Goethe-Künstlerresidenzen. Aus Künstlersicht hat die Stadt aber Vorteile. Hier muss sich niemand an einem Mythos abarbeiten, wie in Mumbai oder Kolkata.

In den letzten 15 Jahren ist die einstige Provinzstadt zu einer Megalopole angeschwollen, in der alle Widersprüche von Industrialisierung und Globalisierung zusammenschießen. Ihr Wucherwachstum verdankt das „Silicon Valley Indiens“ der Raumfahrt-, der Computertechnologie und dem IT-Boom.

Der Zustrom kreativer, prekärer Arbeitskräfte hat die Stadt ohne natürliche Standortvorteile – einen Bergs, Fluss oder einer Handelsroute – an den Rand des Kollapses geführt. Bangalore hat die höchste Motorraddichte und die höchste Suizidrate in Indien. Erst seit fünf Jahren existiert eine kleine Metro.

Dieser unwirtliche Moloch aus Müll, Armut und maroder Infrastruktur ist freilich das ideale Feld für Kreative jeden Genres: „Hier gibt es keine positive Mobilität“ befindet Bettina Lockemann, als wir uns mühsam den Weg entlang der 100-Feet-Road bahnen.

 

Bettler, Straßenhändler und Kühe versperren den Bürgersteig, Greisinnen in grellbunten Saris türmen mit bloßen Händen stinkenden Müll an die Bäume, eine Frau balanciert Brennholz auf dem Kopf, jeden Moment streift den Fußgänger eine der blechernen, gelb-grünen Rikschas, ohne die hier niemand durch das Verkehrschaos kommt.

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Ganz alltäglich: Straßenszene mit Kuh und Feuer in Bangalore. Foto: Ingo Arend

Ein Hup-Inferno liegt vom frühen Morgen bis weit nach Mitternacht über der smoggeschwängerten Metropole. Schon Mitte April klettern die Temperaturen auf knapp 40 Grad. „Hier ist alle Mobilität schmerzhaft“ sagt die Dokumentarfotografin und promovierte Kunstwissenschaftlerin aus Köln, die sich viel mit der Zukunft der Stadt und deren Wahrnehmung beschäftigt hat.

Irgendetwas mit Video wird es wohl werden“ erahnt sie ihr Projekt vage, als wir bei einem Obsthändler eine aufgeschlagene Kokosnuss ausschaben. Aber das wird sie noch mit ihren neuen Kollegen im IIHS, dem Indian Institute for Human Settlement, diskutieren – Lockemanns Host.

Tobias Daemgen vom Wuppertaler Kollektiv „RaumZeitPiraten“ ist noch ganz benommen vom Ortswechsel, der Geschwindigkeit und der Intensität der Stadt. Fasziniert betrachtet er, wie unkontrolliert sich die Natur in der Stadt Bahn bricht, Bäume und Sträucher durch jedes freie Mauerloch wuchern.

Die kritischen Urbanisten des Architekten-und Design-Startups „Jaaga“ sind seine Mentoren. Ob die Bangalorer wirklich etwas mit den Lichtinstallationen anfangen können, die er unter den, auf rohen Betonstelen über die Stadt gezogenen „Flyovers“, autobahnähnlichen Zubringern, platzieren will? „Ich bin mal gespannt, wie die hier mit öffentlichem Raum umgehen“ beschreibt er sein Experiment.

Wie genau ihre „performative Installation“ aussehen wird, mit der sie eine ihrer Inszenierungen indisch adaptieren wollen, wissen Robin Detje und Elisa Duca vom Berliner Theaterduo „bösediva“ dagegen noch nicht. Aber für die Verwandlung von Holz zu Fleisch und Zucker zu Glück dürften sie im Indien des wesenden Mülls und der Reikarnationslehren vermutlich Referenzen finden.

Wenn man den Code der Göttin Kali dafür entschlüsseln könnte, ohne es mit westlichem Blick auszubeuten, könnte es spannend werden“ umschreibt das Duo beim abendlichen Gespräch auf dem Balkon des Atelierhauses das Warten auf den Knackpunkt vermutlich jeder Residency – den Moment einer wechselseitigen Befruchtung der Kulturen.

Die vielarmige Göttin symbolisiert Erneuerung und Zerstörung. Auf dem Trümmergrundstück nebenan spielen Kinder um einen brennenden Scheiterhaufen, auf dem Abfall verbrannt wird.

Die Idee, den Zeichentransfer zwischen den Kulturen versuchsweise auf die Spitze zu treiben und das Goethe-Institut mit Hakenkreuzen zu überziehen, verwerfen wir lachend wieder. Den Kontextwechsel würde das Swastika-Symbol vermutlich nicht als der Glücksbringer überstehen, als den wir es beim Spaziergang in der Stadt auf Haustüren und Fußmatten finden.

Trotz des spirituellen Interesses – späte Hippies sind nicht nach Bangalore gepilgert. Wenn die Dresdner Künstlerin Anja Kempe verrät, dass sie hier gern „wegkommen will von meiner Rationalität“ klingt das eher wie ein abstraktes Echo der 70er-Jahre.

Und der Berliner Medienkünstler Wolfgang Spahn ist überhaupt nur nach Bangalore gekommen, weil die Computer-Nerds hier genau die analogen Computer nachbauen können, mit denen er seine fraktalen Klangkompositionen programmiert.

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Soll Glück bringen: Das Swastika-Symbol an einer Haustür in Bangalore. Foto: Ingo Arend

3500 Sprachschüler schleust das Bangalorer Goethe-Institut jedes Jahr durch seine Deutschkurse. Doch seine „bangaloREsidency“ promotet weder deutsche Kultur im Ausland, noch verschafft sie zivilisationsmüden Westkreativen eine ästhetische Frischzellenkur.

Das Programm ist kein Statussymbol wie ein Aufenthalt in der Villa Massimo in Rom, sie bedeutet weder Geld, noch Prestige. Sie demonstriert den unspektakulären, aber spannenden Alltag der Suche nach Interkulturalität – jenseits der Sonntagsreden von Außenministern und Kulturattachées.

Die Intensität, die Geschwindigkeit, den Zeichentsunami dabei muss man aushalten können. Saskia kennt das Indien-Gefühl noch aus der Zeit, als sie als Teenager mit ihren Eltern hier war. „Irgendwann will man nur noch weg“ erinnert sie sich während einer knatternden Rikscha-Fahrt in sengender Hitze, „und wenn man dann weg ist, vermisst man es.“

Ingo Arend

taz vom 22.4.2016

Bild ganz oben  CC BY-SA 3.0 Replica of a Gujhyakali idol worshipped in a Temple in Nepal, at a Kali Puja pandal at S. N. Banerjee Road, Kolkata. Author Arnab Dutta

 

WEBSITE 

bangaloREsidency

 

 

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Art Brussels 2016: Ende eines Anti-Markt-Experiments. Nach der 34. Ausgabe verlässt Katerina Gregos die Messe.

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Lässt sich der Markt zivilisieren? Auf diese – nicht nur für den Kunstbetrieb denkwürdige – Gretchenfrage lief es hinaus, als die Art Brussels 2012 Katerina Gregos zu ihrer Kuratorin erkor. Denn die griechischstämmige Kunsthistorikerin, Jahrgang 1967, lange beim unabhängigen Brüsseler Art-Space Argos, ist eine vehemente Kritikerin des Kunstmarkts.

In Interviews zog die Ausrichterin politisch engagierter Schauen und Biennalen gegen das Art-Flipping zu Felde. Und auch zum Auftakt der 34. Ausgabe der 1968 gegründeten Schau vergangene Woche geißelte sie ihn einmal mehr als geschichtsvergessen, geldgierig und verantwortungslos.

Dem versuchte die temperamentvolle Kunstliebhaberin in Brüssel von Anbeginn das Modell eines gezähmten Marktes entgegen zu setzen: Der Markt, der kritische Kunst fördert, Galerien fördert, die Künstler entwickeln helfen, statt schnelle Rendite erzielen wollen, sein Langzeitgedächtnis bewahrt, statt dem „hot shit“ von heute nachzujagen.

Gregos‘ nach diesen Prinzipen kuratierte und selektierte, gegenüber dem Vorjahr um 50 Galerien verkleinerte Schau mit 140 Händlern aus 28 Ländern im neuen Domizil der alten Lagerhallen des europäischen Postadels Thurn und Taxis im Nordwesten Brüssels mag mit ihren klassischen White-Cube-Boxen nicht besonders cool ausgesehen haben.

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1904 errichtete Lagerhalle Tour und Taxis – die neue Location der Art Brussels. Foto: Wikimedia

Doch das Angebot und konstant 30 Tausend Besucher sprachen wieder einmal für sich: Kaum irgendwo finden sich so kritische, ungewöhnliche Positionen: Nikita Kadans überzeugende Versuche etwa, für die Erfahrung von staatlicher Gewalt und Repression in seinem Heimatland Ukraine angemessene ästhetische Formen zu finden. (Galerie Transit, Mechelen).

Die Versuche der belgisch-amerikanischen Künstlerin Cécile Evans, mit ihren aufgebrochenen Serverboxen das Verhältnis des Menschen zur digitalen Lebenswelt auszuloten (Galerie Sailer, Zürich). Oder die Bilder Taysir Batnijis (Galerie Eric Dupont, Paris). Der palästinensische Künstler hatte im Gaza-Krieg von den Israelis zerstörte Häuser seiner Landsleute von einem Freund fotografieren lassen und sie im Stil einer Real-Estate-Anzeige zum Verkauf angeboten.

Batnijs Waffengurt, in dem statt Patronen angespitzte Bleistifte eingelassen sind, sind ein Bild für seine Beschränkung als Künstler, der nicht in seine Heimat zurück kann und ein Sinnbild für die Kunst als Waffe gegen den Krieg.

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Taysir Batnijis Arbeit „Untitled“ am Stand der Galerie Eric Dupont. Foto: Ingo Arend

Kurzum: Wenn man nach Beispielen sucht, wie sich die allgemeine Müdigkeit über die von Gregis wiederholt gegeißelte, erwartbare „Art-Fair-Art“ bekämpfen kann, dann bei den von ihr kuratierten Messen.

Die Praxis, dem kritisch beäugten Kunstmarkt neue Legitimität dadurch zu verschaffen, dass Non-Profit-Art-Spaces eingeladen werden, verfolgt natürlich auch die Art Brussels. In Brüssel waren es in diesem Jahr acht. Doch auf welcher Kunstmesse weltweit findet man eine Abteilung wie „Rediscovery“ – Soloshows von ins kunsthistorische Abseits geratenen KünstlerInnen der Jahre 1917 – 1987?

Natürlich lässt sich immer argumentieren, mit solchen Strategien verschafft man dem kritisierten Markt nur eine neue Legitimation dergestalt, dass man helfe, im auch noch die peripheren und kritischen Potentiale einzuverleiben. Aber den Versuch war es auf jeden Fall wert.

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Das Vanderborght-Building, Standort der neuen Independent-Messe in der Brüsseler Innenstadt. Foto: Ingo Arend

Mit insgesamt 14 Präsentationen, etwa des Lebenswerks der österreichischen Künstlerin Renate Bertlmann (Galerie Steinek, Wien) oder des amerikanischen Fotografen und Regisseurs Gordon Parks (Jenkins Johnson Gallery, San Francisco, New York) versuchte die Messe, die drei Kardinalprobleme des Kunstmarktes: „Ageism, Presentism and Amnesia“ zu konterkarieren.

Bertlmann, Jahrgang 1943, visualisiert mit Hilfe von Gummi, Latex oder Messern alle Fragen von Sexualität, Gewalt und Tod in einem an Louise Borgeois erinnernden Oeuvre. Und die Bilder des amerikanischen Künstlers, der auch Schauspieler war und Filmmusik komponierte, geben ein schockierendes Zeugnis der US-Rassentrennungspolitik im Alltag der fünfziger und sechziger Jahre.

Mühelos stellte Gregos mit ihrem derart durchdachten Format die studentisch angehauchte Alternativmesse „poppositions“ in den Schatten, die ihre zweite Ausgabe wegen ihres Standorts im Problembezirk Molenbeek „The Wrong Side“ genannt hatte.

Mit einer intimen Schau von Kunstwerken, die Künstler ihrem Freund und Förderer Jan Hoet zugedacht hatten, zollte Gregos – neben der Kunstmarktkritik dann wieder dem Tribut, was eine Messe ausmacht: Die Beziehung Sammler-Künstler. Dafür konnte sie auf die Sammlung des 2004 verstorbenen Kurators Jan Hoet zurückgreifen.

Neben Bildern mit Joseph Beuys, einem oder dem als Collage gestalteten Dankesbrief von Studenten, die Hoet in einer Kunsthochschule unterrichtet hatte, bezauberte hier besonders ein dunkelfarbiges Portraitfoto Hoets von Marlene Dumas.

Paradigmatischer und problematischer war, dass in dem historischen Vanderborght- Kaufhaus in der Brüsseler Innenstadt mit der „Independents“ eine trendige Pilotmesse, erster europäischer Ableger des 2010 gegründeten New Yorker Netzwerks umd Laura Mitterand, die langjährige Aufbauarbeit der Art Brussels auszubeuten versuchte. 72 Galerien von Aurel Scheibler (Berlin) bis David Zwirner (New York) konnten nur auf Einladung (des Netzwerks) teilnehmen.

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Eingang zur 2. „poppositions“-Fair im Brüsseler Stadtteil Molenbeek. Foto: Ingo Arend

Die „Independent“-Exponate waren zwar hochwertig, sahen mit wenigen Ausnahmen aber doch wie die „Siegerkunst“ aus, die der Kunstpublizist Wolfgang Ullrich jüngst beschrieben hatte. Paradoxe Dialektik: Auch ein Anti-Markt-Experiment kann einen mittleren Kunst-Standort wie die europäische Hauptstadt so attraktiv machen, dass der „normale“ Markt Blut leckt.

Vielleicht hat Gregos deswegen das Handtuch geworfen. Eine neue Kuratorin für 2017 wollte Anne Vierstraete, die Direktorin der Art Brussels, noch nicht benennen. Welche Person auch immer es sein wird, sie tritt ein schweres, weil anspruchsvolles Erbe an. Die Art Brussels ist das bemerkenswerte Beispiel einer Messe von regionalem und kulturpolitischem Eigensinn, das fortgeführt werden sollte.

Bleibt zu hoffen, dass es nach der immer erfolgreicheren Ausweitung der Kunstmarktzone nun nicht auch noch in Brüssel zu der „highbrow-gentrification“ kommt, die Katerina Gregos zur Eröffnung angeprangert hatte. „Brussels is not the new Berlin“, rief sie so abwehrend wie trotzig. Wir wollen es nur zu gerne glauben.

Ingo Arend

Bild ganz oben: Flo Kasearus neue Arbeit „International Fun“ am Stand der Galerie Temnikova und Kasela.
Foto: Ingo Arend

WEBSEITEN

ART BRUSSELS

INDEPENDENT BRUSSELS

POPPOSITIONS 2016

 

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Düstere Aussichten am Bosporus: Ein Türkei-Sammelband beleuchtet Themen, die im politischen Diskurs zu kurz kommen.

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In diesem Land ist alles möglich. Ein Sammelband zu Politik und Kultur der Türkei zeichnet eher düstere Aussichten für die Demokratieentwicklung am Bosporus.

Wohin driftet die Türkei? Kaum ein Thema treibt Europa derzeit mehr um als die Lage am Bosporus. Ist das Land auf dem Weg zur Diktatur? Ist es schon eine Art Faschismus? Oder plant das Regime Erdogan eine Islamische Republik? Parlamentspräsident Ismail Kahraman nährte kürzlich diesen Verdacht, als er befand, für den Säkularismus des Staatsgründers Atatürk sei „kein Platz“ mehr in einer neuen Verfassung.

Diese ordnungspolitische Gretchenfrage können auch die 16 Beiträger des Sammelbandes „Türkei“ nicht endgültig lösen. Obwohl ihre Essays, Vorträge einer Ringvorlesung am Vienna Institute for Dialogue and Cooperation (VIDC), die der Osnabrücker Politologe Ilker Ataç und der Wiener Migrationsfroscher Michael Fanizadeh in dem Buch vereint haben, die Frage durchzieht, ob sich in dem Land „eine neue Form autoritärer Staatlichkeit“ entwickelt habe.

Das liegt daran, dass manche Texte – wiewohl überarbeitet – mehr als vier Jahre zurück liegen. Erdogan war damals noch Ministerpräsident, die politische Polarisierung im Land nicht derart fortgeschritten. Kein Wunder, dass sich manche Analysten in Formeln wie: „Die Türkei ist ein schwieriges Land“ oder „Wir müssen im Kopf behalten, dass wir in einer Region leben, in der alles passieren kann“ flüchten.

Immerhin beleuchten sie Themen, die im öffentlichen Diskurs zu kurz kommen: Die kurdische Frauenbewegung, Flüchtlinge in der Türkei oder die Schattenseiten des türkischen Wirtschaftswunders. Und sie arbeiten die langen politischen Zyklen des Landes heraus. Für den Historiker Rober Koptaş beispielsweise, Nachfolger des 2007 ermordeten Hrant Dink als Chefredakteur der türkisch-armenischen Zeitschrift „Agos“, ist die Frage nicht neu.

Von der autokratischen Herrschaft Atatürks bis zur autoritären Entartung der Regierung des ersten frei gewählten, islamischen Ministerpräsidenten Menderes 1950, spricht viel für sein nüchternes Fazit, dass „die Türkei nie ein sehr demokratisches Land gewesen“ sei, sondern bis zum 2. Weltkrieg ein „in sich geschlossenes Land mit autoritären Zügen“.

Der Politikprofessor Yüksel Takşin von der Istanbuler Marmara-Universität dürfte die aktuelle Situation noch am treffendsten auf den Punkt gebracht haben, wenn er auf einen „kompetitiven Autoritarismus“ erkennt. Dessen Merkmale seien einigermaßen freie Wahlen und die Konkurrenz mehrerer Parteien bei gleichzeitiger Formierung des Staats-, Justiz- und Sicherheitsapparats.

Die Frage ist nur, wie wird man diese Herrschaftsform endlich los? Takşins Hoffnung, die Türkei besitze genügend „akkumulierte Weisheit“, um eine „weitere Form des Autoritarismus zu überwinden“, dürfte bezweifeln, wer sieht, wie die Gezi-Bewegung, deren Erfolge die Politologin Demet Dinler bilanziert, darnieder liegt.

Dass gerade ein „Universum voller Zwänge, die von einer monopolitischen Macht auferlegt werden“ den „Geist des Anti-Autoritarismus“ stärken könne, wie die Soziologin Pinar Selek mit Verweis auf den paradoxen Boom der türkischen Frauenbewegung nach dem Militärputsch von 1982 behauptet, ist da vorerst nicht viel mehr als ein sehr theoretischer Hoffnungsstreifen am Horizont.

Noch ferner dürfte die Möglichkeit liegen, dass sich die neomuslimische Bourgeoisie in einer Ära nach Erdoğan auf das Wagnis eines „neuen, demokratischen, multikulturellen und pluralistischen Gesellschaftsvertrags“ einlässt, wie es Koptaş hofft.

Zumal der Kern einer neuen demokratischen Politik in der Türkei nicht allein der Widerstand gegen politische Repression ist, sondern eine kulturelle Aufgabe: Die „Transformation der Idee des (ethnisch homogenen, IA) Türkischseins“ nämlich, die der Istanbuler Soziologe Bülent Küçük von der Boğaziçi-Universität skizziert. Mit diesem Gründungsdogma der Republik rechtfertigten noch fast alle Regierungen die Verfolgung von Kurden wie Oppositionellen.

Angesichts des Teufelskreises aus der „Schwarzen Propaganda“ der Regierung gegen Journalisten und Intellektuelle und der Selbstzensur unter den Betroffenen, die die Journalistin Ece Temelkuran beschreibt, dürften die Bedingungen für einen derart tiefgreifenden, psychosozialen Bewusstseinswandel sogar noch düsterer geworden sein.

Ingo Arend

Bild: CC 3.0 Flag-map of Turkey Darwinek

Veröffentlicht in: taz vom 21.5.2016

 

Türkei. Kontinuitäten, Veränderungen, Tabus

Herausgegeben von Ilker Ataç, Michael Fanizadeh, VIDC.

Mandelbaum-Verlag, Wien 2016,

206 Seiten, 12, 80 Euro

 

 

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Türkei: Das Kulturfestival Cappadox in der zentralanatolischen Provinz zeigt den Selbstbehauptungswillen der unabhängigen Kulturszene am Vorabend der Diktatur.

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Gartenarbeit im Land der Löwen

 

Tomaten, Gurken, Salat. 1500 Jahre lang wurde im Schatten der alten byzantinischen Stadtmauern Istanbuls Gemüse gezogen. Doch eines Tages fiel auch dieses uralte Kulturgut der Bauwut des Recep Tayyip Erdoğan zum Opfer. Im August 2013 kamen die Bagger und pflügten das Weltkulturerbe um.

Wer an das brutale Ende der berühmten Osmanischen Gärten zurückdenkt, dem kommt es plötzlich weniger seltsam vor, dass das 2. Cappadox-Festival vergangenes Wochenende im türkischen Uchisar unter dem Titel „Let us cultivate our garden“ stattfand.

Der Aufruf zur beschaulichen Gartenpflege, den eines der schönsten türkischen Kulturfestivals drei Tage lang in der historischen Kleinstadt Uchisar, im zentralanatolischen Kappadokien, zelebrierte, war nämlich alles andere als unpolitisch.

Zu verdanken hat die 1000-Seelen-Gemeinde, 80 Kilometer westlich von Kayseri, das private Festival den Brüdern Ahmet und Mehmet Uluğ. In ihrem Willen, die Türkei mit moderner Musik zu beglücken, steht das Ende der 50er Jahre geborene Brüderpaar in der Tradition kultureller Entrepreneure wie Ahmet Ertegün, dem Begründer des Jazz- und Soullabels Atlantic Records.

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Nilbar Güreş’ Arbeit “Back to Back” im Red Valley in Kappadokien. Im Hintergrund Ayşe Erkmens Arbeit “Prize”. Foto: Ingo Arend

Ihr Erweckungserlebnis hatte die beiden Ende der 80er-Jahre in den USA bei einem Konzert der legendären Jazztruppe Sun Ra. Sie gaben ihr Ingenieurstudium auf, kehrten nach Istanbul zurück und gründeten mit Pozitif den inzwischen größten türkischen Musikprovider.

Ihre 1999 eröffnete Discothek Babylon und das Plattenlabel Doublemoon sind noch heute mythische Größen der türkischen Popszene. Kein Wunder, dass Sun Ra auch bei der zweiten Ausgabe des Festivals wieder zu den Ehrengästen zählte.

Hunderte jubelten der Avantgarde-Truppe mit ihrem 92jährigen Frontman beim nächtlichen Konzert vor der Kulisse des 60 Meter hohen, von Gängen und Höhlen durchklüfteten Tuffsteinfelsens zu, dem Wahrzeichen Uchisars.

Cappadox mag der Vision zweier Musikfanatiker zu verdanken sein, die einzigartige Kulisse der prähistorischen, bizarr erodierten Vulkanlandschaft Kappadokiens für ein progressives Kunsterlebnis zu nutzen – vom Wein-Tasting über Yoga-Kurse bis zum temporären, alternativen Stadtteilcafé.

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Live-Konzert des türkischen Popstars Mercan Dede im Red Valley von Kappadokien. Foto: Ingo Arend

Wie gut das funktionierte, zeigte sich beim frühmorgendlichen Open-Air-Konzert des türkischen Popstars Mercan Dede. Auf einem Plateau Im Kızılçukur Vadisi, dem „Red Valley“ Kappadokiens, ging die Sonne auf, die riesigen bunten Ballons, mit denen die Touristen Kappadokien überfliegen, stiegen in die Höhe, im Hintergrund glühten die Berge blutorangerot. Da geriet Dedes Fusion-Sound aus Ambient- und Sufi-Klängen zu einer sphärischen Meditation.

Gegen derlei Synästhesien kam der Kunst-Pfad, den Fulya Erdemci und Kevser Güler auf dem gleichen Gelände kuratiert hatten, nur schwer an. Zwölf KünstlerInnen widmeten sich mit leider allzu viel Respekt vor der Natur dem Festival-Motto „Let us cultivate our Garden“.

Das Künstlerpaar Fuat und Murat Şahinler ließ ein Stück Erde „atmen“. Hera Büyüktasçiyans erinnerte mit einer Bodenskulptur an die Tradition des kappadokischen Weinanbaus. Einzig Ayşe Erkmen und Nilbar Güreş gelang die Gratwanderung zwischen biologisch-organischer Demut und ästhetischem Darstellungswillen.

Erkmen hatte einem der charakteristisch phallischen Tuffstein-Kamine ein Piercing in Form eines roten Gummikreises verpasst – markantes Symbol des Gegensatzes von Kultur und Natur. Güreş setzte mit dem Figurenpaar einer Gazelle und eines Löwen der schamanistischen Kultur der oft als „unislamisch“ angefeindeten Aleviten ein Friedens-Denkmal.

Der Rückzug in die Provinz sagt etwas über die Defensive aus, in der die türkische Kulturszene agiert. In Istanbul verschärft die Zensur ihre Gangart. Mit einem Ausflug aufs Land kann man sich der angespannten Lage dort ein paar Tage entziehen.

Nicht nur die Kinder von Gezi haben sich in lokale Initiativen abgesetzt. Auch viele Intellektuelle und Künstler, so war in Uchisar zu hören, kaufen sich derzeit Häuser im Landesinneren oder an der Ägäis. Dort wollen sie abwarten, bis sich der Erdogan-Tsunami verzogen hat.

Dennoch ist das eindrucksvoll bespielte, hervorragend organisierte, ausgerechnet vom nationalistischen MHP-Bürgermeister der Stadt unterstützte Festival ein Beleg dafür, wie die unabhängige Kunstszene ihre Spielräume nutzt.

„Natürlich ist die Lage bedrückend im Moment“ gesteht Festivalgründer Ahmet Uluğ im Gespräch mit der „taz“, „aber sollen wir etwa die Hände in den Schoss legen und warten, dass alles schlimmer wird?“

In der Provinz ist man weniger schnell im Fokus der Regierung. „Escape from Hell“, die neueste Arbeit, die der Politkunst-Star Halil Altındere in Uchisar uraufführte, hätte in Istanbul vermutlich direkt die Polizei auf den Plan gerufen. In dem zehnminütigen Streifen nutzt der 1971 geborene Künstler die surreale Landschaft Kappadokiens für ein Zukunftsbild der Türkei als Dystopie.

Eine Drohne schwebt durch die im Winter vereiste Stadt. Darüber schwebt eine, vom Wind bewegte Fahne mit dem Porträt des grimmigen Präsidenten. Dieser Herrscher, dämmert es dem Betrachter, steht über allen, sieht alles, überwacht alles. Aber er regiert ein menschenleeres Land.

Mit Nadelstichen wie Altınderes Arbeit bestellte das heitere Kommerz-Festival Cappadox den Boden der Kritik. Aber in einem Land, dessen Präsident allen die Faust zeigt, die „ein Land der Löwen zu vegetarischer Diät zwingen wollen“, wird die Gartenpflege eben zwangsläufig zu einem Akt des Widerstands.

Ingo Arend

Veröffentlicht in: taz vom 27.05.2016

Bild ganz oben: Live Konzert des Sun Ra-Orchesters beim Cappadox-Festival in Uchisar. Foto: Ingo Arend

 

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Die 9. Berlin-Biennale für zeitgenössische Kunst: (K)ein Sturz ins Bodenlose.

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Auf der 9. Berlin-Biennale will das Künstlerkollektiv DIS mal wieder E und U versöhnen. Landet aber oft in der Kreativwirtschaft.

 

Jakob-Mierscheid-Steg. Gerade mal hundert Meter lang ist die schmale Brücke, die das Marie-Lüders-Haus im Berliner Regierungsviertel mit dem Hans-Löbe-Haus verbindet. In luftiger Höhe über dem Spreebogen können die Abgeordneten zwischen den zwei Parlamentsgebäuden wechseln.

Man wundert sich, dass das New Yorker Künstlerkollektiv DIS die filigrane Brücke nicht zu einem der Ausstellungsorte der 9. Berlin-Biennale gemacht hat, die gestern ihre Tore öffnete. Nicht nur, weil der kleine Steg direkt über einem Fährboot auf der Spree, einem der Ausstellungsorte, schwebt. Er belegt auch ihre kritische Analyse, wie sehr die Gegenwart inzwischen „dem Beharren auf Fiktionen entsprungen“ ist.

Ein real existierendes Bauwerk ist nach einem fiktiven Abgeordneten benannt, der sich per Pressemitteilung zu Wort meldete. Erfunden wurde Jakob Mierscheid freilich schon 1979 in Bonn. Weswegen die DIS-Erkenntnis nicht wirklich neu ist. Die Macht der Fiktionen beginnt nicht erst mit dem Netz – Dreh- und Angelpunkt der Post-Internet-Art, die Lauren Boyle, Solomon Chase, Marco Roso und David Toro in den Mittelpunkt ihrer Schau gestellt haben.

So ergeht es einem oft auf dieser Biennale. Das DIS-Quartett schüttet ein Füllhorn cooler Thesen aus, wie der „Post-Gegenwart“, der „Paradoxie des Virtuellen als Realen“ und dem „Universellen, das in eine Vielzahl von Unterschieden aufgesplittert“ ist. Ganz so „breaking“ sind sie dann doch nicht. Und ihre Spiegelung in der Kunst fällt eher mau aus.

Das plötzliche Gefühl des Sturzes ins Bodenlose beispielsweise, wenn man auf der Dachterrasse der Akademie der Künste am Pariser Platz das Headset aufsetzt und in die 3D-Animation des kanadischen Künstlers Jon Rafman eintaucht, erfährt man weniger als heilsame „Kollision zwischen Fiktion und Wirklichkeit“. Eher fühlt man sich in ein Proseminar über Virtuelle Realität im Kunstgeschichtsstudium der 90er Jahre zurückversetzt.

Für DIS sind Kunst und ihr kommerzielles Gegenteil heute nicht mehr zu trennen. Am überzeugendsten fällt ihr Versuch, „die Betrachter über die kommerzielle Oberfläche so anzusprechen, dass sie sich veranlasst fühlen, sich kritisch mit der dahinter verborgenen Problematik auseinanderzusetzen“ – so erklärten sie es in einem Interview – in den „Lichtkästen“ im Eingang der Akademie der Künste aus.

13 Künstler von Will Benedict bis Stewart Uoo präsentieren seltsame Hybride aus Werbung und Surrealismus: Ein Alien, ein brennender Hut. Umringt ist der furiose Biennale-Auftakt, der das Labyrinth des Akademiegebäudes kongenial bespielt, von Schaufensterpuppen mit verdrehten Gliedmaßen, die ebenso gut aus einem Luxus- wie einem Fetischshop stammen könnten.

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Nicolás Fernández: Everything needs its own absence, 2014 –15 (Öl auf Leinwand) – Courtesy Nicolás Fernández

Zu einer wirklich genuinen Ästhetik haben sich die neuen, populären, digital erzeugten und die alten, analogen Bildwelten aber noch nicht fusioniert. Es sei denn, man betrachtet Nicolás Fernández‘ Ölbild „Everything needs it’s own absence“ – das einzige in der ganzen Biennale – als solche. Das Vorbild für die nackte Frau im Kopfstand, an deren Brust ein am Boden sitzender Säugling trinkt, stammt von dem viral verbreiteten Foto einer Yogalehrerin.

„Homeland“, das rasante neue Video des türkischen Polit-Künstlers Halil Altındere, bei dem der Berliner Rapper Mohammad Abu Hajar den Fluchtweg von Syrien bis zum Kreuzberger Oranienplatz rappt, wirkt in dieser Mischkulisse aus Kommerz und Kunst wie ein Fremdkörper.

Der DIS-Versuch, E und U mittels „horizontal approach“ zu versöhnen, Kunst, Musik und Mode friedlich „koexistieren“ zu lassen, treibt bisweilen seltsame Blüten. Etwa in der „Comfort zone“ des amerikanischen Designers und Architekten Shawn Maximo in einem Zwischengeschoß der Kunstwerke in der Auguststraße.

Die Abhänglounge mit Sitzkissen, Wandbildschirm und Fototapete von hyperrealer Welten ist eine Unisex-Toilette. Auf einer schmalen Rinne können Männer wie Frauen ihre Notdurft verrichten. Und sich dabei wohlfühlen. Womit der globale Toilettenstreit ein für alle Mal entschärft sein dürfte. Der Name des Sponsors der Armaturen für diesen „Hybrid zwischen Innen- und Außenraum“ ist gut zu lesen. Was hätte Jakob Mierscheid zu dieser Spitzenleistung der Kreativindustrie gesagt?

Ingo Arend

Veröffentlicht in: taz vom 4.6.2016

Bild oben: DIS, kuratorisches Team der 9. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst / Foto: Sabine Reitmaier

 

Die 9. Berlin Biennale öffnet vom 4. Juni bis 18. September 2016 für das Publikum an verschiedenen Orten in Berlin. Mehr Informationen gibt es bald hier sowie auf FacebookTwitter und Instagram.

 

The Present in Drag. Berlin-Biennale for Contemporary Art. 4.6.–18.9.2016. Katalog, Distanz-Verlag, 16 E

 

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Die 9. Berlin-Biennale für zeitgenössische Kunst: Unterminierst Du schon oder imitierst Du noch?

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Die 9. Berlin-Biennale versucht sich an einer Wiederauflage der Strategie der kritischen Affirmation. Und landet im Fitness-Center

 

„Kann mir jemand den Humor Witz erklären?“ Der neuseeländische Kurator ist genervt. Gerade hat er die Bandenwerbung der 9. Berlin-Biennale passiert. „Why should fascists have all the fun“ ist da auf einer Fahne am Außengebäude der Kunst-Werke in der Auguststraße auf leuchtend blauem Grund zu lesen. „Aber ich will deren Spaß gar nicht“, postet er empört auf Facebook. „Ich will die Welt retten.”

DIS, das vierköpfige, amerikanische Kuratorenteam der Biennale dürfte sich vermutlich gefreut haben über die Reaktion des Kunstbetrieblers. „Statt Vorträge über Ängste abzuhalten, lasst uns die Leute erschrecken“ schreiben sie im kuratorischen Statement ihrer Show – Schocktherapie geglückt.

Der ausländische Kurator war freilich nicht der einzige, der den Kopf schüttelte ob des Pseudo-Jokes. Manche fühlten sich daran erinnert, wie Artur Zmijewski, Künstler-Kurator wie DIS, zur 7. Biennale 2012 statt zum kritischen Appropriateur unfreiwilliger Wiedergänger der Nazi-Ästhetik wurde, als er im ehemaligen jüdischen Scheunenviertel um die Auguststraße Schaufenster weiß malen ließ, um an die Arisierungspolitik des „3.Reichs“ zu erinnern.

Jedenfalls: Die verunglückte Komik diesmal ist so bewusst gesetzt wie symptomatisch. Sie kokettiert mit dem Gegenteil der Kunst. Das, in blauen römischen Ziffern, stilisierte „IX“-Symbol der Schau kommt wie ein Hochglanz-Firmenlogo daher. Alle Ausstellungsorte sind mit den Bildern keimfreier Business-People wie aus einem Bank-Prospekt tapeziert.

Nehmen wir versuchsweise an, das Kuratoren-Kleeblatt wollte damit nicht für die Dienstleistungsindustrie werben. Das hieße wohl, dass ihre Corporate Identity den Modus der „kritischen“ oder „subversiven Affirmation“ (SA) aufruft. Sie soll signalisieren: Wir sehen vielleicht aus wie die Deutsche Bank. Aber hey, wir unterminieren sie und ihre Ideologie, indem wir sie imitieren.

Vergessen wir für einen Moment, dass das kein neuer Ansatz ist. Biennalen sind dennoch der Ort für Versuche, Altbewährtes auf neue Verhältnisse wie die, in virtueller Knechtschaft liegende „Post-Gegenwart“ anzuwenden, die DIS entdeckt hat. Nur leider geht diese Strategie nicht so recht auf.

Nicht, dass es – wie bei jeder problematischen Biennale – nicht auch schöne Arbeiten zu sehen gäbe. Etwa Hito Steyerls ungewohnt surreale Videoarbeit „Stairway to chaos“ im Keller der Akademie der Künste über Saddam Husseins Versuch, den Turm zu Babel zu restaurieren.

Simon Fujiwaras „Happy Museum“ der deutschen Glücksfetische vom Spargel bis zur Kinderschokolade. Simon Dennys, im ehemaligen DDR-Staatsratsgebäude – heute Sitz der European School of Management and Technology – kongenial platzierte Arbeit über virtuelle Währungen.

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9. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst (4.6.–18.9.2016) / Simon Fujiwara – Installationsansicht / The Happy Museum, 2016 – Beratung Daniel Fujiwara – Courtesy Simon Fujiwara Foto: Timo Ohler

Entweder fehlt die für das SA-Konzept überlebensnotwendige Ironie. Anna Uddenbergs Skulptur einer auf dem Rücken liegenden Frau, die sich ihre Scham mit dem Smartphone bespiegelt beispielsweise, spießt die contemporane Selfie-Manie mit plattestem Brutalsarkasmus auf.

Oder sie wechseln gleich ins Dienstleistungslager. Auch wenn es ein Vorteil des DIS-Konzepts der verschwimmenden Grenzen zwischen Kunst und Kommerz ist, die sozialökologischen Impulse der allerjüngsten Kreativindustrie sichtbar zu machen.

An Nik Kosmas‘ Fitnessgeräten in der Akademie können Besucher für 10 Euro ein „Open Workout“ buchen. Sollen sie hier den Irrwitz der in unzähligen Texten befeindeten, neoliberalen „Selbstoptimierung“ auszuschwitzen? Irgendwie fehlt der Affirmationsidee dieser Biennale das subtile Moment, das sie ins wirklich Subversive wendet.

„It’s a start up!“ versuchte Christopher Kulendran Thomas Besucher von seiner postnationalen Erlebnis-Suite „New Eelam“ zu überzeugen. Warum sammelt er dafür dann nicht auf einer Design-Messe? Hatten die DIS-ler sich nicht in Interviews zu „Kindern des Börsen-Crashs“ von 2008 stilisiert?

So unterläuft diese Biennale ihre eigenen Ansprüche. In Umkehrung eines abgenutzten Axioms ließe sich bilanzieren, dass ihre materielle Basis oft nicht hält, was der rhetorische Überbau verspricht.

Die DIS-Biennale wirkt wie dere, ins Dreidimensionale entlassene, Website „DIS Magazine“. Gegen diese delirierende Lounge aus Kunst und Werbung, Lifestyle und Kreativindustrie, samt Ökosaft-Bar und Aufsichts-Uniformen, gegen Kritik immunisiert mit diversen Politintarsien, waren Laibach oder Jonathan Meese raffinierter.

Wehmütig denkt man an Christoph Schlingensiefs Aktion „Ausländer raus“ vor 16 Jahren auf den Wiener Festwochen. Und wer gern virtuos zwischen Scheinwelt und Realität switchen will, könnte sich an einen Film aus dem Jahr 1999 erinnern. Mit einer „Matrix“-Biennale-Form hätten wir womöglich echten Fun.

Ingo Arend

erschienen in taz vom 6.6.2016

Bilder: 9. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst (4.6.–18.9.2016) / Simon Fujiwara – Installationsansicht / The Happy Museum, 2016 – Beratung Daniel Fujiwara – Courtesy Simon Fujiwara Foto: Timo Ohler

Die 9. Berlin Biennale öffnet vom 4. Juni bis 18. September 2016 für das Publikum an verschiedenen Orten in Berlin. Mehr Informationen gibt es bald hier sowie auf FacebookTwitter und Instagram.

The Present in Drag. Berlin-Biennale for Contemporary Art. 4.6. –18.9.2016. Katalog, Distanz-Verlag, 16 E

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Minimal-Shit am Zürich-See

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Die 11. Manifesta scheitert an ihrem Versuch, das Phänomen Arbeit zu durchleuchten

 

Waschmittel, Sonnenbrillen, Staubsauger. Shopping-Fluchten nennen die Schweizer den kleinen Grenzverkehr zwischen Orten wie Kreuzlingen und Konstanz. Dann kaufen die Eidgenossen Dinge des täglichen Bedarfs im billigeren Deutschland.

Ein Heer eilfertiger Dienstleistern versorgt sie mit Rechnungen, mit denen sie den Zoll umgehen können. Seit die Schweizer Zentralbank den festen Frankenkurs aufhob, hat dieser Nottourismus beachtliche Ausmaße angenommen.

In Krisenzeiten wie derzeit in Europa blühen die informellen Ökonomien. Dann tun Menschen einiges für Geld, was sie sonst nicht tun würden. Doch dieser Aspekt von Arbeit wird nicht verhandelt auf der 11. Manifesta, die vergangene Woche in Zürich begann. Stattdessen können Besucher ihren Hund frisieren lassen. Der belgische Künstler Guillaume Bijl hat dessen Geschäft in eine Kunstgalerie verlegt.

What people do for money. Some joint ventures“, das Motto, das sich Kurator Christian Jankowski für die europäische Wanderbiennale ausgedacht hatte, klingt wunderbar doppeldeutig. Wer denkt nicht sofort an Slogans wie „Sie waren jung und brauchten das Geld“?

30 KollegInnen hatte der Berliner Konzeptkünstler, Jahrgang 1968, zu einer ästhetischen Kooperation mit einem lokalen „Host“ aus allen Berufssparten eingeladen. Und wer die 30 „Satelliten“ der Manifesta abklappert, die aus diesen „Joint ventures“ hervorgingen, lernt die Stadt vom bürgerlichen Villenviertel am Stadtrand bis zum Rotlichtviertel in der City durchaus näher kennen als beim Wochenendtrip. Ihre ästhetischen Ergebnisse sind freilich enttäuschend banal ausgefallen.

Für die Erkenntnis, dass es etwas mit Angst zu tun haben könnte, wenn Zahnärzte Löcher in unschöne Zähne bohren, hätten wir nicht in die Praxis der Dentisten Heller Kübler Truninger in die Stadelhofer Straße kommen müssen. Dieses Signum verpasste der norwegische Fotograf Torbjørn Rødland seinen Bildern aufgesperrter Münder.

Ein riesiger Stapel

Der Maxime, die Realität zu verdoppeln, statt sie zu brechen oder zu hinterfragen, huldigt auch Michel Houellebecq. Am Empfang der, einem Luxushotel zum Verwechseln ähnelnden Privatklinik Hirslanden beispielsweise liegen vier DIN A4 Blätter mit wissenschaftlichen Tabellen kommentarlos auf einem riesigen Stapel.

Kurator Jankowski erklärte die Ergebnisse des schon im Vorfeld werbewirksam hochgejazzten Gesundheitschecks des französischen Schriftstellers zur „Skulptur“. Über die körperliche Verfassung des Maestro oder die Arbeit seines Arztes Henry Perschak sagt sie dem Laien nichts.

Ein Koch, ein Feuerwehrmann, Übersetzer – die Liste der Berufe ist lang. Ausgerechnet für eine, für die Schweiz essentielle Profession interessierte sich die griechische Künstlerin Georgia Sagri dann aber nur peripher. In dem Video über eine Anlageberaterin der Privatbank Julius Bär interessiert sie sich nur für deren Habitus: Gesten, Körpersprache, Bewegungsrhythmen.

Der selten gewährte Blick in das diskrete Bankhaus an der teuren Bahnhofsstraße ist da fast aufschlussreicher. Die Liste der Arbeiten aus dieser Kategorie des halbherzigen Realismus ließe sich verlängern.

August Sanders schöne Fotografie eines Goldschmieds von 1926 hilft auch nicht weiter. Die Parallelschau im Löwenbräu-Areal ist viel zu zufällig zusammengestellt, als das sie das Phänomen Arbeit historisch vertiefen könnte.

An dieser Bilanz änderte auch eine der wenigen, geglückten Werke nichts. Der amerikanische Künstler Mike Bouchet hat alle Exkremente, die die Bewohner Zürichs am 24. März 2016 durch die Toiletten der Stadt ausgespült haben, zu kackbraunen Quadern verdichtet. Die 80 Tonnen schwere Minimal-Shit-Skulptur vermittelt eine Ahnung von der täglichen unsichtbaren Arbeit in Zürichs Untergrund.

Die 1993 gegründete Manifesta hatte Europa stets von ihren Rändern, von der Peripherie oder politisch neuralgischen Punkten her definiert: 2000 in Lljubljana thematisierte sie die Post-1989er Epoche, 2006 scheiterte sie symbolisch im geteilten Zypern. 2012 beleuchtete sie in der belgischen Bergarbeiterstadt Genk Rohstoffs Kohl den Umbruch zum postindustriellen Zeitalter.

Zürich als Standort der 11. Ausgabe war da eine schwer verständliche Wahl. Doch weder lotet Jankowski den Topos Zentrum-Peripherie innerhalb der Schweiz aus, noch ihre paradoxe Zwischenlage als finanzielles Herz Europas, die politisch dennoch Peripherie ist.

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Cabaret der Künstler / Copyright Manifesta11 – Livio Baumgartner

In die Zunft gesperrt

Auch nach Reflektionen der „condition européene“, die sich die Manifesta nach den Worten ihrer Gründerin Hedwig Fijen auf die Fahnen geschrieben hat, sucht man vergebens. Denn Jankowskis Diskurs-„Pavillon of Reflections“ auf dem Züricher See hätte sich das Fremdenverkehrsamt der Stadt nicht besser ausdenken können.

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Das optische Herzstück der Manifesta 11: der «Pavillon of Reflections» / Copyright Manifesta 11 – Wolfgang Traeger M11 by Wolfgang Traeger

 

Die zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Reinigung für die Züricher Arbeiter errichteten, historischen Flussbäder an der Limmat wären die passendere Kulisse für die „Arbeits“-Manifesta gewesen, als das Holzfloß mit Kino und Debattierarena vor der Postkarten-Kulisse am Touristen-Hotspot.

Jankowskis unkritisches Konzept lässt sich auch daran ablesen, dass er das berühmte Cabaret Voltaire in der Altstadt, die Geburtsstätte der Dada-Bewegung 1916, zu einer Künstler-Zunft umfunktioniert. Beim Stadtspaziergang wollen es ihm, erzählte er gewohnt unbedarft, historischen Zunfthäuser angetan haben.

Anstatt diesen closed shop der helvetischen Wirtschaftselite mit einem alternativen Format aufzubrechen, unterwarf er die Kunstwelt – wenn auch nur symbolisch und für die 100 Tage der Ausstellung – diesem obsoleten Kastenwesen.

In derlei kokett zur Schau gestelltem Unvermögen, eines der brisantesten Probleme derzeit auszuloten, ist die Schau samt ihrem überforderten Kurator paradigmatisch. Kein Wunder, dass diese Problemzone sie am Ende selbst einholte.

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Jewgeni Antufjew / Copyright Manifesta 11 – Wolfgang Traeger M11

Bis zum Schluss konnte die Manifesta Vorwürfe nicht wirklich entkräften, bereits eingestellte Hilfskräfte aus Geldmangel durch unbezahlte Freiwillige ersetzt zu haben. Wenigstens die prekäre Ökonomie kam auf dieser Manifesta dann doch zur Darstellung – unfreiwillig, wie so vieles in Europa.

Ingo Arend

erschienen in: Neues Deutschland vom 18. / 19.06.2016

Bild ganz oben: Installation „The Zurich Load“’ des amerikanischen Künstlers Mike Bouchet im Löwenbräuareal – Copyright Manifests 11 – Camilo Brau

 

AUSSTELLUNG

What people do for money. Some joint ventures

Manifesta 11. Zürich

Noch bis zum 18. September 2016

Katalog, Lars Müller Publishers, 49 CHF

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Neues von den Kunst-Extremisten


CLARA MOSCH 1977-1982: Kunst in der DDR zwischen Repression und Selbstbestimmung

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Aufstand gegen den Provinzialismus – Das Cottbuser Kunstmuseum erinnerte an das erstaunliche Künstlerkollektiv Clara Mosch.

 

Not macht erfinderisch. Diesen Spruch hört das künstlerische Prekariat von heute nicht so gern. Es ruft nach Stipendien, Atelierhäusern und Ausstellungshonoraren. Dass der scheinbar reaktionäre Spruch dennoch etwas für sich hat, ließe sich an Clara Mosch aus Karl-Marx-Stadt exemplifizieren.

Was sich wie der Name einer DDR-Frauenrechtlerin anhört, war eine Künstlergruppe. Der ominöse Name ist ein Akronym, das sich aus den Familiennamen der beteiligten fünf Künstler zusammensetzt: Thomas Ranft, dessen Frau Dagmar Ranft-Schinke, Michael Morgner, Gregor-Torsten Schade und der DDR-Künstlerlegende Carl-Friedrich Claus.

Als die Gruppe am 30. Mai 1977 in einer Produzentengalerie der damaligen DDR-Bezirksstadt zu einer Ausstellungseröffnung einlud, und das auch noch mit einem Plakat, das das Gesicht einer verschleierten Frau auf dem DDR-Personalausweis zeigte, rief das die Stasi auf den Plan. Doch an Umsturz hatte das Quintett gar nicht gedacht.

Der Grafiker und Zeichner Michael Morgner, Jahrgang 1974, sah in Clara Mosch eher eine „Notgruppe angesichts der Situation qualitätslosen Sozialistischen Realismus … einen Protest gegen Provinzialismus. Wir hatten überhaupt kein Programm, sondern Mosch war ein Boot für alle Leute, die nicht untergehen wollten“.

Was die Gruppe verband, so der 1945 geborene Thomas Ranft, Initiator der Gruppe, war der „Vorversuch zu einer unkonventionellen Kommunikationsart, offen für existentielle Fragestellungen“. Er reklamierte eine „Form des Andersseins“. Auf diesem Notgefährt entstanden einige der schönsten Werke der Kunst aus der DDR.

Freunde der Konzept- und Politkunst zeitgenössischer Provenienz kommen in der Schau, die Kurator Jörg Sperling vom württembergischen Museum Albstadt übernommen und für das Cottbuser Kunstmuseum überzeugend adaptiert hat, nicht auf ihre Kosten. So aus der Zeit gefallen wirkt das Oeuvre dieses Kollektivs aus Individualisten.

Die Frontstellung gegen den Realismus eines Sitte, Heisig oder Mattheuer schlug sich in den lyrisch versponnenen Zeichnungen Ranfts oder dem gestischen Expressionismus seiner Frau Dagmar nieder. Titel wie „Strömungen“, „Wachstum“ und „Kreatur“ verwiesen immer wieder auf die Natur als Impulsgeber.

Und selbst die transparenten Tuschzeichnungen und Schriftblätter zur kommunistischen Kosmologie von Carl-Friedrich Claus, dem unbotmäßigen Marxisten und Eremiten aus dem erzgebirgischen Annaberg – mit ihnen beginnt die Ausstellung – wirken immer wie filigrane Traumgespinste.

Die Moschianer beließen es freilich nicht bei der Arbeit im „Ich-Gestein“ (Gerhard Altenbourg). Vor allem die Pleinair-Aktionen machten die Gruppe berühmt. Deren psychosoziale Dynamik lässt sich nachträglich kaum wieder zum Leben erwecken.

Die Schwarz-Weiß-Fotografien des später als Stasi-Spitzel enttarnten Rolf-Dieter Wasse lassen den intermedialen, anarchistischen Aktionismus, der die Behörden so ängstigte, aber zumindest erahnen.

Ob sich Clara Mosch zu einem konspirativen „Workshop Mehl-Art“ unter dem Motto „Wir backen Kunst“ traf. Ob sie an einem verschlickten See in Mecklenburg 1981 Michael Morgners Re-Enactment von Jesus‘ Gang über das Wasser filmte. Oder ob sie die, aus den Holzresten eines gerodeten Waldstücks gefertigten Objekte verbrannte und in Reagenzgläser füllte.

Bis 1982 fanden in den Räumen der Galerie 29 Ausstellungen statt. Am 27. November 1982, dem letzten Ausstellungstag, schließt Clara Mosch. Die perfide Strategie der Zersetzung der Stasi: provozierte Ehekonflikte, Gerüchte unter den Beteiligten, Ködern mit lukrativen Staatsaufträgen, hatte gewirkt.

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Ralf-Rainer Wasse: Baumbesteigung, 1979 Pleinair Rügen (Michael Morgner, Gregor-Torsten Schade, Wolfgang Biedermann) S/W-Fotografie Quelle: VG Bild-Kunst, Bonn 2016 und Lindenau-Museum Altenburg

 

Was bleibt ist nicht nur ein zeichnerisches Oeuvre von einzigartiger Qualität, sondern auch das einzigartige Beispiel einer politischen Ästhetik jenseits politischer Symbole. Clara Mosch setzte auf Existenzzeichen und Selbst-Bewusstsein, auf Ironie und Subtilität, auf Hand-Werk im ursprünglichen Sinne.

Die Provinzdiktatur namens DDR stürzte das „Energiebündel der Phantasie, ausstrahlend nach fünf Richtungen“ (Ranft-Schinke) zwar nicht. Es gelang ihm aber genau die gute Kunst im schlechten System, die Kritiker der DDR-Kunst bis heute absprechen wollen.

In einer Radierung lotet Thomas Ranft diese Dialektik aus. Ein schemenhafter Menschen-Torso schlägt mit lädierten Gliedmaßen in einem nur schraffurartig angedeuteten Raum aus sich überlappenden Lichtbalken und Dunkelzonen um sich. Ungewohnt programmatisch nannte der Künstler sein Werk: „Räume schaffen“.

Ingo Arend

 

AUSSTELLUNG

Clara Mosch 1977-1982. Kunst in der DDR zwischen Repression und Selbstbestimmung.

Kunstmuseum Dieselkraftwerk Cottbus

Booklet, 5 Euro

 

Bild ganz oben:

Lutz Dammbeck: Clara Mosch, 1977. Offsetlithografie, Siebdruck . dkw. Kunstmuseum Dieselkraftwerk Cottbus .

Foto: Alexander Janetzko. © VG Bild-Kunst, Bonn 2016

 

 

 

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Phoenix aus der Asche

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Die Möchtegern-Putschisten haben Erdoğan einen nachhaltigen Erfolg beschert. So kann er seinen Mythos des unbesiegbaren Osmanen nähren.

Ein Kommentar zum Putschversuch in der Türkei

 

Hand aufs Herz: Eine klammheimliche Freude wird nicht wenige beschlichen haben, als sie die Nachricht vom angeblichen Putsch in der Türkei auf ihren Smartphones vorfanden. Die Vorstellung, dass der stolze Diktator vom Bosporus aus einem Fotoautomaten zum Volkssturm in Istanbul aufrufen muss. Der Gedanke, dass das autoritäre Großmaul in Berlin oder Teheran um Asyl betteln könnte – diese Bilder hatten etwas Erheiterndes. Der rituelle Stoßseufzer vieler Freunde in der Türkei: „Kann der nicht einfach mal tot umfallen, einfach weg sein?“ schien sich zu erfüllen.

Man konnte sogar die Teile des Militärs verstehen, die diesen Aufstand wagten. Die Idee eines „Peace Council“ als Übergangsautorität, die Wiederherstellung „der demokratischen und säkularen Ordnung ohne Ansehen von Rasse, Religion oder Geschlecht“ und das Versprechen auf eine „neue Verfassung“ – all das klang nicht nach dem Programm einer reaktionären Junta, sondern nach der Rettung dessen, was die Demokraten in der Türkei seit Erdoğans Machtantritt 2002 bedroht sahen: Demokratie, Menschen- und Minderheitenrechte.

Dennoch war der Putsch der falsche Weg. Auf dramatische Weise hat er nur das demokratische Defizit der Türkei unterstrichen: Die Schwäche der Zivilgesellschaft und das Fehlen einer wirkungsmächtigen, populären politischen Opposition, die sich so auf alternative, säkulare, demokratische Symbole versteht wie der charismatische Erdoğan auf islamische.

Die bisher vier Staatsstreiche in der Türkei haben die Dinge nie zum Besseren gewendet. Sie haben vielmehr tiefe Spuren der Entmündigung in der politischen Kultur des Landes hinterlassen: Den Glauben an die starke Hand, die im Moment der Gefahr alles richtet. Aus diesem Circulus vitiosus hat sich das Land bis heute nicht befreit.

Der Unbesiegbare

Schwer zu sagen, was schlimmer ist: Dass die Putschisten Erdoğan einen Vorwand geliefert haben, die Daumenschrauben der Diktatur noch stärker anzuziehen als jetzt schon. Dass sie ihm das letzte fehlende Argument für sein „Präsidialsystem“ frei Haus geliefert haben; dass nämlich nur ein autoritärer „Führer“-Staat die Republik „beschützen“ kann. Oder dass Sie ihm den Nimbus des Unverletzbaren, Unbesiegbaren, Gottähnlichen beschert haben.

Am 17. September 1961 baumelte Adnan Menderes, der erste freigewählte islamische Ministerpräsident der Türkei, in Folge des damaligen Putsches am Galgen. Recep Tayyip Erdoğan, sein ideologischer Wiedergänger, entsteigt dagegen jeder noch so tödlichen Gefahr wie Phönix aus der Asche, im tadellos sitzenden Anzug, das Staatswappen im Knopfloch, das ungeliebte Atatürk-Porträt im Rücken.

Von jetzt an werden die AKP-Gefolgsleute ihn noch glühender wie den „geliebten Propheten“ selbst anbeten, dem zu folgen Erdoğan bei jeder noch so zweifelhaften Aktion vorgibt. Der mythische Status, den er immer erstrebte, ist ihm jetzt sicher. Egal, ob er 2023, dem 100. Jahr der Republikgründung noch im Amt ist oder nicht. Erdoğan wirkt nun endgültig wie die personale Reinkarnation der unbesiegbaren Osmanen, deren Tradition er immer wieder beschwört. Gegen dieses mythische Wunderkind dürfte kaum noch ein politisches Kraut gewachsen sein.

Ingo Arend – taz 16-07-16

Bild: Recep Tayyip Erdoğan

Author: Пресс-служба Президента Российской Федерации

http://www.kremlin.ru/events/president/news/49702

This file comes from the website of the President of the Russian Federation and is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 License. In short: you are free to distribute and modify the file as long as you attribute www.kremlin.ru. Note: Works published on site before April 8, 2014 are also licensed under Creative Commons Attribution 3.0 License.

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Die unerziehbaren Vögel

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Vor 40 Jahren wurde der Liedermacher Wolf Biermann aus der DDR ausgebürgert. Zwei großartige Berliner Ausstellungen erinnern an eine vergessene Generation von DDR-Künstlerdissidenten und ihr unterschätztes Widerspruchspotential. 

 

Widerspruch zwecklos. So oder ähnlich lautet eine gängige Formel über die DDR. Hier hatte nur eine das Sagen – die Partei. Dass es aber, trotz aller Verdikte von dem – politisch wie ästhetisch – unentrinnbaren Totalitarismus, in dem „Unrechtsstaat“ Widerspruch gab, zeigen derzeit in Berlin zwei wunderbare Ausstellungen im Martin-Gropius-Bau und im Künstlerhaus Bethanien.

Wenn sie die Schau zur Kunst in der DDR von 1976-1989 „Gegenstimmen“ nennen, meinen die Kuratoren Eugen Blume und Christoph Tannert nicht die gleichnamige Menschenrechts-Oppositionsgruppe, die linke Christen und oppositionelle Marxisten um das Jahr 1985 in Ostberlin gründeten. Eher muss man darin die überfällige Widerrede zu der skandalösen Ausstellung „60 Jahre – 60 Werke“ sehen.

2009 versuchte der Kunsthistoriker Siegfried Gohr, ehemals Chef des Kölner Museums Ludwig, mit einer aufreizenden Triumphschau der Westmoderne, ebenfalls im Martin-Gropius-Bau, den Nachweis zu führen, dass die Kunst in der DDR keine Kunst, sondern höchstens ein Fall für das Geschichtsmuseum sei.

Blume und Tannert wollen nun nicht im Umkehrschluss die DDR zum Widerstandsparadies verklären oder noch einmal den Nachweis führen, dass die Kunst Ost der im Westen ästhetisch gleichwertig gewesen sei. Das wäre nach den großen Retrospektiven „Abschied vom Ikarus“ 2013 in Weimar oder der Retrospektive „Kunst in der DDR“ 2003 in der Berliner Nationalgalerie auch überflüssig gewesen.

Gegen die berüchtigte Verdammung Georg Baselitz‘, die Künstler in der DDR seien alle „Arschlöcher“, weil angepasst und machthörig gewesen, demonstrieren sie, dass die Künstler auch dann noch widersprachen, als es längst aussichtslos schien – nach der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann 1976 nämlich, vor genau 40  Jahren.

Das traumatische Ereignis markierte eine, wenn nicht die entscheidende Zäsur der DDR-Geschichte. Kein Wunder, dass der Berliner Maler Rainer Bonar diesen Wendepunkt schon ein Jahr später in dem symbolisch zu lesenden Ölgemälde „Grablegung eines Soldaten“ fasste. Auf dem düsteren, in grün-braun-grau gehaltenen Bild, sieht man den, wie einen gefallenen Revolutionsheld aufgebahrten Sänger mit Schnurrbart und geschlossenen Augen auf dem Totenbett. Mit ratloser Miene umringen ihn Stephan Hermlin, Stalin und Fidel Castro.

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Nicht das Ende vom Lied. 2016. Linolschnitt. Foto: Thomas Kilpper/Galerie Nagel-Draxler/Bethanien

Dass der „Urknall“ von 1976 aber „Nicht das Ende vom Lied“ war – so der Titel eines Bildes des Berliner Künstlers Thomas Kilpper, das Wolf Biermann bei einem fiktiven Konzert zeigt, das so gegensätzliche Gestalten wie Margot Honecker oder David Bowie zieht, war – zeigt das faszinierende Universum des Widerspruchs in Gestalt von 160 Werken rund 80 nicht-staatstragender Künstler, das Blume und Tannert ausgebreitet haben.

Die Liste dieser vergessenen Generation, zumeist in den 50- und 60er Jahren geboren, reicht von den Dresdner Autoperforationsartisten Micha Brendel, Else Gabriel, Via Lewandowsky und Rainer Görß über den experimentellen Fotografen York der Knoefel bis zum Dadaisten Reinhard Zabka – eine überfällige Komplettierung unseres Bildes der Kunst in DDR. Es gab viel, viel mehr als nur Sitte oder Mattheuer.

Performance Via Lewandowsky, Berlin, 1989 (© Jochen Wermann)
Performance Via Lewandowsky, 1989. Foto: Jochen Wermann/Gropius-Bau

Die Idee von den „Gegenstimmen“ ist nicht im engeren politischen Sinne misszuverstehen. Zwar gab es einen Hans Ticha, dessen gemalte Piktogramme die offizielle Jubel-Ästhetik mit der plakativen Ironie eines Pop-Agitprop ad absurdum führten. Die Gegenstimmen artikulierten sich aber auch dadurch, dass sie das Politische bewusst verlernen wollten. „Die Reinigung von der Politik war die Lust“ erinnert sich die 1953 geborene Gabriele Stötzer.

Die „Lippen“-Serie der Erfurterin von 1983, Fotos, auf der sie ihren Mund in verzerrten Posen zeigt oder mit Bindfäden verschnürt, drücken die Angst einer Künstlerin vor dem Stumm-Machen auf, die 1977, ein Jahr nach Biermann, wegen politischer Unbotmäßigkeit nach Hoheneck, den härtesten Frauenknast der DDR wanderte. Sie wirkt aber auch wie der Versuch, eine andere Sprache zu üben.

Bewusst verzichten Blume und Tannert auf jede Chronologie und Didaktik. Sie wollten die großartigen Arbeiten nicht als Beweisstücke aus der „kulturhistorischen Asservatenkammer“ (Tannert) oder als Echo irgendeines West-Trends, präsentieren, sondern als singuläre Kunst. Diese Rechnung geht auf.

Aufregend machen diese Ausstellung vielleicht nicht die immer wieder beeindruckenden „Gegenstimmen“ gegen den sozialistischen Realismus wie die expressive Malerei eines Hanns Scheuerecker oder die Grenzgänger-Ästhetik A.R. Pencks. Sondern die ephemeren, beiläufigen Versuche: Die der Fotografin Ute Maler etwa, über Bilder ihrer Freunde „im privaten das Echte“ zu finden, das die Ideologie nicht mehr bereithielt; die Dokus absurder Performances, Happenings und illegaler Konzerte, Trouvaillen wie die Konzeptzeichnungen Hans-Joachim Schulzes.

Der Berliner hatte sein Kunststudium mit dem, als „unbewertbar“ benoteten „Experiment“ eines, bis zur Decke mit Blättern und Bildern seiner aktionistischen Kunst angefüllten Arbeitsraums abgeschlossen. Das Mitglied der „Gruppe 37,2“ begleitete in DDR-Betrieben interaktive Trainings- und Gesprächseinheiten mit Zeichnungen, die an die Diagramme von Joseph Beuys erinnern.

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Hans-Hendrik Grimmling. Die Umerziehung der Vögel. 1977. Öl auf Hartfaser. Foto: Ingo Arend

Kurzum: „Die Umerziehung der Vögel“ gelang nicht. So hatte der Maler Hans-Hendrik Grimmling 1977 ein Triptychon betitelt, bei dem zwei nackte Männer bei dem Versuch abstürzen, einem Vogel das „richtige“ Fliegen gewaltsam beizubringen. Zwar stürzten, um in der Metapher zu bleiben, die Repressionsapparate der DDR nicht ab. Aber die unbotmäßigen Vögel in der DDR blieben auf herrliche, gleichwohl immer prekäre, riskante Weise unerziehbar.

In der zeitgenössischen, von historischer Dokumentation, kritischem Urbanismus und politischer Intervention dominierten Kunstlandschaft stehen diese Arbeiten wie ein erratischer Block aus längst vergessenen Wendezeiten. Doch sie sind mehr als nur die späte Satisfaktion für ein viel zu lange unterschätztes Erbe, über das nach 1989 die Zeit hinweg ging.

Die Versuche, „eine andere Form von Widerstand“ (Bernd Schlothauer) zu finden, reichen nämlich über ihre Zeit hinaus. Wenn Joerg Waehner seine Stasi-Akte in eine comicartige Foto-Love-Story „Stempel und Kissen überführt, schließt sich der Kreis zu den aktuellen Debatten um Überwachung und Kontrolle.

Und wenn Lydia Hamann und Kaj Osteroth in ihrer Serie „Admiring Gabriele Stötzer. Es wird sich das nicht ändern“ von 2016 die Arbeit der heute 63-jährigen DDR-Künstlerin aneignen und in einem Animationsfilm die Zeit ihrer Haft aufarbeiten, schlagen sie aus deren, über 30 Jahre altem, Oeuvre die Funken einer zeitgenössischen feministischen Ästhetik.

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Hans-Joachim Schulze: Ohne Titel. 1985. Foto: Ingo Arend

Der in Berlin präsentierte Fundus geballten, kreativen und subversiven Eigensinns ist also alles andere als totes historisches Material. Er präsentiert Strategien und role-models, die plötzlich attraktiv in einer Zeit wirken, die Gegenstimmen fast nicht mehr zu kennen scheint.

Ingo Arend taz vom 18.7.2016

Bild ganz oben: Gabriele Stötzer: Serie Carmen & Mirco – Lippen, 1983. Fotografie. Foto: Ingo Arend

 

AUSSTELLUNG

Gegenstimmen. Kunst in der DDR 1976-1989

Martin Gropius Bau.

Noch bis zum 26.09.2016

Katalog, Deutsche Gesellschaft 39 Euro

AUSSTELLUNG

Ende vom Lied

Künstlerhaus Bethanien.

Noch bis zum 18.09.2016

Katalog 29 Euro

Ende_Vom_Lied_Einladung_Wesbite-460

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Die Welt gehört niemanden

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Ausstellung zur Flüchtlingskrise

 

“A world not ours” – das ist das Motto einer Ausstellung auf Samos zur Flüchtlingskrise. Zu sehen ist sie im Art Space Pythagórion, einem zum Kunstraum umgebauten 70er-Jahre-Hotel direkt am Hafen des Ortes Pythagório.

Auf den griechischen Ägäis-Inseln kommen wieder deutlich mehr Flüchtlinge an. Es gibt Vermutungen, dass die türkischen Behörden die Schleuser weniger kontrollieren – all das vor dem Hintergrund der aktuellen Spannungen zwischen der Türkei und Europa.
Die Insel Samos ist neben Lesbos und Kos eine der wichtigsten Anlaufstellen für Menschen, die über das Mittelmeer nach Europa fliehen. Mitten in der touristischen Hochsaison befasst sich jetzt ein Kunstprojekt auf der Insel mit den Themen Exil, Diaspora und Suche nach Identität.

 

Ingo Arend

Quelle: Deutschlandradio Kultur | FAZIT | Beitrag vom 05.08.2016

Die Sommerausstellung auf der griechischen Insel Samos – A World not ours – bis zum 10. Oktober 2016 im Art Space Pythgórion zu sehen. 

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“A world not ours“ – Lerne teilen, ohne zu kämpfen

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Die Gruppenausstellung „A world not ours“ auf der griechischen Insel Samos thematisiert an einem symbolischen Ort das Thema Flucht und Vertreibung.

 

„Ferry to Samos“. Ein strahlend blaues Plakat mit einem weißen Boot lockt in der türkischen Hafenmetropole Izmir zu einem Tagesausflug auf die griechische Insel Samos. Für Touristen ist der Trip kein Problem. Für die syrischen Flüchtlinge, die zu Tausenden in der Hafenstadt darauf warten, sich auf europäischen Boden zu retten, markiert die 400 Kilometer lange Strecke zwischen Asien und Europa eine unüberwindbare Grenze. Die Fährtouristen zahlen 35 Euro, ein Flüchtling seinem Schlepper mehrere Tausend Euro, lebendige Ankunft wird nicht garantiert.

Die österreichische Künstlerin Tanja Boukal hat das idyllische Bild der Reederei auf eine Aluminiumplatte gezogen und mit Fotos all der Dinge umgeben, die Menschen auf der Flucht über das Meer verlieren: Schwimmwesten, Wasserflaschen, Medikamentendosen. „Memories of Travels and Dreams“ hat sie ihre Assemblage genannt. Und ein schlagendes Bild dafür gefunden, wie die schöne, friedliche Welt der einen eben nicht die der anderen Menschen ist.

Die Ausstellung in dem kleinen weißen Gebäude mitten im Hafen von Pythagorion auf der griechischen Insel Samos, in dem Boukals Arbeit derzeit hängt, ist, schlägt beim Thema Flüchtlinge einen überfälligen, dritten Weg der politischen Ästhetik ein – zwischen Ai Weiweis spektakulärer Inszenierung am Strand von Lesbos und der aktivistischen Dramatik der Aktion „Flüchtlinge fressen“ des „Zentrums für Politische Schönheit“ vor dem Berliner Maxim Gorki Theater.

„A World not ours“ hat Kuratorin Katharina Gregos die kleine Gruppenausstellung von gerade mal zehn Künstlerinnen genannt, die sie für die private Kulturstiftung des deutsch-griechischen Philanthropen-Ehepaars Schwarz in dem vor vier Jahren zum Art Space umgebauten alten Hotel ausgerichtet hat. In dem gleichnamigen Film hat der dänisch-palästinensische Filmemacher Mahdi Fleifel 2012 sein Aufwachsen in einem Palästinenser-Camp im Libanon beschrieben.

Man findet in dieser Schau das, was man in vielen Ausstellungen zum Thema Flucht, Vertreibung, Migration findet, die derzeit Konjunktur haben. Daten und Fakten zur Entwicklung der globalen Migration wie in der Computeranimation der amerikanischen Architekten Diller Scafidio und Renfra. Oder den Dokumentarismus eines Fotografen wie Yannis Behrakis. Der griechische Pulitzer-Preisträger hat in einer ikonischen Serie die Ankunft der Migranten in seiner Heimat festgehalten.

Man findet darin die Ergebnisse von künstlerischen „Projekt“-Arbeiterinnen wie Tanja Boukals. In der Arbeit „Izmir Concrete“ hat die ästhetische Langzeitforscherin ihre Recherchen in der Schlepperszene von Izmir in Schwarz-Weiß-Fotos festgehalten und diese auf Betonblöcke aufgetragen: Flüchtlingen hängt ihr Schicksal wie ein Mühlstein um den Hals.

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Tanja Boukal: Izmir Concrete. Foto: Schwarz Foundation

Und man findet darin Arbeiten wie die von Sallie Latch. Um die Geschichten derer hörbar zu machen, die in den Medien zu einer einzigen, namenlosen Elendsmasse verschmelzen, hat die 83 Jahre alte, amerikanische Künstlerin und Friedensaktivistin Interviews mit Hunderten von Ihnen aus der Region geführt. Im Loop flimmern sie über einen Bildschirm.

Gerade in der ägäischen Touristenidylle ist die Ausstellung in Samos am richtigen Platz. Die Insel mit 7000 Jahren Kulturgeschichte war von jeher ein Kreuzungspunkt der Kulturen zwischen Ost und West. Und keine zehn Kilometer von dem schicken White Cube im Hafen steht stacheldrahtumzäunt in den samiotischen Bergen einer der fünf Hotspots, in denen nach dem EU-Türkei-Abkommen die Flüchtlinge festgehalten werden. Chiona Schwarz, die resolute, weltgewandte Chefin der Schwarz Foundation, hat ein Interesse daran, „am hintersten Zipfel Europas, wo sich der letzte türkische und griechische Soldat in die Augen schauen, brisante Themen zu diskutieren“.

Die Schau ist aber auch ein exemplarisches Beispiel für die Aporien der „Flüchtlingsästhetik“, um die gerade künstlerisch gerungen wird. So wie sich fast alle Arbeiten dem verständlichen, ethischen Imperativ unterordnen, das Leid dieser Menschen nicht ästhetisch auszubeuten, sachlich statt spektakulär zu informieren, und Empathie für die Schicksale dahinter zu wecken, wirken sie oft vorhersehbar.

Eigenständige Formen, die das konkrete Elend so ins Allgemeine abstrahiert oder metaphorisch übersteigt wie Edvard Munchs „Schrei“, sind selten zu sehen. Am ehesten ist das noch der ungarischen Künstlerin Róza El-Hassan gelungen. Der archaische Feldbau in Form eines Iglus, den die Mitbegründerin der Kunstplattform „Syrian Voices“, den Behausungen der Bauern dort abgeschaut hat, ist zwar soziales Design, hat aber auch etwas autonom Skulpturales. Zugleich wirkt sie wie das Symbol einer nachhaltigen Architektur der Zukunft – in einer Welt, die Platz für alle hat.

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Róza El-Hassan: Adobe-Haus. Foto: Schwarz Foundation

Und die Schau steht in dem bislang mit ambitionierten Einzelausstellungen bekannt gewordenen Hauses für die politische Sensibilisierung eines besorgten Großbürgertums. Schwarz engagiert sich auch bei Human Rights Watch für Flüchtlinge. Es war glasklar programmatisch zu verstehen, als die Linksintellektuelle und gelernte Psychotherapeutin, nicht nur die samiotische Hautevolee bei der Vernissage beschied: „Wir brauchen einen Ort, in dem wir diskutieren können, wie wir mit diesem Drama umgehen. Das ist eine europäische, keine griechische Frage. Wir müssen lernen zu teilen, ohne zu kämpfen.“

Ingo Arend

Bild ganz oben: Tanja Boukal: Memories of Travels and Dreams. Foto: Ingo Arend

 

AUSSTELLUNG

A World not Ours. Art Space Pythagorion, Samos.

Noch bis zum 15.10.2016

mehr Infos

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http://www.schwarzfoundation.com/en/art-space-pythagorion/2016/2016.html

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Die nordische Idee

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Tapio Wirkkala entwarf den skandinavischen Mythos, war aber auch ein Wegbereiter des ökologischen Designs. Eine Ausstellung im Leipziger Grassi-Museum würdigt den finnischen Jahrhundert-Gestalter. 




Transparent, klar, elegant. Auf den ersten Blick wirkt das filigrane Glasstück mit dem aufgravierten Rillenmuster wie ein Prototyp dessen, was gemeinhin unter „skandinavischem Design“ gehandelt wird. Wenn dieser gebogene Rand nicht wäre. Wer das zerbrechliche Objekt genauer ansieht, merkt, dass es einem Pilz mit seinen Lamellen ähnelt. Und mehr als die Vase für den täglichen Gebrauch, als die es gedacht war, hatte es etwas von einer genuinen Skulptur – mehr als bloß ein Stück Glas.

Mit „Kantarelli“, dem finnischen Wort für Pfifferling, begann der Aufstieg eines Mannes aus dem europäischen Norden, der zu einem der führenden Formgestalter der Alten Welt avancieren sollte. 1946 hatte sich der damals 31jährige Kunstschnitzer und Bildhauer Tapio Wirkalla mit dem Entwurf bei einem Wettbewerb der Glasfirma Ittala teilgenommen. Prompt bekam er eine Anstellung als Designer.

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Tapio Wirkkala: Vase. Pfifferling (Kantarelli). 1947. Geblasenes Kristallglas (Foto: Timo Syrjänen / Grassi-Museum)

1951, zur Mailänder Triennale, widmete die italienische Design-Zeitschrift „Domus“ Wirkkalas gläsernem Pfifferling mehrere Seiten: Ein Mythos war geboren. Auch wenn die Serienproduktion der Vase später etwas standardisierter ausfiel als das damals limitierte Stück, wurde „Kantarelli“ zur Ikone. Im Leipziger Grassi-Museum kann man dieses Glanzstück nun bewundern.

Die großartige Ausstellung, die zum ersten Mal in diesem Umfang das Wirken des legendären Gestalters aufblättert, konzentriert sich auf dessen Glas- und Silberarbeiten. Zum Glück. In Deutschland war Wirkkala in den sechziger Jahren durch sein berühmtes Schwarz-Weiß-Porzellan-Service „Variation“ bekannt, das er für die bayerische Firma Rosenthal entworfen hatte. Doch nirgendwo anders konnte man die identitätsbildende Funktion des Designs besser ablesen, als an seinen Glasarbeiten.

Wirkkala näherte sich dem Werkstoff Kunstglas als Bildhauer mit Gespür für expressive Effekte und dem ausgeprägten Interesse an der Natur. Ob er eine funktionslose Arbeit „Baumstumpf“ nannte. Oder einen schweren Aschenbecher mit seinen wuchtigen, übertrieben stilisierten Kanten „Eissplitter“. Die biomorphen Formen, die er bevorzugte, hatte schon der Architekt Alvar Aalto zum Markenkern der skandinavischen Antwort auf den Funktionalismus des Bauhauses gemacht.

Unter Wirkkala gewann das, was Fachleute die „Organische Moderne“ nennen, seine sichtbarste Gestalt. Stets wandelte er dabei auf einer schmalen Grenze: Seine Arbeiten riefen die Natur zwar erkennbar auf, abstrahierten sie aber zugleich zu einem Symbol ihrer selbst. Und immer changierten seine Objekte zwischen Gebrauchsobjekt und Kunst.

Dabei transportierte der „Poet in Glass und Silber“ (Heiki Mathiskainen) sowohl Mythen, er erschuf sie aber auch. Mal gravierte er Szenen und Motive aus der nordischen Mythologie, dem Alltag (Sauna) oder der Fauna (Elche) im Diamantriss auf dickwandige Glasstücke. Oder er arbeitete mit der organischen Harmonie der schlichten Form wie in der silbernen „Tulpenvase“ von 1954.

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Tapio Wirkkala: Tulpenvase (Tulpaanivaasi). 1954. Silber (Foto: Timo Syrjänen / Grassi-Museum)

Stets formulierte Wirkkala mit diesem Stil eine Art regionale Identität: Die Idee des Nordens. Auf einen ästhetischen Nationalisten lässt er sich dennoch nicht verkürzen. Stets blieb der arbeitswütige vielseitige und unglaublich produktive Mann mit dem wilden Haarschopf und dem Bart, der auch in Designstudios in Amerika und Italien arbeitete und 1985 in Helsinki starb, „Uomo naturale“ und kosmopolitischer Modernist.

„Design und Verbrechen“ nannte der amerikanische Kunstkritiker Hal Foster vor ein paar Jahren seine Abrechnung mit dem Design, das in der Postmoderne mehr noch als im Jugendstil dazu beitrage „Produktion und Konsum in einem fast perfekten Kreis zu verbinden“. Auch gegen Wirkkala ließe sich einwenden, dass bei ihm die Ästhetik über der Funktion stand. Mit veritablem Effekt: Das von ihm mit „erfundene“, skandinavische Design, das wir heute in der Schwundform Ikea beklagen, begründete den wirtschaftlichen Wiederaufstieg Finnlands nach dem 2. Weltkrieg.

Dennoch lässt sich der Mann auch als Vorläufer eines ökologischen Bewusstseins deuten. Nicht nur, weil er seine Formen, wie die von der US-Zeitschrift „House Beautiful“ 1951 zum „Schönsten Objekt des Jahres“ gewählte „Blattschale“ aus laminiertem Schichtholz, der Welt der natürlichen Dinge abgewann. Sondern auch, weil er deren Werte internalisierte: Als er 1958 seinen Zweitwohnsitz in Lappland nahm, baute er die Blockhütte für seine Familie an dem Fluß Lemmenjoki nach dem Vorbild der indigenen Bauern.

Hier ging er angeln, traf sich mit den Einheimischen, schnitzte Vögel in Holz. „Die Natur ist hier in jedem Detail so eindringlich präsent, überall atmende Legende, dass man sich scheut, ihr irgendeinen Namen zu geben“, beschrieb er einmal seinen Dialog mit der Natur. „In der Einsamkeit wächst die Phantasie, und es wäre dumm, sie zu zerstören“.

Ingo Arend


AUSSTELLUNG

Tapio Wirkkala: Finnisches Design. Glas und Silber

Grassi Museum für Angewandte Kunst, Leipzig.

Noch bis zum 3.10.2016

Katalog, arnoldsche Art Publishers, 39,80 Euro

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Kunst in der Türkei

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Ein dunkler Tag

“Es geht mehr ums Überleben als ums Leben”, sagt nach ihrem Rücktritt die Kuratorin der kleinen Canakkale-Biennale. Die Kunstszene in der Türkei gerät Schritt für Schritt unter immer stärkeren Druck. Wird das Land ein geschlossenes Land?

Als Beral Madra vor Kurzem die Lage der Kunst in der Türkei nach dem Putsch beschrieb, sprach sie auch von sich selbst. Anfang des Jahres musste die 74 Jahre alte Doyenne der Istanbuler Kunstszene ihr Galerie-Projekt “Kuad” wegen des Einbruchs auf dem Kunstmarkt schließen. Wenige Tage später schlug man ihr das letzte Standbein weg. Nach heftigen Angriffen aus der regierenden AK-Partei trat sie vergangene Woche als Kuratorin der 5. Canakkale-Biennale zurück. Ergreift Erdoğans Säuberungsfeldzug nach dem gescheiterten Militärputsch Mitte Juli nun auch den Kunstbetrieb?

Begonnen hatte alles mit einem Mann namens Bülent Turan. Der AKP-Abgeordnete der Stadt Canakkale, einer Universitätsstadt an den Dardanellen im Nordwesten der Türkei, hatte Beral Madra, legendäre Kuratorin der ersten Istanbul-Biennalen 1987 und 1989, bezichtigt, die Putschisten und die prokurdische HDP unterstützt zu haben. In einem Tweet habe sie zudem die nationale Großdemonstration “Demokratie und Märtyrer” nach dem Putsch mit NS-Aufzügen in Deutschland in den Dreißigerjahren verglichen. “Die Stadt sollte besser ehrenwerte Künstler mit dieser Aufgabe betrauen”, forderte Turan öffentlich von Bürgermeister Ülgür Gökhan.

Das liberale Oberhaupt einer der letzten, von der oppositionellen CHP regierten Städte in der Türkei, ist der Regierung schon lange ein Dorn im Auge. 250 000 Euro schießt die 100 000 Einwohner zählende Gemeinde bei jeder Biennale zu. “War – Krieg” hieß das Motto der Biennale vor zwei Jahren. In diesem Jahr hatte Kuratorin Madra 42 Positionen zum Thema “Homeland – Heimat” zeigen wollen. Doch auch Madras Rücktritt nützte nichts. Um die eingeladenen Künstler nicht in eine politische Schlammschlacht zu ziehen, zog die Biennale-Stiftung Cabinin die Notbremse. “Tieftraurig über eine politische Agenda, in der Kunst keinen Platz” habe, sagte sie die Biennale ab.

Der Vorgang spielte sich nach einem schon bei den Gezi-Protesten 2013 erprobten Muster ab. Recep Tayyip Erdoğan, damals noch Ministerpräsident, hatte den mit den Protesten liebäugelnden Schauspieler Mehmet Ali Alabora öffentlich einen “Capulcu”, einen Marodeur, genannt. Der Schauspieler musste sich daraufhin eines Shitstorms und tätlicher Angriffe erwehren. Die Wiederholung der Taktik in Canakkale ist ein Zeichen der Entmutigung für die unabhängigen Kunst-Initiativen in der Provinz, die für das Land womöglich wichtiger sind als die mondäne Biennale in Istanbul.

Eine “Plattform für Demokratie” nennt Bürgermeister Göhkan “seine” Biennale nicht umsonst. Wie wenige andere Biennalen hat sie ihre Basis in dem Ort, in dem sie veranstaltet wird. Ins Leben gerufen wurde sie von nichtkommerziellen Frauen-, Jugend- und Behindertenorganisationen. Zwei Jahre lang erarbeiten diese zusammen mit den Kuratoren das Programm. Gökhan hält die zeitgenössische Kunst für “unglaublich wichtig, damit die Menschen fähig sind, das Prinzip des demokratischen Streits zu internalisieren”.

Zugegeben: Noch ist kein bildender Künstler in der Türkei inhaftiert, noch ist keine Kunst-Institution geschlossen worden. Immerhin verloren Kunstprofessoren ihre Jobs, die sich für eine Wiederaufnahme des Friedensprozesses mit den Kurden eingesetzt hatten.

Beral Madra ist sich sicher: “Die Zeugnisse von 200 Jahren moderner und postmoderner Kunstproduktion können nicht von einem auf den anderen Tag verschwinden.” Der Streit um die kleine Biennale zeigt jedoch, dass der Druck auf die türkische Kunstszene zunimmt. Meist, wie im Fall Canakkale, orchestriert in einer Mischung aus konservativer Stimmungsmache und behördlicher Gängelei.

Zwar legen die Initiatoren der Sinopale, einer weiteren basisdemokratischen Kunstbiennale, diesmal am Schwarzen Meer, Wert auf die Feststellung, dass sie die internationale Ausstellung ihres Events, die sie Anfang August, wenige Tage nach dem gescheiterten Militärputsch, hatten eröffnen wollen, nur auf das nächste Jahr “verschoben” haben. Die Formel von dem “sensiblen Prozess”, in dem sich das Land befinde, belegt aber, dass sie sich der Gefahren für ihre Arbeit bewusst sind.

Schon vor dem Putsch hatte das Kunstprogramm der Akbank auf Istanbuls Flaniermeile Istiklal Caddesi Anfang März eine “Peace” betitelte Ausstellung mit Hinweis auf die “heikle Lage” in den kurdischen Gebieten ohne Rücksprache mit den Kuratoren abgesagt. Nach dem Putsch cancelten die kleine Kunstmesse ArtInternational und das Jazzfestival Istanbul ihre Events.

Die Liste der Fälle von Zensur und Vandalismus, die die von der Soziologin Asena Günal mitbegründete NGO Siyah Bant (Black Tape) dokumentiert, war schon vorher beachtlich, nach dem Putsch explodierte sie förmlich. Was die unduldsame Stimmung im Lande für die Design-Biennale der Istanbuler Stiftung Kunst und Kultur Ende Oktober und die traditionelle Kunstmesse Contemporary Istanbul des Touristik-Unternehmers Ali Güreli im November bedeutet, wird sich zeigen.

Immerhin hat der Fall Madra die verfeindeten Flügel der türkischen Kunstcommunity einander wieder nähergebracht. Madra wird nicht nur von dem frankophilen Soziologen Ali Akay, dem intellektuellen Guru der Szene, verteidigt, sondern auch von dem Kurator Vasif Kortun, ihrem ewigen, 16 Jahre jüngeren Gegenspieler, 2005 ebenfalls Kurator der Istanbul-Biennale und heute Direktor des zu Beginn des Jahres unter ominösen Begleitumständen geschlossenen Salt-Kunsthauses in Beyoğlu (SZ vom 24. Januar). Kortun, der nach dem Putsch die Verhaftung der Gülenisten begrüßte, verurteilte Turans Vorgehen als “schrecklichen Angriff”, sprach von einem “dunklen Tag in der kulturellen Geschichte des Landes”.

Selbst unter den Großindustriellen-Clans, ohne die es in der Türkei keine Kunst gäbe, grassiert die Furcht vor willkürlichen Verhaftungen. Dass man von Bülent Eczacıbaşı, Ömer Koç oder Güler Sabançi bislang noch kein Wort der Solidarität mit der bedrängten Kunstszene gehört hat, hat aber auch damit zu tun, dass sie von den ungeliebten Machthabern durch vielerlei Aufträge profitieren. Einzig Bige Örer, Direktorin der privaten IKSV-Stiftung, die die Istanbul-Biennale organisiert, sprach von Kunst als “wichtiger Form des Widerstands”.

Unter der Hand können manche Künstler der jetzigen Situation freilich etwas abgewinnen. Der übersteigerte Markt, der sich in Gestalt des “Kunstwunders Istanbul” am Bosporus breitgemacht hatte, so orakeln sie, könnte wieder auf Normalmaß zurückgestutzt werden, die Künstler könnten sich wieder auf das Wesentliche besinnen: Kunst.

Für Osman Kavala wäre das eine Katastrophe. Der Unternehmer und Chef der Anadolu-Kültür- Stiftung, die den Projektraum Depo im Stadtteil Galata unterhält, ist am Bosporus selbst immer wieder als Liberaler unter Beschuss. In Berlin beschwor er kürzlich deutsche Künstler und Kulturinstitutionen, die kulturellen Kontakte zu seiner Heimat nicht zu kappen.

“Die Türkei”, so sein Argument, “darf kein geschlossenes Land werden”. Genau daran arbeitet die Regierung. In der vorigen Woche beschloss auf ihren Druck der Rat der staatlichen Theater, ab der neuen Saison Anfang Oktober dürften auf türkischen Bühnen nur noch Stücke türkischer Autoren aufgeführt werden: Für Shakespeare, Brecht und Dario Fo das vorläufige Aus am Bosporus.

Ingo Arend

zuerst erschienen in SZ | 16. September 2016

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Kunstmesse in Beirut: Aufbruch ohne Sittenwächter

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Frauen spielen bei der Beirut Art Fair eine große Rolle. Die Messe ist ein Indiz für den Selbstbehauptungswillen der libanesischen Zivilgesellschaft.


Links ein Muskelprotz, dessen von Steroiden geschwängerter Körper die Form einer Zypresse angenommen hat, des Wappenmotivs der libanesischen Flagge. Rechts vier schemenhafte, ausgeblasste Männergestalten, denen die Gesichter fehlen. Mit ihrem Bild „The Angels“ von 1986 hat die libanesische Malerin Seta Manoukian das Dilemma ihrer Heimat piktorial auf den Punkt gebracht.

Was hinter dem Bild steckt: 1976 gewann zwar der Beiruter Bodybuilder Samir Bannout als erster Libanese den Titel „Mister Universe“. Die Klasse derer, die das Land regieren, besteht aber meist aus farbloser Dutzendware. Wie in vielen Staaten des Nahen Ostens schwankt das nationale Psychogramm der Republik am Mittelmeer zwischen politischer Kraftmeierei und institutionellem Versagen. Seit drei Jahren können sich die Parteien nicht auf einen Präsidenten einigen – Governance ohne Government auf Levantinisch.

Der Normalfall ist eine so geharnischte Kritik des Patriarchats und der politischen Klasse im Nahen Osten nicht unbedingt, noch dazu öffentlich. Im Libanon geht es aber doch noch liberaler zu als in anderen Ländern des Raums. Wo hätte man dort erotische Zeichnungen wie die der 1934 geborenen Juliana Séraphim zeigen können? Auf einer frühen Arbeit räkelt sich ein Hermaphrodit mit ragendem Phallus. Auf der Beiruter Kunstmesse (BAF) liefen vergangene Woche keine Sittenwächter Sturm gegen derart freizügige Kunst. Wie Manoukian war Sérafim Teil einer Sonderschau „Lebanon Modern!“, die 13 frühe Kunstpionierinnen seit 1945 präsentierte.

Im Reigen der internationalen Kunstmessen spielt die kleine Messe an der Ostküste des Mittelmeers keine große Rolle. Mit rund 21.000 Besuchern und 45 Galerien liegt sie weit abgeschlagen hinter Matadoren wie Basel, London oder New York. Und der Kasten des Ausstellungszentrums mit seinen blindgestoßenen Goldblechtüren am hässlichsten Abschnitt der Beiruter Strandpromenade verströmt den Charme eines Zweckbaus der späten DDR.

Stimmungsbarometer

Trotzdem ist sie ein aufschlussreiches Stimmungsbarometer – politisch wie ästhetisch. Nicht nur, weil ausgerechnet diese kleine Schau im Kampf um die ästhetische Repräsentanz des Me.Na.Sa-Raums punkten kann. (So viele Galerien aus Jordanien, Palästina, Schanghai, Algerien oder dem Iran findet man bei anderen Kunstmessen nicht, die auch um Protagonisten der sagenumwobenen Prosperitätsregion in spe konkurrieren: Naher und Mittlerer Osten, Nordafrika und Südostasien.) Sondern auch, weil sie für eine kommerzielle Messe erstaunlich politisch daherkommt.

Natürlich ist der Krieg in dieser Weltregion zur unentrinnbaren Alltagserfahrung geworden. Eine Entdeckung waren Künstler wie der 1988 in Syrien geborene Rabi Khoria oder der 1976 geborene Pakistaner Waasem Ahmed doch. Wie in Zeiten der Gewalt die binäre Logik triumphiert, zeigt das „Black and White“ betitelte Werk des Syrers, der heute in den Niederlanden lebt: In dem Werk, das dem Signet der Londoner Metro nachempfundenen ist, rasen zwei Bomben aufeinander zu. Der Pakistaner malt die Gestalten kämpfender Krieger in der Manier der indischen Miniaturmalerei aus der Zeit der Mogul-Kaiser. In einer Ecke der Messe zeigte die nichtkommerzielle Projektraum-Initiative „Live Love Beirut“ Künstler, deren Arbeiten Krieg und Armut thematisieren.

Die Situation in der Beiruter Kunstszene erinnert an die Aufbruchsstimmung in der Türkei während der 1990er Jahre: Ein Boom privater Stiftungen und Museen kompensiert den schwachen Staat. Gegen die Millionen, die ein Mann wie der Modezar Tony Salamé in den 2015 eröffneten Neubau seiner Aïshti Foundation (eine bizarre Mischung aus Shoppingmall und einer erstklassigen Sammlung Moderner Kunst, an der Beiruter Strandpromenade) gesteckt hat oder die der Internetunternehmer Basel Dalloul im nächsten Jahr in ein Privatmuseum für seine 3.700 Werke große Sammlung panarabischer Kunst seit dem 19. Jahrhundert stecken wird, sind die 10 Millionen Euro Jahresbudget von Libanons mausearmem Kulturminister Raymond Arayghi natürlich Peanuts. Sie zeigen aber auch, wie Kunst zum Motor der Entwicklung der Zivilgesellschaft werden kann.

Spott über die falschen politischen Prioritäten

In dieser, nach den Jahren des libanesischen Bürgerkriegs langsam wieder wachsenden, Zivilgesellschaft spielen Frauen eine große Rolle. Ob man die Messedirektorin Laure d’Hauteville nimmt, eine französische Journalistin, dies es 1991 in den Libanon verschlug, wo sie 2010 die BAF gründete; oder Naila Kettaneh Kunigk, die 71-jährige Gründerin der Galerie Tanit; oder die legendäre, 1953 in Beirut geborene Galeristin Andrée Sfeir-Semler, die Künstler wie Walid Raad oder Akram Zataari durchsetzen half: Viele der inzwischen gut 30 Galerien in der Stadt werden von solch resoluten, kultivierten Damen geführt.

Nadine Begdache etwa hat ihre im Bürgerkrieg 1976 zerstörte Galerie nach ihrer Mutter Janine Rubeiz benannt. Die überzeugte Feministin und Sozialistin etablierte 1967 das erste Institut im Lande, zugleich der führende Intellektuellen-Diwan im Land. Wer Begdache hört, spürt etwas von dem Selbstbehauptungswillen der libanesischen Zivilgesellschaft. „Was haben wir denn anderes als die See und die Kunst?“, spottet sie über die falschen politischen Prioritäten in ihrem Land. Sie will aber nicht aufgeben, es mithilfe der Kunst einmal mehr neu aufzubauen. Und pocht auf ihre Eigenständigkeit: „Wir tun hier selbst, was wir wollen“.

Ingo Arend | taz 20-09-2016

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Kunstszene Istanbul: Noch nicht im Visier des Staatsapparates

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Nach dem gescheiterten Putsch in der Türkei ging die Regierung auch gegen Journalisten und Schriftsteller vor. Die Kunstszene hingegen kann sich relativ frei bewegen. Allerdings wurde die Pressekonferenz zur Istanbul Biennale abgesagt.
Kurz zuvor war auch die Cannakale-Biennale komplett abgesagt worden. Dem vorausgegangen war eine Hetzkampagne gegen die Kuratorin der Biennale, Beral Madra. Man warf ihr vor, sie habe die Putschisten und die prokurdische HDP unterstützt.
Die Istanbuler Kunstszene scheint davon – trotz der abgesagten PK zu Istanbul-Biennale – relativ unberührt zu sein, berichtet Ingo Arend.

weiterlesen oder Beitrag hören

Quelle: Deutschlandradio Kultur | FAZIT | Ingo Arend im Gespräch mit Britta Bürger | Beitrag vom 27.09.2016

Bild: Lange Nacht im Istanbuler Pera Müzesi Ende September 2016. Foto: Ingo Arend

http://theartnewspaper.com/news/leading-istanbul-galleries-join-forces-for-new-gallery-weekend-/

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Türkische Kunstszene nach Putschversuch: Tanz auf Bakunins Barrikaden

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Im Ausnahmezustand wird plötzlich zum Vorteil, was jahrelang beklagt wurde: das Fehlen einer staatlichen Kulturpolitik.

Gestylte Hipster in kurzen Hosen, Freaks mit Rotweingläsern, küssende Männer mit Trimmbärten. Wen nach dem gescheiterten Staatsstreich in der Türkei und den Querelen um die Biennalen in Sinop am Schwarzen Meer und in Ç anakkale an den Dardanellen die Angst überfallen hatte, die Kunst am Bosporus stünde kurz vor der Inhaftierung, traut Anfang Oktober seinen Augen nicht: Übermütig feiert ein junges urbanes Publikum, das der Berliner Kunstmeute in nichts nachsteht, den Saisonauftakt.

Bomontiada, der neue Hotspot im Stadtteil Şişli, eine alte Bierfabrik, quoll zum Saisonauftakt nicht nur von Saturday-Night-Fiebernden über, die in den Musikclub Babylon wollten. Auch der im Frühjahr neu eröffnete Alt Art Space in dem coolen Kreativquartier platzte aus allen Nähten. Und zwar nicht nur, weil die Ästhetik der Immersion, mit der die Ausstellung „New Realities“ der New Yorker Kunstmesse Moving Image in den neuen Hotspot lockte, die technikaffine Jugend anzog.

Versunken ließen sich die Besucher mit Virtual-Reality-Brille über dem neuesten Undercut durch Jakob Kudsk Steensens Streifen „Primal Tourism“ treiben, in der Science-Fiction, Kolonialismus und Tourismus eine bizarre Mischung eingehen. Oder sie luden sich Claudia Harts App Flower Matrix und freuten sich an den animierten Blumenbildern auf ihrem Smartphone.

Der Art Space lockte aber auch mit Politischem: „Bakunins Barrikade“, die Installation des türkischen Künstlers Ahmet Ö ğ üt, die an des russischen Anarchisten Idee erinnerte, die Barrikaden der Aufständischen von 1848 gegen die Preußen mit Kunstwerken zu schützen, rief ungeniert die Street-Art des Gezi-Aufstands 2013 in Erinnerung. Ebenso wie sein Animationsfilm über den Studentenaufstand in der südkoreanischen Industriemetropole Gwangju von 1987: Damals benutzten die Machthaber dasselbe Tränengas wie 36 Jahre später die Polizei in der Türkei.

Im Bomontiada ließ die Ordnungsmacht sich genauso wenig blicken wie bei der Langen Nacht im Pera Müzesi. In dem privaten Museum der millionenschweren Unternehmerfamilie Koç im Touristenbezirk Beyoğlu zeigte die US-Künstlerin Katherine Behar digitale Skulpturen. Im Café heizten genauso DJs ein wie in dem Salon der Istanbuler Stiftung Kunst und Kultur (IKSV) unweit vom legendären Hotel Pera Palace. Pub-Crawl mit Wodka Cranberry und Freibier, süßliche Düfte durchzogen die Nachtluft.

Im liberalen Stadtteil Kad ı köy auf der asiatischen Seite der Stadt gingen ungehindert ein Graffiti- und ein Vinylfestival über die Bühne. „Du darfst nicht unterschätzen, dass die Leute nach dieser langen Depression nach dem Coup eine Ablenkung brauchen“, erklärte mir Fulya Erdemci, im Gezi-Jahr 2013 Kuratorin der Istanbul-Biennale, den überbordenden Feierwillen.

Der Staat hat anderes zu tun

Dass die Kunst in der Türkei derzeit noch einigermaßen unbehelligt agieren kann, liegt daran, dass sie keine wirklich kritische Masse abgibt. Das mag eine narzisstische Kränkung für eine Szene sein, die sich gern als das Salz in der Suppe der Gesellschaftsveränderung sieht. Aber der türkische Staat hat derzeit anderes zu tun, als eine Handvoll Galerien zu überwachen.

„Die müssen das Militär und die Justiz umbauen“, winkte Erol beim Frühstück im Intellektuellencafé Kaktüs in der Freien Republik Cihangir ab, dem Immer-noch-Kreuzberg der Bosporusmetropole unweit vom Taksimplatz. Der zwischen Berlin und Istanbul pendelnde Schauspieler, der auch am Maxim-Gorki-Theater gastiert, lacht: „Das dauert, bis die sich sortiert haben.“

In dem prekären Ausnahmezustand nach dem Putsch wird plötzlich zum Vorteil, was jahrelang beklagt wurde: das Fehlen einer staatlichen Kulturpolitik. Gerade weil die meisten Kunstinitiativen privat gesponsert sind, kann der Staat nicht direkt zugreifen. „Exodus“, „Plan B“ und „Survivalmodus“ sind zwar die meistgehörten Vokabeln derzeit in der Szene. Nach Auswanderung klingt es aber nicht, wenn die beiden jungen Galeristen Doğa Öktem and Tankut Aykut ihrem Besucher erklären, dass sie eine „intergenerationelle Brücke in der türkischen Kunstszene“ bauen wollen. In drei kleinen Räumen über einem alten Teehaus im Schatten des Galataturms haben sie sich einen White Cube mit knarrenden Dielen eingerichtet.

Ein unbekannter Finanzier trägt den winzigen, nichtkommerziellen „blok art space“ im Design- und Antiquitätenbezirk Ç ukurcuma, in dem auch Orhan Pamuks Museum der Unschuld steht. „blok art“ will New-Media-Kunst an der „Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Technologie“ einen Raum geben und unterstützt vor allem Projekte, die sich „inklusiv zu ihrem Umfeld“ verhalten, erklärt Mine Kaplang ı , die 29 Jahre junge Kuratorin. Wichtigstes Thema beim Künstlergespräch war das Verhältnis von Kunst und Politik.

Die ungewöhnlichste Initiative betreibt Bahar Yürükoğlu. Wer der 1981 in Washington geborenen Künstlerin mit der Vorliebe für Neonfarben eine Mail schreibt, konnte mit ihr zu dem nomadischen Artspace Lock up pilgern. Mal in einer Lagerhalle, mal in einem alten Speicher hinter einer Shoppingmall zeigt sie Ausstellungen junger KünstlerInnen.

Auch die „etablierten“ Privathäuser Istanbul Modern, Arter und Salt bereiten die nächsten Ausstellungen vor. In Dolapdere wächst das neue Museum für zeitgenössische Kunst der Koçs aus dem grauen Schlamm des Kleineleutebezirks. Eine Art Gegenhegemonie gegen dieses dichte Netz überwiegend kritischer Kunst wird das AKP-regierte Istanbul nicht mit der Istanbul Triennale aufbauen können. Zwar ist es keine Kalligrafiebiennale, mit denen etwa die Mullahs im Iran die Moderne ins Abseits zu drängen versuchen. Doch über Volkshochschulniveau kamen die 40 Bastelarbeiten, die Kuratorin Hülya Yazıcı unter dem Titel „No Home“ in dem Flachbau der wenig beachteten Staatsgalerie für moderne Kunst am zentralen Taksimplatz zusammengestellt hatte, nicht hinaus: Bilder von vom Himmel stürzenden Raketen aus schwarzer Pappe und flehentlich gereckte Flüchtlingshände.

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Aber allen ist klar: In einem Staat, der jeden Tag einen Schriftsteller verhaftet, kann der Frieden in der Kunstszene nur temporär sein

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Der Druck der Verhältnisse macht die Lage für Künstler spannend. „Gemessen an der Krisenerfahrung sind wir längst eine ästhetische Supermacht“, ätzt Galerist Kerimcan Güleryüz von The Empire Projec“ den state of mind. Aber allen ist klar: In einem Staat, der die freie Presse und Wissenschaft schleift, jeden Tag einen Schriftsteller verhaftet, die Schauspieler der Staatstheater entlassen will und dessen Premierminister seiner Nichte kürzlich auf deren Hochzeit riet: „Sei gehorsam, und du hast es leicht“, kann der Frieden in der Kunstszene nur temporär sein. Langsam kriecht selbst Unangepassten die Selbstzensur in die Hirne.

Gefahr schweißt zusammen

„Ich war mir unsicher, ob ich meine Ausstellung wirklich ‚Where Is Eros?‘ nennen sollte“, sagt die 1976 geborene Künstlerin Inci Furni. Dabei haben ihre Zeichnungen von Handwerkern in einem alten Bürogebäude gar keine sexuellen Anspielungen. Ihr ging es um die sensible Seite der rauen Männer, die neben ihrer Arbeit hingebungsvoll Vögel züchten. „Man wird misstrauisch bei jedem seltsam aussehenden Mitfahrer in der U-Bahn“, gesteht mir ein junger Kurator beim Kaffee.

Die drohende Gefahr schweißt aber auch zusammen. Plötzlich lassen sich selbst Kunstfreunde auf der Vernissage der mondänen Dirimart-Galerie blicken, die diesen Laufsteg der Bourgeoisie bislang keines Blickes würdigten. Das Istanbul Gallery Weekend, das die Galerien Anfang Oktober zum ersten Mal in Szene setzten, soll zwar den Verfall des Kunstmarkts am Bosporus stoppen. Dass sie es unter das Motto „Solidarity“ stellten, war aber auch ein politisches Zeichen.

Kuratorin Erdemci überlegt, wie man statt spektakulärer Großereignisse in Istanbul ein Netz von Kunstevents in liberalen oder – wie Ç anakkale – von der Oppositionspartei CHP regierten Städten über das Land spannen könnte. Das kann freilich dauern. Bis dahin gibt sich die Szene krisenerprobt. „Wenn wir das überleben, was gerade passiert“, sagt lächelnd Saliha Yavuz, Gründerin des Istanbuler Artwalk und des Magazins GriZine, „dann überleben wir alles.“

IngoArend

09-10-2016 | taz

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Dietmar Dath: Superhelden


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Warum wir Batman, Superman und Co. so lieben

Mit “Superhelden” ist Dietmar Dath ein überraschend pointiertes Buch gelungen, das den anhaltenden Erfolg von Superhelden-Geschichten erklärt. Nur die Ästhetik des visuellen Kosmos kommt leider etwas kurz.

“Unglücklich das Land, das Helden nötig hat”: Folgt man dem berühmten Satz Galileo Galileis aus Bertolt Brechts Drama “Leben des Galilei”, müssten die USA das unglücklichste Land der Welt sein. Denn was wären die Vereinigten Staaten ohne ihre Superhelden – fliegende Männer mit Masken und schmuckem Regencape, die die Welt mit übermenschlichen Kräften schützen?

In seinem neuen Buch rollt Dietmar Dath eines der faszinierendsten Phänomene der Populärkultur auf. An ihrer Spitze: “Superman” alias Clark Kent, und “Batman” alias Bruce Wayne, die für Dath die Extrema des Spektrums zwischen “Self Made Hero” und “Götterkind”, oder, sozialethisch gesprochen, zwischen “Selbstermächtigung und Auserwähltsein” markieren …

Ingo Arend

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Quelle: Deutschlandradio Kultur | LESART | Ingo Arend | Beitrag vom 06.10.2016

Bild oben: Superman (© Warner)

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Cover (Ausschnitt) @ Reclam

Dietmar Dath: Superhelden


Reclam Verlag


Stuttgart 2016,

100 Seiten
, 10 Euro

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Der erste Schuss

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Mit dem mehrmonatigen Schwerpunkt „Uncertain States“ reagiert die Berliner Akademie der Künste auf die unsichere Weltlage reagieren. Zum Auftakt gibt es eine Kunstausstellung. 

“Putin befiehlt Angehörige aller Diplomaten nach Hause“. Als vor ein paar Tagen diese Meldung über die Newsticker lief, tauchte auf allen Kanälen sofort die Formel von der „globalen Bedrohung“ auf. Bis jetzt ist der Dritte Weltkrieg, den manche angesichts der Lage in Syrien heraufdämmern sahen, noch nicht eingetreten. Für möglich gehalten haben ihn für den Bruchteil einer Sekunde wohl viele. Der kollektive Schreckmoment verdeutlichte, wie labil die Weltlage derzeit ist.

Uncertain States- Künstlerisches Handeln in Ausnahmezuständen“ ist insofern die Ausstellung der Stunde. Denn sie greift ein Moment der Verunsicherung auf, wie es derart flächendeckend lange nicht mehr zu spüren war. Wer hat sich angesichts der Kumulation weltweiter Krisen von der Massenflucht über den Terror bis zum Staatsversagen nicht schon einmal gefühlt wie Nasan Tur in seinem Video „In my Pants“: Gut vier Minuten steht der Berliner Künstler regungslos vor einer weißen Wand, während sich seine Jeans im Schritt langsam blau färbt: Vor Angst macht er sich in die Hose.

 Mona Hatoum Kapan iki, 2012 (Detail) Baustahl und mundgeblasenes Glas
Mona Hatoum | Kapan iki, 2012, Baustahl und mundgeblasenes Glas

Ein Vorteil der 35 Positionen, die ein Kuratorenteam um den Akademie-Programmbeauftragten Johannes Odenthal versammelt hat: Sie verkürzt den Krisenzustand nicht auf aktuelle Schreckensbilder, sondern schaltet einen Moment historischer Reflexion dazwischen. Hinter Mona Hatoums Sinnbild für die Conditio Humana in Ausnahmezuständen zu Beginn des Parcours: fünf menschengroßen Metallkäfigen, in denen ein rotes Herz aus Glas gefangen liegt, durchschreitet der Besucher ein aus Beständen des Akademie-Archivs bestücktes Kabinett.

Seine Ingredienzien erinnern ihn daran, dass alles schon einmal passierte: Von der „Notiz“ „Abgereist“, mit der Heinrich Mann den Tag seiner Flucht aus Deutschland lapidar in seinem kleinen Taschenkalender vermerkte über den Reisepass Walter Benjamins bis zu dem Revolver, den Kurt Tucholsky im Exil bei sich trug, um sich selbst umbringen zu können.

Das Problem von „Uncerain States“ besteht aber darin, dass sie auf zu viele Konfliktzonen gleichzeitig aufmerksam machen will – in der sattsam bekannten Mischung aus Entsetzen, Trauer und Warnung, mit der die zeitgenössische politische Ästhetik gern arbeitet. Ob man Nezaket Ekici vierwandige Videoinstallation „Tooth for Tooth“ nimmt, in der acht Performerinnen ihre Wut über die fortwährende Gewalt gegen Frauen in Türkei herausschreien.

Ob man die 50 verbeulten Hausnummernschilder nimmt, mit der Aslan Gaisumov die Zerstörungen in seiner tschetschenischen Heimat thematisiert oder die Foltermethoden in seiner Heimat, die der ukrainische Künstler Nikita Kadan auf Porzellanteller gedruckt hat. Natürlich darf auch der Kolonialismus nicht fehlen: In Reza Arameshs Fotoarbeit „Triptychon Action 117“ sieht man einen Flüchtling mit nacktem Oberkörper auf dem Boden des Spiegelsaal von Versailles sitzen: Ebenso gebannt wie überwältigt von der Macht und der Schönheit der ehemaligen Weltmacht.

Etwas mehr Fokussierung hätte der Ausstellung gut getan. Zudem vermisst man die künstlerische Bearbeitung des beunruhigenden Kippmoments, der in ihrem Titel steckt: „Uncertain States“ ruft ja nicht nur das Individuum auf, das in unsicheren Zeiten lebt wie die „Clandestins“, die Flüchtlinge über das Mittelmeer in Isaac Juliens Videoinstallation „Small Boats“.

Von der politischen Erosion Frankreichs bis zum buchstäblichen Zerfall Syriens: Was es heißt, dass Staatlichkeit an sich zerfällt, dafür findet man in der Schau kein Beispiel. Es sei denn, man deutet das Bild der Ruinenstadt Ani im türkisch-armenischen Grenzgebiet in Francis Alÿs‘ Video „The Silence of Ani“ als Metapher dafür. Dennoch ist sie ein überfälliger Versuch zum richtigen Zeitpunkt.

Er könne einfach nicht verstehen, dass die Museen einfach so weiter machten wie bisher, hatte Martin Roth, Direktor des Londoner Victoria and Albert-Museums, kürzlich seinen Kollegen in einer Interview-Serie ins Stammbuch geschrieben und völlig überraschend seinen Abschied von dem Flaggschiff der britischen Kunst verkündet. Angesichts des wachsenden Drucks von Nationalisierung, Populismus und Minderheitenhass müsse die Kultur jetzt vor allem Politik machen.

Uncertain States“ setzt dagegen. Die Ausstellung, Teil eines der größten Schwerpunkte der Akademie seit langem, sind eine Art Generalmobilmachung in Sachen Kultur. In einer großen Kraftanstrengung bietet sie alle reflexiven, visuellen, diskursiven und performativen Kräfte der Künste auf, um alle Facetten, Ambivalenzen und Auswege aus dem „Uncertain State of the World“ auszuloten. Kein Exit aus der Kultur, lautet ihre Devise, sondern mehr Kultur gegen Gewalt und Fanatismus. Selbst wenn die keine einfachen Lösungen bieten kann.

Wie man an Nasan Turs beeindruckender Arbeit „First Shot“ sehen kann. Sein knapp einstündiges Video zeigt Menschen in Großaufnahme auf einer Schießanlage, die zum ersten Mal in ihrem Leben mit einer Waffe schießen. In Zeitlupe entrollt sich der spannungsreiche Moment kurz vor und nach dem ersten Schuss. An den Gesichtern und Körperreaktionen wird die Bandbreite der Gefühle zwischen Angst und Euphorie sichtbar, mit der sie auf den Spannungszustand reagieren.

Bisweilen besteht der Erkenntnisgewinn nur darin, die eigene Verunsicherung erfahrbar zu machen. „The Fact of Matter“ – der Titel des „choreographischen Objekts“ des ehemaligen Frankfurter Ballettdirektors William Forsythe ist mehr nur als der obligatorische Tribut an das Partizipationsdesiderat von Ausstellungen.

Wer einen der Plastikringe greift, um sich mit Hand und Fuß durch den Dschungel der von der Decke baumelnden Polyesterbänder zu hangeln, bemerkt, wieviel Koordinationsleistung dafür nötig ist. Und jede Bewegung ruft neue Instabilitäten hervor. „Ruhe gibt es nicht, bis zum Schluss“ hat der Emigrant Klaus Mann einmal sein Schicksal in einer Zeit beschrieben, der unsere Welt immer stärker zu ähneln beginnt.

Text und Fotos: Ingo Arend

ganz oben: Nasan Tur | The first shot (2014)

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AUSSTELLUNG        website

Uncertain States – Künstlerisches Handeln in Ausnahmezuständen

Ein Ausstellungsprojekt der Akademie der Künste

15. Oktober 2016 – 15. Januar 2017

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